Kölner Stadt-Anzeiger, 15.09.2000

Armenien

Der "Prototyp" des Völkermords

Diskussion im Lew-Kopelew-Forum

Von Nikolaus von Twickel

Köln - Völkermord - ein Wort, an das wir uns fast schon gewöhnt haben: Ruanda, Kambodscha, Nazi-Deutschland sind Orte, an denen in diesem Jahrhundert massenhafter systematischer Mord an Angehörigen einer ethnischen, religiösen oder politischen Gruppe verübt wurde, mit dem Ziel, diese langfristig zu vernichten - "Genozid", so wie ihn die "Encyclopedia Britannica" definiert.

Der "Prototyp" dieses Schlachtens fand im Ersten Weltkrieg in der Türkei statt. Von 1915 bis 1922 wurden im damals mehrheitlich armenisch besiedelten Ostanatolien etwa 1,5 Millionen Armenier von der türkischen Regierung ermordet, um, wie der Historiker Clemens Sorgenfrey sagt, "im Herzen des früheren Osmanischen Reiches eine ethnisch homogene Bevölkerung" zu schaffen.

Sorgenfrey, Mitglied des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Bochumer Ruhr-Universität, diskutierte am Mittwochabend im Kölner Lew-Kopelew-Forum über den "Vergessenen Genozid" an den Armeniern.

Für Sorgenfrey ist das "überforderte Wegschauen" der Weltöffentlichkeit eine zwingende Vorraussetzung für einen Genozid. Deutschen Beobachtern ist die Mehrzahl der Dokumente zu verdanken, die die Verbrechen an den Armeniern belegen. Ihre die Türkei belastenden Berichte liegen in den Staatsarchiven der Bundesrepublik, etwa in Bonn, Potsdam und Freiburg.

Sorgenfrey zitierte Walter Rossler, den deutschen Konsul von Aleppo, der 1915 schrieb, 25 Tage lang seien im Euphrat die Leichen getöteter Armenier an ihm vorbeigetrieben, "alle in Paaren am Rücken zusammengebunden". Das mit der Türkei verbündete deutsche Kaiserreich machte sich mitschuldig, indem es alle diese Informationen unterdrückte.

Eine weitere Voraussetzung für den Genozid ist für Sorgenfrey "ein moralisch hohes Ziel, um das eigene Gewissen auszuschalten". Das Fernziel eines türkischen Großreiches bis nach Zentralasien sei vergleichbar mit dem Ausspruch Himmlers an seine SS, deren "blutige Aufgaben" als "heilige Pflicht" zu verstehen.

Das dunkle Kapitel am Anfang der eigenen Staatsgeschichte wird in der Türkei noch heute konsequent geleugnet. Offiziell wurde damals ein staatsfeindlicher Aufstand niedergeschlagen - dessen türkischen Opfern die Regierung jüngst an der armenischen Grenze ein Denkmal errichten ließ.

Und die Nato-Verbündeten des EU-Aspiranten wollen an der türkischen Geschichtsauffassung nicht rütteln: Erst kürzlich lehnte es der Bundestag ab, die Existenz des Völkermords in der Türkei offiziell anzuerkennen. Für Sorgenfrey ein Zeichen, dass eine Aufarbeitung der Geschichte noch in weiter Ferne liegt. Seine Forderung: "Man muss wieder und wieder darüber reden."

Im Zuge der Armenien-Tage zeigt das Lew-Kopelew-Forum in der Kölner Neumarkt-Passage noch bis zum 24. September Fotos des Jerewaner Künstlers Gagik Harutunian.