junge Welt 15.9.2000

Warum »schönt« Rot-Grün Opferzahlen rechter Gewalt?

jW fragte Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der PDS- Bundestagsfraktion

F: Sie hatten an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage über die Todesopfer rechtsextremer Gewalt von Januar bis Juli 2000 gestellt. Aus welcher Intention heraus?

Die Regierung betreibt leider wie ihre Vorgängerregierung eine Bagatellisierung rechter Gewalt. Die Innenbehörden bekämpfen offenbar lieber antifaschistische Gruppen und Organisationen als braune Totschläger. Dieser Verharmlosung rechter Gewalt wollten wir entgegentreten. Die Regierung muß aufhören, das Ausmaß neofaschistischer Gewalt zu verschleiern. Das entzieht auch den Opfern rechter Gewalt den dringend nötigen Schutz.

F: Nach Angaben der Bundesregierung hat es in diesem Jahr zwei Todesopfer gegeben, den am 11. Juni in Dessau erschlagenen Moçambiquaner Alberto Adriano und den am 24. Juli in Ahlbeck erschlagenen Obdachlosen Norbert Plath. Nach Ihren Kenntnissen sind es sieben Menschen.

So ist es. In der Übersicht der Regierung fehlen der am 24. Mai in Berlin-Pankow von vier Rechtsextremisten erschlagene Sozialhilfeempfänger Dieter Eich, der am 31. Mai in Eberswalde von einem Rechtsextremisten vor ein Taxi gestoßene 22jährige Falko Lüdtke, die drei Polizisten, die am 14. Juni in NRW von einem Rechtsextremisten erschossen wurden, der am 24. Juni in Greifswald von rechtsextremen Jugendlichen erschlagene Obdachlose Klaus-Dieter Gerecke und der am 9. Juli in Wismar von fünf Rechtsextremisten in einem Abrißhaus zu Tode getretene Obdachlose Jürgen S.

F: Ist das nur ein Statistikfehler oder welche Absicht steckt dahinter, daß die Bundesregierung die Opferzahlen rechter Gewalt kleinrechnet?

Sie beschönigt genauso wie ihre Vorgängerregierung systematisch und offenbar gewollt. Die Verharmlosung rechter Gewalt ist traditionelle Politik aller Innenbehörden in Bund und Ländern. Auch die rot-grüne Regierung würde diesen »Standortnachteil« vermutlich am liebsten ganz verschweigen oder als Polizeiproblem abtun, statt offensiv gegen Neonazis vorzugehen.

F: Nach Zeitungs- und Fernsehberichten hat das Bundesinnenministerium (BMI) die vergangenen zehn Jahre falsche Zahlen über Tötungsdelikte durch Rechtsextremisten genannt. Bundesinnenminister Schily spielte dies als »Erfassungsdefizite« herunter. Kann man oder will man dort nicht rechnen?

Man will nicht. Wir haben während der Regierung Kohl 24 Anfragen zu rechtsextremistischen Tötungsdelikten gestellt, seit Antritt der rot-grünen Regierung 1998 bisher elf Anfragen. Daß Schily jetzt reagiert, ist einzig dem Druck der Öffentlichkeit und unseren ständigen Nachfragen im Bundestag geschuldet. Wenn die Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel jetzt am Mittwoch nicht ihre verdienstvolle Dokumentation vorgelegt hätten, hätte Schily vermutlich genauso weitergemacht wie zuvor. Wir selbst gehen übrigens von 117 Toten seit 1990 aus. Die beiden Zeitungen haben auch geschrieben, daß ihre Dokumentation, die den offiziell genannten 26 Todesopfern 93 gegenüberstellt, vermutlich noch immer nicht alle durch Rechtsextreme begangenen Tötungen bzw. Morde erfaßt. Schily selbst hat erst kürzlich in einem Zeitungsinterview wieder von »Einzeltätern« und alkoholisierten Exzessen geschwafelt.

F: Was ist nötig, um das Ausmaß rechter Gewalt zu dokumentieren? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Unfähigkeit der Bundesregierung bzw. fordert die PDS?

Eine unabhängige Kommission muß die bisherige Erfassungspraxis des BMI und der Länderministerien überprüfen und sollte künftig auch solche Statistiken erstellen. Außerdem brauchen wir eine bundesweite Beobachtungsstelle gegen Rassismus und Rechtsextremismus, ähnlich wie die EU- Beobachtungsstelle in Wien, wobei die Wiener EU-Stelle gute Arbeit leistet, aber viel zu wenig Mittel und Personal hat. Zweitens brauchen wir sofort einen verbesserten Opferschutz. Es darf auf keinen Fall geduldet werden, daß Opfer rechter Gewalt - wie jetzt in Brandenburg geplant und kürzlich auch beinahe in Mecklenburg-Vorpommern passiert - kurz nach Angriffen der Neonazis von deutschen Behörden abgeschoben werden. Drittens muß sofort ein Fonds zur Entschädigung der Opfer rechter Gewalt geschaffen werden. Es ist doch ein Skandal, wenn Opfer rechter Gewalt oder Menschen, die diesen Opfern gegen Neonazis geholfen haben, am Ende dann in den Prozessen gegen diese Schläger auch noch ihre Kosten als Nebenkläger selbst bezahlen müssen.

Interview: Fanny Komaritzan