Neue Zürcher Zeitung (CH), 12.09.2000

Konflikt um die Verfassung in der Türkei

Das Vermächtnis der Generäle lastet auf dem Land

Vor zwanzig Jahren, am 12. September 1980, hat die türkische Armeeführung zum dritten Mal geputscht. Mit harter Hand wollten die Generäle damals die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umkrempeln. Das ist ihnen zum Teil auch gelungen.

it. Istanbul, 11. September

Die Bilanz des türkischen Soziologieprofessors Dogu Ergil über die seit dem Putsch von 1980 verstrichenen zwanzig Jahre ist von zurückhaltendem Optimismus geprägt. Der Unterschied zwischen Reich und Arm habe zwar ein in der Türkei bisher nicht gekanntes Ausmass angenommen, sagte er vor kurzem gegenüber der Presse. Dennoch gebe es keine Strassenkämpfe wie in den siebziger Jahren, als über 5000 junge Mitglieder von rechtsextremen und von linken Organisationen ihr Leben verloren hätten. Noch komme es jedoch zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Die Türkei habe aber vor kurzem eine internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie eine zweite über zivile und politische Rechte unterzeichnet. «Die Türkei ändert sich endgültig, weil sich auch die Welt ändert», folgerte der als Regimekritiker bekannte Professor.

Misstrauen gegenüber den Zivilisten
Wie Dogu Ergil ziehen dieser Tage Politiker, Wissenschafter und die Presse Bilanz über die letzten zwei Jahrzehnte. Am 12. September 1980 liess die türkische Generalität unter der Führung Kenan Evrens ihre Panzer auffahren. Die Regierung und das Parlament wurden aufgelöst. Ziel der Intervention sei es, hiess es damals in einem über das Radio verlesenen Communiqué, die Autorität des Staates wiederherzustellen und jene Hürden zu entfernen, welche den Weg zu einer demokratischen Ordnung versperrten. Der Staatsstreich von General Kenan Evren war der dritte der Armee in einer Zeitspanne von zwanzig Jahren. Keiner hat die Türkei aber so nachhaltig geprägt wie die «Revolution» von 1980.

General Kenan Evren, Kind einer mittellosen Flüchtlingsfamilie aus dem Balkan, mass sich damals an, einen neuen Menschentypen zu schaffen. Er unterstellte die Universitäten der strikten Kontrolle der Bürokratie und verbot politische Parteien und Gewerkschaften. Er verabscheute die Politiker und war sich sicher, dass das türkische Volk für eine Demokratie westlichen Musters nicht reif sei. Dieses tiefe Misstrauen der Generäle gegenüber den Zivilisten widerspiegelt sich deutlich in der Verfassung von 1980, welche die Putschisten der heutigen Türkei vermacht haben.

Die Verfassung garantiert beispielsweise jedem Bürger das Recht auf Meinungsfreiheit. Dieses Recht wird allerdings eingeschränkt, sobald die Meinung sich gegen die «Interessen der türkischen Nation» richtet. Die Liste der im Namen der «Interessen des Staates» eingeschränkten Rechte und Freiheiten ist lang und reicht vom Recht auf das Leben bis hin zum Recht, die eigene Muttersprache zu benützen. Die Interessen der türkischen Nation werden dabei vage definiert und sind daher in unterschiedlicher Weise interpretierbar.

Dominante Rolle der Armee
In der Verfassung wurde zudem die dominante Rolle der Generäle im politischen Geschehen verankert. Der Nationale Sicherheitsrat, der sich aus fünf Generälen, den fünf wichtigsten Ministern und dem Staatspräsidenten zusammensetzt, ist laut der Verfassung ein konsultatives Organ, das regelmässig tagt. In seinen monatlichen Sitzungen bestimmt in Wirklichkeit der Nationale Sicherheitsrat auch zwanzig Jahre nach dem Staatsstreich die Politik in inneren und äusseren Angelegenheiten, in Sicherheits- und Erziehungsfragen, in der Wirtschaft sowie gegenüber den Kurden. Niemand zweifelt daran, dass das Wort der Generäle schwerer wiegt als das der Politiker.

Zentrales Gebot dieser Verfassung sei es, den Staat vor dem Bürger zu schützen, kritisierte letzte Woche der Vorsitzende des Obersten Berufungsgerichts, Sami Selcuk. Individuelle Rechte und Freiheiten stünden deshalb immer an zweiter Stelle. Selcuk und eine Gruppe weiterer namhafter Juristen fordern insbesondere nach dem letzten Dezember, als die Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten aufgenommen wurde, eine neue Verfassung oder zumindest grundlegende Verfassungsreformen. Dieser Forderung schliesst sich auch Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer - ebenfalls ein Jurist - an. Sezer ist offenbar überzeugt, dass ein EU-Beitritt massgeblich von diesen Verfassungsänderungen abhänge.

Das Schweigen der Gesellschaft
Hinter den Kulissen ist in den letzten Wochen um die Verfassungsfrage ein brisanter Konflikt zwischen der Armee und der Justiz entstanden. Die Generäle hätten Bedenken gegen eine Liberalisierung der Verfassung nach europäischem Vorbild, erklärte letzte Woche der stellvertretende Regierungschef Mesut Yilmaz, der in der Regierung zuständig für EU-Angelegenheiten ist. Die Generäle befürchteten, dass eine Liberalisierung der Gesetze zur Spaltung der Republik führe.

Meinungsdifferenzen in den obersten Rängen des Staates werden von der Öffentlichkeit zwar zur Kenntnis genommen, und laut den letzten Umfragen wird der Ruf nach Reformen auch unterstützt. Die Mehrheit der Bevölkerung bleibt aber dieser Debatte der Elite fern. Es gibt keine breite öffentliche Diskussion darüber - weder in den Parteien noch in den Gewerkschaften, noch in den Studentenorganisationen.

Das Schweigen der Gesellschaft kann auf ihre Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zurückgeführt werden. Um den neuen, von General Evren erwünschten Menschentypen zu schaffen, wurden laut Menschenrechtsorganisationen über eine halbe Million Bürger verhaftet. In ihrer überwältigenden Mehrheit wurden sie gefoltert. Folter in Polizeihaft wird seither systematisch angewandt. 25 Personen sind exekutiert worden, und rund 15 000 Intellektuellen, die ins Ausland geflohen waren, wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. 937 Filme wurden verboten und rund 50 Tonnen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zerstört. Von den heute schätzungsweise 11 000 politischen Häftlingen sind laut dem Vorsitzenden der Istanbuler Anwaltskammer, Yücel Sayman, höchstens zehn Prozent wegen einer konkreten Tat verurteilt worden. Die übrigen seien «Gesinnungshäftlinge». Eine Serie von repressiven Gesetzen des Strafgesetzbuchs gehört wie die Verfassung zum Vermächtnis der Generäle.

Eine «verlorene Generation»
Der Journalist des einflussreichen Fernsehsenders NTV, Nedim Özkan, ist überzeugt, dass vom Staatsstreich vor allem die Jugend betroffen wurde. Die Jugendlichen der achtziger Jahre seien aus den Gefängnissen als 40-Jährige entlassen worden. Ohne Aussicht auf berufliche Karriere und von der Folter traumatisiert, gälten sie als «verlorene Generation», sagt er im Gespräch. Die Generation der 30-Jährigen, zu der er selbst gehöre, habe die Erfahrungen der «älteren Brüder» aus der Nähe miterlebt. Sie vertraue weder sich selbst noch den andern und ziehe bei sozialen Fragen das Schweigen vor. Die heutigen 20-Jährigen seien apolitisch und konsumorientiert. Man bezeichne sie auch als die Generation von Özal.

Es gehört wohl zu den Erfolgen Kenan Evrens, dass er 1980 den damals unbekannten Politiker Turgut Özal im Wirtschaftsbereich freie Hand gelassen hatte. Dieser setzte im Alleingang einen radikalen Liberalisierungskurs durch und verwandelte die Türkei mit ihrer zentral gelenkten, auf Importe angewiesenen, kümmerlichen Wirtschaft zur heutigen exportorientierten, regionalen Macht. Im Jahr 1980 hatte der Verein türkischer Geschäftsleute und Industrieller den Staatsstreich Kenan Evrens mit Begeisterung begrüsst. Heute fordern deren Mitglieder sowie Juristen mutige Demokratisierungsschritte und einen definitiven Rückzug der Generäle aus der Politik.