junge Welt 12.9.2000

Palästinenser auf Überholspur

Im Nahost-Prozeß wird Moskau nicht überhastet reagieren.

Von Jewgeni Satanowski (*)

Ob der unabhängige palästinensische Staat am 13. September oder etwas später ausgerufen wird, ein solch spektakulärer Schritt hängt mit zahlreichen unberechenbaren Faktoren und unvorhersehbaren (aber möglichen) Ereignissen zusammen. So kann Israel in Zusammenstöße mit der palästinensischen Polizei hineingezogen werden. Auf alle Vorfälle aber, bei denen Gewalt gegen die Israelis angewandt wird, reagieren Israel selbst und die Weltgemeinschaft äußerst heftig, um nicht zu sagen allergisch.

Die Europäische Union hat durchaus - wenn auch beschränkte - Möglichkeiten, die palästinensische wie die israelische Führung unter Druck zu setzen. Die Vereinigten Staaten von Amerika spielen ihre Karte in Israel nach wie vor extrem egoistisch aus - mit Rücksicht auf die kommenden Präsidentschaftswahlen und den Faktor Erdöl in Nahost. Andererseits fehlt heute der korrigierende und balancierende Einfluß, den einst die UdSSR in dieser Wetterecke der Weltpolitik ausgeübt hat.

In taktischer Hinsicht sind die Palästinenser heute offensichtlich ihrem Ziel der eigenen Souveränität näher als je zuvor. Die palästinensische Gesellschaft ist der am besten gebildete, in kultureller Hinsicht besonders fortgeschrittene Teil der arabischen Welt. Sie muß sich auch künftig auf eine reale Zivilgesellschaft hin fortentwickeln und dabei ein Gegengewicht zum Islam, insbesondere zu seinen fundamentalistischen Elementen finden, die Yassir Arafat und seine Mitkämpfer fürchten.

Der jüngste Gipfel in Camp David hat gezeigt, daß die Palästinenser auf der Überholspur sind. Zwar ist Israel den Palästinensern und den Nachbarstaaten in militärischer, wirtschaftlicher und manch anderer Hinsicht überlegen, weist aber auch einige gravierende Nachteile auf: Es mangelt ihm an einem wirklichen Nationalgedanken, der die heterogene israelische Gesellschaft zusammenschließen könnte; die Feindseligkeit zwischen den politischen Gruppen und Kräften ist offenbar wesentlich größer als ihre Fähigkeit, gemeinsam der externen Gefahr zu widerstehen. All das schafft bei mir ein beunruhigendes Gefühl.

Yassir Arafat und Ehud Barak haben in Camp David - bildlich gesprochen - mit gebundenen Händen verhandelt. Arafat mußte Rücksicht auf die eigene Opposition im Autonomen Gebiet und zugleich auf die große palästinensische Diaspora in den arabischen Nachbarstaaten nehmen, die äußerst kompromißlos gestimmt ist. Zudem mußte er den Faktor »andere arabische Länder« und die moslemische Weltgemeinschaft berücksichtigen. Arafat wird von ihnen moralisch und auch materiell unterstützt. Andererseits engagiert sich dieser große Block gegen die Zugeständnisse der Palästinenser im Hinblick auf die Kontrolle über Ostjerusalem, in dem einige der wichtigsten heiligen Stätten der Moslems liegen.

Dieses Schlüsselproblem bedarf endlich einer Entscheidung, denn andernfalls steht jedes nur partielle Abkommen auf äußerst wackligen Beinen und läuft sogar Gefahr, einen Gewaltausbruch in der »Westbank« auszulösen. Und der wiederum könnte auch in der ganzen Nahostregion ansteckend wirken.

Der israelische Premier Ehud Barak wiederum hat ebenfalls eine Menge Probleme, die mit der Labilität seiner Regierungskoalition, dem Verlust der Mehrheit in der Knesset und der Feindseligkeit der politischen Kräfte und Gruppen in der Gesellschaft zusammenhängen.

Ein Gutes aber scheint die so verfahrene Situation doch zu haben: Sie veranlaßt offensichtlich die Führung beider Seiten, bei ihren Bemühungen, doch noch einen Kompromiß zu finden, pragmatisch und flexibel vorzugehen.

Die aktuelle Einstellung Rußlands zur Verkündung des palästinensischen Staates muß man einerseits im Rahmen der russischen historischen Erfahrungen, andererseits angesichts der neuen Gegebenheiten betrachten. Der Kreml unterstützte noch in den sowjetischen Zeiten stets das Unabhängigkeitsstreben der Palästinenser und hatte zu ihnen gute und entwickelte Beziehungen. Die palästinensische Elite, die ihre Bildung zum Teil in der Ex-UdSSR erhielt, verhielt sich zu Moskau ebenfalls unabänderlich herzlich.

Dies imponierte Moskau. Seine Aktivitäten und Rolle in der Nahostregion wurden hochgradig durch diese palästinensische Haltung bestimmt. Die Staatsführung betrieb damals diesen Kurs, indem sie die Welt einseitig in schwarz-weißer Verkürzung durch das Prisma der ideologischen Stereotypen sah. Es kam wiederholt vor, daß sich Moskau aus meiner Sicht wegen der globalen Konfrontation mit den USA in der Nahost- Region an die Dogmen zum Schaden seiner pragmatischen Interessen klammerte.

Heute betrachtet Rußland - mit Rücksicht auf seine wirtschaftlichen, finanziellen und anderen Probleme - diese Region viel realistischer. Zumal jetzt in Rußland erstmals eine proisraelische Lobby festzustellen ist, die nicht nur durch die Intelligenz bzw. Führung der jüdischen Gemeinde vertreten, sondern auch in den Wirtschaftskreisen sowie unter denjenigen, die sich mit militarischen und Sicherheitsfragen befassen, präsent ist.

Daher glaube ich, daß Moskau zwar seine traditionelle Ausrichtung auf den unabhängigen palästinensischen Staat erhalten wird. Beim jüngsten Besuch von Yassir Arafat im August bestätigte Moskau, daß die Entscheidung der Palästinenser in deren Zuständigkeitsbereich fällt und es diese Entscheidung respektieren wird. Andererseits forderte Putin die palästinensische Seite auf, »abgewogen und unter Berücksichtigung aller Umstände« zu handeln, soweit es den Zeitpunkt der Ausrufung ihres Staates anbetrifft.

Moskau möchte offensichtlich nicht, daß seine Signale für die grundsätzliche Unterstützung des Rechtes auf die palästinensische Staatlichkeit als grünes Licht für beliebige Entscheidungen aufgenommen werden. Moskau wird deshalb höchstwahrscheinlich rituell saubere Beziehungen zu den Palästinensern pflegen, die einen gewichtigen Faktor seiner Politik in der arabischen Umgebung und auch in der islamischen Gemeinschaft darstellen.

Rußland wird bei allen möglichen Entwicklungen in der Region eher eine zurückhaltende Haltung einnehmen und sich keine überhasteten Handlungen vorwerfen lassen. Es wird sich vielmehr auf die bewährten Formulierungen beschränken, die seinen aufrichtigen Wunsch nach der friedlichen Lösung der Nahostprobleme widerspiegeln und gleichzeitig die Möglichkeit des weiteren Dialogs Arafats mit der israelischen Führung aufrechterhalten.

Es ist kaum zu erwarten, daß Moskau irgendeine Seite in diesem Prozeß unter starken Druck zu setzen versucht, zumal die USA die Verhandlungen zwischen den Israelis und Palästinensern monopolisiert und für Moskau sehr begrenzte Möglichkeiten gelassen haben.

(*) Jewgeni Satanowski ist Direktor des Moskauer Instituts für Israel und Nahost