Stuttgarter Nachrichten, 07.09.2000

Türkei schaltet auf stur

Ankara - Das kann ja heiter werden. Die vor einem Dreivierteljahr vom EU-Gipfel in Helsinki beschlossene "Heranführungsstrategie'' für die Türkei hat kaum begonnen, da streiten Athen und Ankara schon.

Von unserer Korrespondentin SUSANNE GÜSTEN, Istanbul

Im Herbst soll die EU-Kommission ihr Dokument zur türkischen "Beitrittspartnerschaft'' vorlegen, das als Kriterienkatalog für die Heranführung der Türkei an die Union und ihren späteren Beitritt dienen soll.

Das Dokument ist noch nicht fertig, doch den Krach gibt es schon: In einem Brief an alle EU-Mitgliedstaaten forderte die Türkei jetzt, dass eine Lösung der Zypern-Frage und eine Beilegung der Gebietsstreitigkeiten mit Griechenland nicht zur Bedingung ihres Beitritts gemacht und deshalb auch nicht in der "Beitrittspartnerschaft'' angesprochen werden dürften. Insbesondere eine Kopplung des türkischen Aufnahmeprozesses an eine politische Lösung für Zypern lehne die Türkei strikt ab, schrieb der türkische Außenminister Ismail Cem; schließlich sei dies nicht Bestandteil der EU-Beschlüsse von Helsinki gewesen, in denen der Türkei im Dezember der Kandidatenstatus zuerkannt wurde.

Athen ging prompt zum Gegenangriff über: Der türkische Außenminister könne Briefe schreiben, so viel er wolle, doch seine Forderung zeige, dass die türkisch-griechischen Streitigkeiten auf den EU-Tisch gehörten, sagte der griechische Außenminister Yorgo Papandreou. Griechenland will, dass die Union die Lösung der Probleme bei der Grenzziehung in der Ägäis zur Bedingung für den türkischen Beitritt macht.

Umstritten sind in der Ägäis seit Jahren die Definition des Kontinentalsockels, die Zugehörigkeit mehrerer Inseln und die Ausdehnung der Hoheitsgewässer sowie des Luftraums. In der Zypernfrage hatte Athen schon beim Gipfel von Helsinki die Zusage der EU erwirkt, dass eine politische Lösung für die seit mehr als 25 Jahren geteilte Insel nicht zur Vorbedingung für eine Aufnahme der griechischen Republik Zypern im Südteil der Insel gemacht wird.

Nur wenige Monate nach Helsinki steckt die Union nun schon wieder in der Zwickmühle - und das nicht ohne eigenes Verschulden. Denn in dem Streit können beide auf EU-Zusagen verweisen. Einerseits hatte die EU der Türkei beim Aufnahmeprozess für Griechenland in den 70er Jahren zugesichert, dass Streit zwischen Athen und Ankara sich nicht auf die Kontakte der Gemeinschaft zur Türkei auswirken solle. Andererseits hatte der EU-Gipfel von Helsinki mit der Anerkennung der türkischen Kandidatur gefordert, alle Grenzstreitigkeiten der Beitrittskandidaten müssten bis zum Jahr 2004 beigelegt oder dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorgelegt werden.