Frankfurter Rundschau, 07.09.2000

Khatamis Anhänger sind die Artigkeiten leid

Erstmals wird aus der iranischen Reformbewegung Kritik am vorsichtigen Verhalten des Präsidenten laut

Von Ahmad Taheri

"Die bloßen Artigkeiten sind der Sache der Reformen nicht dienlich", rügte dieser Tage der Verband der islamischen Studenten, eine der Hauptsäulen der Reformbewegung, den iranischen Staatspräsidenten Mohammad Khatami. Der hatte zu den Vorfällen in der Provinzstadt Khorramabad, wo es zwischen Schlägertruppen und Studenten zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen war, tagelang geschwiegen. Es ist das erste Mal, dass die jugendlichen Anhänger des Staatschefs an ihm Kritik üben. Seit seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 1997 war Khatami das Idol der akademischen Jugend. Noch in Khorramabad trugen die jungen Frauen seine Bilder wie Ikonen vor sich her. Khatami, ein islamischer Intellektueller, galt als politischer Führer und geistiger Wegweiser zugleich. Mit einer neuen Lesart des Islam wollte er Religion und Demokratie im real existierenden Gottesstaat versöhnen. Aus der Trutzburg der klerikalen Unduldsamkeit sollte eine Hochburg der islamischen Toleranz werden. "Er glaubt an das, was er sagt, darin liegt seine Popularität", bescheinigte der Autor Abdulkarim Sorusch die Redlichkeit des Präsidenten. "Lächeln und Blumen" war die Metapher der Reformer für gewaltfreien politischen Wandel. "Zwei Schritte vorwärts, einen zurück" hieß ihre Devise für den Marsch durch die Institutionen.

Die Reformbewegung erreichte ihren Höhepunkt bei den Parlamentswahlen im Februar dieses Jahres. Seitdem haben die Reformer nicht nur die Exekutive, sondern auch die Legislative in der Hand, die bis dahin eine Bastion der Rechten gewesen war. Mit Bewunderung oder Neid schauten die Völker des Orients zu, wie ausgerechnet in der Wiege des islamischen Fundamentalismus neues Denken um sich griff. Die konservativen Kleriker hockten im Schmollwinkel und sannen auf Rache für die Schmach. Eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, an der 20 islamische und säkulare Intellektuelle aus Iran teilgenommen hatten, nahmen die Rechten zum Anlass, um zurückzuschlagen. Nicht der Geheimdienst, der früher unliebsame Dissidenten ermordete, war ihr Vollstrecker, sondern die Justiz. Khatamis Reformbewegung nahe stehende Zeitungen wurden verboten. Die bekannten Journalisten landeten im Gefängnis. Niemand leistete Widerstand. Das neue Parlament würde die Pressefreiheit erneut herstellen, meinten die Reformer.

Doch es kam anders als erwartet. Im August verbot Ayatollah Ali Khamenei dem Parlament, über ein liberales Presserecht zu debattieren. Das alte Gesetz habe sich als fähig erwiesen, die Islamische Republik vor ihren Feinden zu schützen. Trotz der Proteste der Abgeordneten setzte Parlamentspräsident Mahdi Karrubi die Debatte von der Tagesordnung ab. Innerhalb wenigen Minuten war das Parlament entmündigt worden und damit die Millionen Bürger, die es gewählt hatten. Seither sind die Reformer ratlos. Die Reformbewegung scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. "Die Reformer werden weiterhin an aktiver Friedfertigkeit festhalten", sagt der Studentenführer Ali Afshari. Aber längerfristig müsse das theokratische Prinzip des Staates überdacht werden. Eine Meinung, die viele Intellektuelle und junge Kleriker teilen.

Die Islamische Republik Iran ist eine paradoxe Mischung aus republikanischen und islamischen Elementen. Die Verfassung ging aus einer Revolution hervor, an der so unterschiedliche politische Kräfte wie Islamisten, Nationalisten, Linke und säkulare Demokraten beteiligt waren. So betont die Verfassung, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Sie garantiert freie Wahlen, eine freie Presse und freie Meinungsäußerung, sofern sie mit den islamischen Grundsätzen vereinbar sind. Wer aber entscheidet, was islamisch ist? Gemäß den damaligen Kräfteverhältnissen wurde als Prinzip des Gottesstaates die Velajat-e Faqih, die "Herrschaft des Rechtsgelehrten", in Artikel 5 der Verfassung festgeschrieben. So lange der Mahdi, der schiitische Messias, in göttlicher Verborgenheit weilt, sollte sein Statthalter auf Erden in seinem Sine schalten und walten.

Zu Lebzeiten von Ayatollah Ruhollah Khomeiny überdeckte sein Charisma die Widersprüche von Volkswillen und theokratischem Dogma. Nach dem Tod des Revolutionsführers änderten seine Erben die Verfassung. Die "Herrschaft des Rechtsgelehrten" wurde mit dem Attribut "absolut" versehen. Der Mangel des neuen Führers an persönlicher Autorität sollte durch die Gewichtigkeit seines Amtes ausgeglichen werden. Aus dem geistlichen Leiter der Gemeinschaft der Gläubigen wurde ein absolutistischer Alleinherrscher. Ausgestattet ist Khamenei nicht nur mit dem Nimbus des Hüters der Rechtgläubigkeit, sondern auch mit den profanen Mitteln der Macht. Er ist der Befehlshaber der Streitkräfte und der paramilitärischen Garden. Er ernennt den Chef der Justiz und den Intendanten des staatlichen Rundfunks und Fernsehens. Auch Teile von Geheimdienst und Polizei hören auf seinen Befehl.

Was können Khatami und seine Anhänger angesichts dieser Übermacht ausrichten? Soll Khatami die Flinte ins Korn werfen und vom Amt Abschied nehmen? Das würde von der Bevölkerung, deren Vertrauen er noch immer genießt, als Fahnenflucht betrachtet. Bei Neuwahlen würden die meisten Bürger zu Hause bleiben. Dann könnte ein rechter Kandidat mit den Stimmen von fünf oder sechs Millionen Iranern zum neuen Staatschef gekürt werden. Die offene Konfrontation mit den Rechten hingegen könnte die Gefahr eines persischen Pendants zum chinesischen Platz des himmlischen Friedens heraufbeschwören. Als Kleriker kennt Khatami die schiitische Geistlichkeit allzu gut. Für den Erhalt ihrer Macht und der illegal angeeigneten Reichtümer würden sie nicht davor zurückschrecken, in Namen des Islam ein Blutbad anzurichten.

Khatami hat angekündigt, im nächsten Jahr für eine zweite Amtsperiode zu kandidieren. Er hat in vergangenen drei Jahren eine Reihe außenpolitischer Erfolge aufzuweisen. Die Beziehungen zu vielen Ländern im Nahen und Mittleren Osten haben sich entspannt. Der iranische Staats-chef ist ein gern gesehener Gast in den Hauptstädten des Westens. Sein internationales Renommee wird seine Position im eigenen Land befestigen. Auch Teile der rechten Mullahs sind daran interessiert, dass Iran nicht erneut in die politische Isolation zurückfällt. Doch wie es mit den Reformen in der Islamischen Republik weitergeht, weiß niemand. Die Politik in Teheran ist voller Unwägbarkeiten. Eines aber lässt sich voraussagen: Dem schiitischen Gottesstaat stehen keine erfreulichen Zeiten bevor. Die militanten Fundamentalisten werden alles versuchen, um eine Wiederwahl von Khatami bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2001 zu verhindern. Die Konfrontation, der die Reformer derzeit aus dem Weg zu gehen versuchen, könnte ihnen aufgezwungen werden.