Stuttgarter Zeitung, 6.9.2000

Die Ruhe nach dem Krieg im Südosten der Türkei

Kurdische Bauern wähnen sich in Ankaras Sold

In den kurdischen Gebieten der Türkei herrscht Ruhe. Die Menschen könnten in ihre - zerstörten - Dörfer zurückkehren. Ministerpräsident Ecevit hat eine Idee: Sein Dorf-Stadt-Projekt sieht Siedlungen vor, die den Bewohnern mehr Dienstleistungen des Staates bieten sollen.

Von Jan Keetman, Diyarbakir

"Sie sind an der Schwelle zu einem neuen Leben.'' Bülent Ecevit lobt vor allen Dingen sich selbst, wenn er einen solchen Satz sagt. Vor wenigen Tagen hat er den Grundstein für ein neues Dorf gelegt. Ein neues Dorf, das durch die Zusammenlegung von neun alten Dörfern entstanden ist. Eine Schule wird es hier geben und eine Polizeiwache. Und der Ministerpräsident ist sicher, dass die künftigen Bewohner dieses Dorfes es genauso gewollt haben, wie es nun entstehen wird. Ecevits Kritiker sagen, die Dörfer würden nicht nach ökonomischen Erfordernissen, sondern nur unter strategischen Gesichtspunkten angelegt. "Der Staat sieht die Rücksiedler als seine Soldaten'', sagt ein Kurde.

Ein Garten in einem Vorort von Diyarbakir: kurdische Bauern aus der Gegend von Silvan und Kulp haben sich hier versammelt, Bauern, die nun als Bauarbeiter in Diyarbakir ihr Brot verdienen. Es geht um Ecevits Rücksiedlingspolitik. Vorne sitzen die Männer, weiter hinten auch einige Frauen. Eine der Frauen ergreift das Wort. Sie ist etwa fünfzig Jahre alt. Jedes ihrer Worte unterstreicht sie mit Gesten ihrer knochigen, von der Arbeit gezeichneten Hände. Sie erzählt, wie ihr Dorf zerstört wurde. Morgens seien Soldaten gekommen, hätten die Bewohner gezwungen, die Häuser zu verlassen und sie dann angesteckt. "Ihr seid Armenier!'', hätten sie geschimpft und alle Habseligkeiten der Leute ins Feuer geworfen. Auch die Obstplantagen hätten die Soldaten zerstört. Deshalb könnten sie jetzt nicht zurück, und der Staat müsse sie für die Zerstörungen entschädigen.

Die Männer mischen sich ein. "Ich bin Kurde, ich möchte auf jedem Amt sagen können, dass ich Kurde bin, ich möchte in der Schule, im Krankenhaus und in der Moschee Kurdisch sprechen können. Aber wenn ein Imam in der Moschee ein kurdisches Wort sagt, so muss er gehen er'', sagt ein Bauer. Ein anderer fügt hinzu: "Alle haben Angst vor dem Militär. Wenn wir etwas wollen, dann kann selbst ein Unteroffizier sich aufspielen und so tun, als sei er Staatspräsident.'' "Das Problem hier ist kein ökonomisches, wie immer gesagt wird, sondern ein politisches Problem'', sagt einer der Männer.

Ein anderer Mann, um die vierzig in städtischer Kleidung, bietet zunächst an, die Worte eines Alten vom Kurdischen ins Türkische zu übersetzen, doch bald redet nur noch er selbst. Er hat offenbar auswendig gelernt, was er in den endlosen Schriften Abdullah Öcalans gelesen hat. Dieser sei der größte Friedensstifter, den es je gegeben habe, meint er. Öcalan habe erreicht, dass man sich nicht mehr umbringe, weil man Muslim, Christ oder Jude, Alewit oder Sunnit sei. Es gebe keine Feindschaft mehr zwischen Völkern und Stämmen. Ein ehemaliger Gastarbeiter aus Deutschland fällt ihm ins Wort: "Haben sich für irgendeinen Propheten, für Jesus, Abraham oder Moses, so viele Menschen selbst verbrannt wie für Öcalan?''

Mit der Verbrüderung ist es rasch vorbei, wenn die Sprache auf eine andere kurdische Partei als die Öcalans kommt. Oder den Einwand, es gebe auch Kurden, die sagten, Öcalan habe sich im Gefängnis zum Sprecher des türkischen Staates gewandelt, lässt in dieser Runde niemand gelten. Ob es ihnen denn nicht auch um ökonomische Perspektiven gehe? Da sagt der glühende Verehrer Öcalans: "Wenn wir einmal frei sind, wird sich manches Problem von selbst lösen. Der Boden hier ist wie Gold, voller Bodenschätzen, insbesondere Erdöl.'' Ein kurdischer Staat, der das gesamte Erdöl der Türkei und vor allem den größten Teil des irakischen Öls besitzt ist seine realitätsferne Perspektive.

Das Dorf Kusdami, etwa einen Kilometer entfernt von der Kleinstadt Hazro, ist eines der Rücksiedlungsprojekte, die der stellvertretende Gouverneur von Diyarbakir für eine Besichtigung warm empfohlen hat. Kusdami liegt auf einer Anhöhe und besteht aus nur elf neu erbauten Häusern. Die Frauen ziehen sich sofort zurück, wenn ein Fremder naht. Ihre Männer sind seit zehn Jahren Mitglieder der Miliz. Sie schützen das Dorf und erhalten ein Monatsgehalt von knapp dreihundert Mark. "Jeder Schuhputzer verdient mehr'', sagt einer von ihnen ärgerlich. Doch in dieser Region lässt sich damit auskommen.

Ihr altes Dorf haben sie vor acht Jahren aus Angst vor der PKK verlassen. Einer erzählt, wie er von zwei Männern als Verräter beschimpft und bedroht worden sei. Der eine lebe nun in Holland und verdiene "viel Geld'', der andere habe "mehr als hundert Morde'' begangen und dann die Seite gewechselt. Nun sei er in Diyarbakir und arbeite in einer geheimen Antiguerilla-Organisation.

Die Bewohner von Kusdami behaupten, man habe sie nicht überzeugen müssen, nicht wieder in ihr altes Dorf zurückzukehren. Der neue Platz sei einfach viel besser geeignet. Der Staat hat ihnen das Baumaterial gegeben, und sie haben selbst die Häuser errichtet. Sie wären noch zufriedener, wenn sie im Ort auch noch Wasser hätten. Urhan Uslu, der zuständige Landrat, ist ein dynamischer junger Beamter. Bei den Dorfbewohnern ist er angesehen, doch helfen, wenn es um das Wasser geht, kann er nicht. Die Mittel für die Rücksiedlung sind beschränkt. Für die Bohrung eines Tiefbrunnens, den man in Kusdami brauchte, reicht das Geld nicht, und so überlegen die Dorfbewohner bereits, ob sie ihre neuen Häuser wieder verlassen und zurück in die Stadt ziehen sollen.

Fazil Yazici ist Anführer des kurdischen Stammes der Beritan. Als solcher könnte er wie andere Stammeschefs ein bequemes Leben führen. Er könnte im Parlament sitzen, seine Kinder in den USA studieren lassen. Doch solch ein Stammesfürst, der auch über Heiraten und Scheidungen seiner Untertanen befindet, möchte der 27-jährige Fazil Yazici nicht sein. Den Beritan-Stamm mit seinen 50000 Mitgliedern führt er als Kooperative, in der er sich Wahlen stellen muss. Ihm zur Seite steht ein gewähltes Gremium.

Traditionell betreiben die Beritan Viehzucht. Im Sommer verlassen sie ihre Dörfer, ziehen mit ihren Tieren über Land. Viele leben das ganze Jahr in Zelten. Die vielen Jahre der Kämpfe zwischen Staat und PKK haben auch sie hart getroffen. Um das Land besser kontrollieren zu können, wurden Weideverbote verhängt, der Viehbestand der Beritan sank von fast 700000 auf 200000 Tiere. Öcalans Leute und die türkische Regierung respektierten den mächtigen Stamm, und keines seiner 56 Dörfer wurde zerstört. Dem Stammeschef stehen in Ankara die Türen offen, er bekommt Hilfe für sein Vorhaben, die Beritan sesshaft zu machen. 700 Haushalte hat er in zwei Jahren ansiedeln können. Aber den Erfolg von Ecevits Dorf-Stadt-Projekt bezweifelt er. Man müsse die Leute dort wieder ansiedeln, wo ihre Felder liegen, man müsse also die alten Dörfer wieder aufbauen. "Wenn das geschieht, wird das Rücksiedlungsprojekt erfolgreich sein, sonst wird es scheitern.'' Anderthalb Jahre nach der Gefangennahme von PKK-Chef Öcalan, ein Jahr nach dem Rückzug der PKK-Truppen, sind alte Fehden nicht vergessen.