Frankfurter Rundschau, 6.9.2000

Als Chruschtschow den UN-Generalsekretär anpöbelte

Aus der Geschichte der Vereinten Nationen: Von Dag Hammarskjöld zu Kofi Annan / Manuel Fröhlich analysiert Veränderungen und Trends

Die Millenniums-Veranstaltung der Vereinten Nationen soll in dieser Woche in New York besonders großartig gefeiert werden. Aller Pomp kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die "Weltorganisation" in der Krise steckt und vor einer Wende steht. Wieder einmal. Im folgenden Beitrag erinnert Manuel Fröhlich an die Zeit, da ein Nikita Chruschtschow die UN als politische Bühne benutzte und der damalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld für die "Blauhelme" kämpfte. Fröhlich schlägt dann den Bogen zum heutigen UN-Generalsekretär Kofi Annan und den gegenwärtigen Herausforderungen. Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forscht über die UN-Politik der fünfziger und sechziger Jahre. Anfang 2001 erscheint sein Buch "Dag Hammarskjöld - Die politische Ethik der Vereinten Nationen".

Wenn sich in dieser Woche Diplomaten, Außenminister, Staats- und Regierungschefs in New York zum Millenniums-Gipfel der Vereinten Nationen zusammenfinden, wird die Weltöffentlichkeit diese Zusammenkunft wohl zunächst mit der üblichen Routine symbolischer Politik zusammenbringen, wie sie sich auch alljährlich in der Generalversammlung manifestiert. Und doch wohnt der angestrebten Bestandsaufnahme und Orientierungssuche unter dem Motto "Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert" das Potenzial inne, die Routine multilateraler Diplomatie zu durchbrechen und wesentliche Charakteristika der internationalen Politik im neuen Jahrhundert zu bestimmen. Als "Forum der Welt" kann die UN gelegentlich paradigmatische Veränderungen und Trends der Weltpolitik zum Ausdruck bringen. Besonders prägnant gelingt dies, wenn drei Faktoren zusammentreffen, die auch in der Vergangenheit die Strukturen internationaler Beziehungen verändert haben: Die Etablierung neuer Akteure, die Auseinandersetzung um ein Organisationsprinzip der Staatengemeinschaft und schließlich die Herausbildung neuer Zielperspektiven der Weltorganisation. Genau vor vierzig Jahren, auf der Generalversammlung 1960, kam es zu einem solchen Zusammentreffen, dessen Verlauf reizvolle Analogien zur Einordnung des Millennium-Gipfels eröffnet.

I.

Worum ging es 1960? Auch damals machten sich Staatschefs auf den Weg nach New York. Der sowjetische Staatschef Nikita S. Chruschtschow kam mit einem eigenen Schiff angereist. Ähnlich wie die Wahl der Transportmittel war jedoch auch die damalige internationale Großwetterlage eine völlig andere. Der Ost-West-Konflikt bestimmte die Weltpolitik, und zugleich veränderte sich das Gesicht der UN rapide durch den Beitritt neuer Staaten. Alleine 1960 wurden 17 vor allem afrikanische Staaten neu aufgenommen. Vor diesem Hintergrund hatte sich Chruschtschow viel vorgenommen. In seiner Rede rief er kämpferisch dazu auf, den Kolonialismus "auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen". Sein Kalkül: Die neuen Mitglieder der UN sowie die blockfreien und neutralen Länder könnten unter diesem Slogan zu einer Einheitsfront gegen die USA zusammengeschweißt werden. Diese nämlich bezichtigte er in vielfacher Art und Weise, auf der ganzen Welt eine spätkapitalistische Variante des Kolonialismus zu betreiben. Das Spielfeld dieser vermeintlich neokolonialistischen Intrigen auf der einen sowie der friedensbemühten Absichten der Sowjetunion auf der anderen Seite war die ehemalige belgische Kolonie Kongo, die kurz nach der Unabhängigkeit in den blutigen Wirren eines Bürgerkrieges versank.

Die Auseinandersetzung vor Ort vollzog sich jedoch trotz der Anwesenheit einiger Söldner und Militärberater nicht in einer Konfrontation westlicher oder östlicher Kräfte. Der Streit hatte sich vielmehr um die Kompetenzen und die Aufgaben der dort stationierten Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen ONUC entzündet. Während Chruschtschow ebenso wie die schillernde Figur des Patrice Lumumba forderte, dass die ONUC mit Waffengewalt gegen die sezessionistische Regierung von Moise Tshombe im rohstoffreichen Katanga vorgehen solle, um die Autorität der Zentralregierung wiederherzustellen, hielten die USA eisern an dem Grundsatz der Unparteilichkeit der Blauhelmtruppen fest, deren Aktionen in einer Bürgerkriegssituation zu keiner Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen dürfe. Dies war auch die Linie des "Erfinders" der Idee der Blauhelmtruppen, des damaligen Generalsekretärs Dag Hammarskjöld, der zusammen mit seinen Mitarbeitern 1956 während der Suez-Krise bei der Aufstellung der ersten United Nations Emergency Force das Prinzip der strikten Unparteilichkeit etabliert hatte.

Hammarskjölds Insistieren auf diesem Prinzip verärgerte Chruschtschow mehr und mehr, da es ihm die Möglichkeit verstellte, die politischen Ziele der Sowjetunion mit Hilfe der UN zu verfolgen. Seiner Wahrnehmung nach war auch Unparteilichkeit parteilich, da sie in der Situation des Kongo letztlich den zitierten neokolonialistischen Ambitionen des Westens diene. Chruschtschow war sich der Tatsache bewusst, dass ein offener Angriff auf die USA die neutralen Länder allenfalls abgeschreckt bzw. teilnahmslos gelassen hätte. Indem er aber Hammarskjöld als "Lakai" des Kapitalismus bezeichnete und ihm vorwarf, die Drecksarbeit des Westens zu erledigen, baute er diesen als Sündenbock auf. Die Schläge auf Hammarskjöld sollten jedoch der Politik des Westens gelten.

Hinzu kam eine persönliche Abneigung Chruschtschows gegenüber Hammarskjöld, den er seit dessen Protest gegen sowjetische Wirtschafts- und Militärhilfe im Kongo verächtlich als "Flegel" titulierte, wie Chruschtschows ehemaliger Redenschreiber berichtet. Als die Situation immer unübersichtlicher wurde und zeitweise mit Lumumba, Kasawubu und Mobutu drei Personen Führungsansprüche in Kongo anmeldeten, während die Sezession Katangas weiter fortbestand, hatte Chruschtschow einen Wutausbruch: "Ich pfeife auf die UN!" brüllte er erbost. "Das ist nicht unsere Organisation. Dieser nichtsnutzige Flegel steckt seine Nase in wichtige Angelegenheiten, die ihn nichts angehen. Er maßt sich eine Macht an, die ihm nicht zusteht. Wir machen ihm noch die Hölle heiß." Hammarskjöld, der spätestens seit der Suez-Krise der Organisation der Vereinten Nationen unerwartete Vitalität vermittelt hatte, war dem sowjetischen Führer schlicht zu mächtig geworden. Das Prinzip einer eigenständigen Weltorganisation, die Hammarskjöld im Sinne der Charta als unabhängige Institution und ausgleichendes Element in der Blockkonfrontation verstand, war ihm zu unkalkulierbar.

Persönliche Abneigung, strategisches Kalkül und machtpolitische Ambitionen führten so zu Chruschtschows Vorschlag, das Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen durch eine Troika zu ersetzen. Danach sollte an Stelle des Generalsekretärs ein Kollegialgremium die Weltorganisation leiten, das aus Vertretern der westlichen, kommunistischen und neutralen Staaten bestehen sollte. Aufgabe dieser Vertreter wäre dann nicht mehr der Versuch, sich an einem wie auch immer gearteten Organisationsinteresse oder allein dem Charta-Auftrag zu orientieren, sondern explizit die Interessen ihres Blocks und ihrer Staatengruppe einzubringen. Hammarskjölds damaliger Mitarbeiter, Brian Urquhart, spricht in diesem Sinne von einem mehr oder minder unverhohlenen Versuch, das Veto-Prinzip auch auf die Ebene des Generalsekretärs zu übertragen.

II.

Genau an dieser Stelle lag der konzeptionelle Kern der persönlichen Auseinandersetzung zwischen Chruschtschow und Hammarskjöld. Der sowjetische Führer interpretierte die Bestimmungen der Charta als Gerüst einer institutionalisierten Konferenzmaschinerie, in der die Staaten nicht nur vor ungebührlicher Einmischung in innere Angelegenheiten geschützt seien, sondern zudem allein der Sicherheitsrat Aktivität entfalten und Politik gestalten könne. Und in diesem fand der Kampf der Giganten, der Großmächte und ständigen Mitglieder statt. Grundlegende Spielregel war die Einigung auf das Veto, mit dem die Sowjetunion ebenso wie alle anderen ständigen Sicherheitsratsmitglieder all das verhindern konnte, was ihr aus rein nationalen außenpolitischen Gründen nicht in den Kram passte. Das Konzept eines internationalen Dienstes mit strikt internationaler Loyalität, wie es die UN-Charta formuliert hatte, hatte in dieser Vorstellung keinen Platz.

Nicht nur Hammarskjöld erkannte, dass es hier nicht mehr nur um einen persönlichen Streit, sondern um einen Fundamentalangriff auf die Prinzipien der Weltorganisation ging. Nach Meinung vieler damaliger Beobachter und Diplomaten stand 1960 die Existenz der UN in Frage. Die Staatengemeinschaft war just in dem Moment, in dem sich die Akteursstruktur durch die Aufnahme neuer Mitglieder erheblich erhöht hatte, an eine Wegscheide gelangt. Waren die Prinzipien des Völkerrechts und der internationalen Organisation überlebensfähig, oder hatten sie sich den Interessen der Großmächte unterzuordnen?

Hammarskjöld entgegnete den Angriffen Chruschtschows mit der Feststellung, dass wohl in einer strittigen Situation von den Antagonisten kaum eine Haltung so kritisiert werde wie die strikter Unparteilichkeit. Doch das Festhalten an diesem Kurs sei existenziell für die UN: "Dies ist keine Frage einer Person, sondern eine Frage einer Institution." Deshalb könne der Generalsekretär bei der Verpflichtung auf internationale Loyalität nach Art. 100 der Charta keine Kompromisse eingehen, selbst wenn das Festhalten am Kurs der Unabhängigkeit zum Auseinanderbrechen der Organisation führe. Was d en konkreten Konflikt in Kongo angehe, so erinnerte Hammarskjöld daran, dass die ONUC ein Unternehmen aller Mitgliedstaaten der UN sei. Deshalb liege es an ihnen, andere Vorstellungen über ihre Zielsetzung in Sicherheitsrat und Generalversammlung zu artikulieren und zu beschließen. Solange der Generalsekretär jedoch keine weiteren Handlungsmaßgaben erhalte, bleibe ihm in einer Art Vakuum nichts anderes übrig, als strikt nach den Prinzipien der Charta zu handeln. Die Entgegnung Hammarskjölds fand - wie zu erwarten - nicht die Zustimmung Chruschtschows, der mit seiner Faust wütend auf den Tisch trommelte. Er intensivierte sogar seine Angriffe und drohte mit Nichtanerkennung Hammarskjölds, falls dieser nicht den Mut aufbringe, selbst zurückzutreten.

Hammarskjöld antwortete ihm abermals und verband seinerseits die konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Aufkommen der neuen Akteure. Das Überleben der Vereinten Nationen als Organisation sei letztlich vor allem im Interesse der kleinen und mittleren Staaten sowie der gerade unabhängig gewordenen. Entledigten sich die Vereinten Nationen der Möglichkeit eigenständiger - auch exekutiver - Handlungen, könnten sie nicht mehr aktiv und effektiv die Interessen der schutzbedürftigen Nationen bewahren. So machte sich Hammarskjöld unmissverständlich zum Anwalt der kleinen und mittleren Staaten in der UN: "Es ist nicht die Sowjetunion oder irgend eine andere Großmacht, die die UN für ihren Schutz benötigt. Es sind all die anderen Staaten. Ich werde im Interesse all dieser anderen Nationen in meiner Position bleiben, solange diese es wünschen." Nach dieser Rede erhob sich die Generalversammlung mit wenigen Ausnahmen zu einer mehrere Minuten andauernden stehenden Ovation, während Chruschtschow abermals wütend seine Faust auf den Tisch schlug. Seine Strategie war nicht aufgegangen.

Hammarskjöld kam 1961 unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz in Kongo ums Leben. Der Angriff der Sowjetunion hatte einige sekretariatsinterne Auswirkungen, doch das Prinzip der unabhängigen Stellung und internationalen Loyalität der Weltorganisation, die über die Konferenzdiplomatie hinausreicht und die in der Charta niedergelegten normativen Ziele der Staatengemeinschaft verfolgt, war gerettet. Zugleich erkannte die UN in der immer zahlreicher werdenden Schar kleiner und mittlerer Staaten ein Aktions- und Unterstützungspotenzial im Bemühen, dem Sog des Ost-West-Konflikts zu entgehen. Die Generalversammlung von 1960 steht somit stellvertretend für die Etablierung einer neuen Akteursgruppe in den internationalen Beziehungen, sie steht für den Durchbruch der Idee, dass Einzelstaaten mit der Einrichtung internationaler Organisationen normative Zielverpflichtungen aufgegeben sind und schließlich markiert sie den Einschnitt, wonach bloße Koexistenz antagonistischer Akteure dem Prinzip der Weltorganisation nicht gerecht werde, sondern es vielmehr um regelrechte Kooperation zur Bewältigung der riesigen Aufgaben der Weltpolitik und der Verhinderung eines atomaren Krieges gehe.

III.

Inwiefern ist dieser konzeptionelle Einschnitt von 1960 vierzig Jahre später noch von Bedeutung? Auch heute deutet sich die Etablierung neuer Akteure, die Auseinandersetzung um eine altehrwürdige Institution der Staatengemeinschaft und schließlich das Bemühen um neue Formen internationalen Umgangs an. All diese Elemente finden sich teils etwas unausgesprochen im Millenniums-Bericht des Generalsekretärs. Dort erinnert Kofi Annan zunächst über den Titel "Wir, die Völker" daran, dass die UN-Charta eben nicht nur von der Struktur und Akteursqualität von Einzelstaaten ausgehe, sondern vielmehr den einzelnen Menschen ins Blickfeld seiner Arbeit stellen müsse. Mag dies nur als bloßer Appell erscheinen, so zeigt Annan, dass mit der unbestreitbaren Existenz einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure wie NGOs oder Wirtschaftsunternehmen zusätzliche Teilnehmer die Bühne internationaler Politik betreten haben.

Zum Zweiten hat Annan - nicht nur in seinem Millenniumsbericht, sondern schon ein Jahr zuvor in seinem Rechenschaftsbericht - eine weitere Konsequenz aus dieser Veränderung gezogen. So, wie 1960 die staatliche Souveränität ihre Qualifizierung in der Normativität der internationalen Organisation erfuhr, so hatte Annan vor dem Hintergrund zusammenbrechender Staaten, massiver Menschenrechtsverletzungen und dem Phänomen der humanitären Interventionen von einer weiteren Qualifizierung der Souveränität gesprochen: "Wenn eine humanitäre Intervention tatsächlich einen unannehmbaren Angriff auf die Souveränität darstellt, wie sollen wir dann auf ein Ruanda, ein Srebrenica oder auf alle schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen reagieren, die gegen jedes Gesetz verstoßen, das uns unser gemeinsames Menschsein vorschreibt?" Dieses Dilemma hatte er problematisiert, indem er der äußeren Souveränität des Staates eine innere Souveränität seiner Bürger entgegengestellt hat. Ähnlich wie Hammarskjöld die Staatengemeinschaft konkret vor die Wahl zwischen Konferenzmaschinerie und eigenständig handelnder Einheit gestellt hatte, so stellt auch Annan die Staatengemeinschaft vor die Wahl zwischen einem Festhalten an überkommenen Souveränitätsdogmen, die zum Schutzmantel von Menschenrechtsverletzungen pervertiert werden können, oder der Vereinbarung über Kriterien der Souveränität, die einen solchen Missbrauch verhindern helfen.

Aus all dem ergibt sich drittens in Analogie zu 1960 auch wieder die Frage, unter welchem Leitprinzip denn die Vereinten Nationen ihre Aufgabe anzugehen hätten. 1960 steht für die Erkenntnis, dass bloße Koexistenz nicht ausreiche, um den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden. Liest man den Bericht von Annan, so drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass bloße Kooperation herkömmlichen Stils nun ebenfalls nicht mehr ausreicht, den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden. Nicht zuletzt die UN selbst stehe damit vor großen Herausforderungen: "Unsere Nachkriegsinstitutionen waren, einfach gesagt, auf eine internationale Welt zugeschnitten, doch leben wir heute in einer globalen Welt." Die UN seien keinesfalls bloßes Mittel zum Zweck; vielmehr gelte es, die in der Charta niedergelegten Ziele der friedlichen Streitbeilegung, der Zusammenarbeit auf den unterschiedlichsten Feldern und die Herrschaft des Rechts auch in den internationalen Beziehungen Tag für Tag "qualitativ auf eine neue Ebene" zu stellen, um die Steuerung internationaler Angelegenheiten "in ihrem Wesen zu verändern".

Für Annan ist die Globalisierung das Signum des beginnenden Jahrhunderts, und doch zeigt er sich der Begrenztheit des Phänomens bewusst, wenn er darauf hinweist, dass es in Tokio mehr Telefone als in ganz Afrika gibt. Vor diesem Hintergrund spricht der Generalsekretär von "Koalitionen für den Wandel, oft mit Partnern, die den offiziellen Institutionen fern stehen". Diese bildeten globale Politiknetzwerke und gleichen sich bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer Struktur: "Sie kennen keine Hierarchie und sorgen dafür, dass die Zivilgesellschaft ein Mitspracherecht hat. Sie helfen bei der Festlegung globaler politischer Ziele, gestalten die Debatten und sorgen für die Aufklärung der Öffentlichkeit. Sie erarbeiten und verbreiten Wissen und Erkenntnisse, indem sie umfassenden Gebrauch vom Internet machen. Sie erleichtern die Konsensbildung und die Aushandlung von Übereinkommen über neue weltweite Normen sowie die Schaffung neuer Arten von Mechanismen für deren Durchsetzung und Überwachung." Auf der EXPO hatte Annan in diesem Sinne gesagt: "Die Interdependenz der Probleme ist heute ebenso bedeutsam wie die Interdependenz der Nationen." Dass dies nicht nur hohle Worte sind, bezeugt er mit der hervorgehobenen Schilderung bereits bestehender Koalitionen für den Wandel:

-So kümmert sich seit 1999 die "Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung" um die Verbesserung des weltweiten Zugangs sowie der Erforschung und Entwicklung neuer Impfstoffe beispielsweise gegen Aids oder Malaria. Die Allianz verfügt über eine dreiseitige Struktur: Neben einigen nationalstaatlichen Regierungen finden sich zweitens Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft und philanthropische Stiftungen. Aus dem Bereich der internationalen Organisation kommt schließlich drittens die Weltgesundheitsorganisation, die Weltbankgruppe und das Kinderhilfswerk der UN hinzu. Kennzeichen des neuen Stils der Zusammenarbeit ist nicht zuletzt die Tatsache, dass etwa der von der Stiftung angeregte Fonds für Kinderimpfstoffe auf dem Weltwirtschaftsform in Davos eingerichtet wurde.

-Eine weitere Initiative kümmert sich unter ebenfalls starker Privatbeteiligung um den weltweiten Anschluss von Gesundheitseinrichtungen an das Internet. Internet-Freiwilligenkorps wie die amerikanischen und kanadischen Net Corps sollen unter dem Dach der Vereinten Nationen in Entwicklungsländern die Anwendung von Informationstechnologie intensivieren und so "digitale Brücken" aufbauen.

-Besonders greifbar werden die Koalitionen für den Wandel in der Initiative zur Verbesserung von Kommunikation bei Katastropheneinsätzen. Hier hat sich das Telekommunikationsunternehmen Ericsson in Zusammenarbeit mit internationalen Hilfsorganisationen verpflichtet, über seine Niederlassungen in 140 Ländern bei akuten Katastrophenfällen sowie zur Prävention die Helfer und Retter vor Ort mit Mobil- und Satellitenfunktelefonen auszustatten und so eine unabdingbare Voraussetzung zur effektiven Kommunikation zu schaffen. Die Kommunikationssysteme werden von Ericsson zudem in Stand gehalten und untereinander kompatibel gemacht.

Und genau diese Erfordernis der Kompatibilität, wie sie zwischen verschiedenen Kommunikationsnetzen bestehen muss, scheint auch in einem politischen Sinne Voraussetzung der Koalitionen für den Wandel zu sein. Die Partner in einer Koalition für den Wandel müssen untereinander kompatibel sein. Das heißt zwar nicht, dass etwa für die Staaten eine spezielle Form der Demokratie vorgegeben ist, und doch gibt es gewisse Standards, die Annan in Anlehnung an die Debatte um "Good Governance" folgendermaßen formuliert: "Eine gute Staatsführung beinhaltet Rechtsstaatlichkeit, wirksame staatliche Institutionen, Transparenz und Rechenschaftspflicht bei Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, Achtung vor den Menschenrechten und die Teilhabe aller Bürger an den Entscheidungen, die sich auf ihr Leben auswirken. Man kann zwar darüber streiten, wie diese Grundsätze am angemessensten umgesetzt werden sollen, an ihrer Wichtigkeit besteht hingegen kein Zweifel."

Ist diese deutliche Formulierung eines Anspruches an die Regierungen schon bemerkenswert, so ist es in der Koalitionslogik nur konsequent, dass Annan Anfang 1999 den Globalen Pakt als Partnerschaftsprogramm zwischen der UN und dem privaten Sektor ins Leben gerufen hat. Dieser will Unternehmen "zur Förderung gerechter Arbeitsnormen, der Achtung der Menschenrechte und des Umweltschutzes veranlassen". Diese Ziele sollen nun zum ersten Mal systematisch und weltweit über einen Vergleich konkreter Managementpraktiken operationalisiert werden. Von Seiten der UN sind im Globalen Pakt die ILO, das Umweltprogramm und die Hohe Kommissarin für Menschenrechte engagiert. Zugleich unterstützen das Programm weltweite Arbeitnehmerverbände wie das Prince of Wales Business Leaders Forum oder der internationale Bund freier Gewerkschaften. Hinzu kommen schließlich beispielsweise auf Menschenrechtsfragen spezialisierte NGOs. Auch sie müssen zur Bildung von Koalitionen untereinander kompatibel sein, das heißt, sich auf einem Fundament gemeinsamer Werte bewegen.

Der Millenniumsbericht beinhaltet neben diesen teils nur angedeuteten konzeptionellen Veränderungen auch eine Reihe von konkreten Vorschlägen wie etwa der Halbierung des Anteils der in extremer Armut lebenden Menschen bis 2015 oder die Vorschläge der Expertengruppe zur Verbesserung des Peacekeeping, die Annan dem Millenniumsgipfel und der Generalversammlung unterbreitet. Hier wird sich zeigen, inwiefern dringende Probleme konkret angegangen werden und die von Annan aktualisierten Ziele der Freiheit von Furcht, Freiheit von Not und einer ökologisch bestandsfähigen Zukunft für kommende Generationen umgesetzt werden können. Der Millenniumsbericht bezeichnet die UN in diesem Zusammenhang als "Katalysator des Wandels", dessen Wirkung Annan folgendermaßen beschreibt: "Dieser Einfluss beruht nicht auf Machtausübung, sondern auf der Kraft der Werte, für die wir eintreten, auf unserer helfenden Rolle bei der Erarbeitung und Aufrechterhaltung globaler Normen, auf unserer Fähigkeit, zu globalem Problembewusstsein und globalem Handeln anzuregen, und auf dem Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, weil wir praktisch tätig werden, um die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern."

IV.

So, wie 1960 die dekolonialisierten Länder als neue Akteure das Forum der Vereinten Nationen betraten, so tut dies heute die Zivilgesellschaft in vielfältigsten Formen. So wie 1960 die altehrwürdige Diplomatie barer Selbstverpflichtungen um das unabhängige Element eines internationalen Dienstes und einer auch selbständigen Organisation erweitert wurde, so geht es heute um die von Annan thematisierte Auseinandersetzung um ein weiteres altehrwürdiges Element der internationalen Beziehungen: den Begriff der Souveränität. Steht die Generalversammlung 1960 für den Übergang bloßer Koexistenz im Zeitalter der Blockkonfrontation hin zu effektiver zwischenstaatlicher Kooperation, so könnte der Millenniumsgipfel eine weitere Stufe der Intensivierung internationaler Organisation mit sich bringen, wenn die zwischenstaatliche Kooperation durch vielfältige Formen konkret verabredeter Koalition unterschiedlicher Akteure vorangetrieben wird. Ebenso wie 1960 geht es nicht um eine Ablösung der weiterhin unabdingbaren Koexistenz oder der bestehenden Kooperationsformen. Auch wird damit die entscheidende Position der Großmächte - und heute allen voran der USA - nicht angezweifelt.

Koexistenz ist die unverzichtbare Basis, Kooperation die unausweichliche Verpflichtung und Koalition eine mögliche Aktionsform bei der Bewältigung der Herausforderungen der Globalisierung. Sie bilden den Dreiklang der Weltorganisation am Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Jahre 2000 wie im Jahre 1960 wird deutlich, dass das Bemühen der Vereinten Nationen der konkreten Suche nach einer überlebensnotwendigen Ethik der internationalen Beziehungen gleichkommt, die Hammarskjöld vor vierzig Jahren auch eingedenk möglicher Rückschläge in den Begrifflichkeiten der Lebensphilosophie Henri Bergsons als kreative Evolution bezeichnete.