taz 4.9.2000

Europa ist dicht

Genfer Flüchtlingskonvention findet in der EU kaum noch Anwendung, kritisieren Flüchtlingsorganisationen

FRANKFURT taz Vor knapp einem Jahr haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten im finnischen Tampere darauf geeinigt, bis 2002 Kriterien eine gemeinsamen Flüchtlingspolitik auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention zu entwickeln.

Am Wochenende informierten Flüchtlingsvertreter in der evangelischen Akademie Arnoldshain über den Stand der Verhandlungen. Ergebnis: Die Vorschläge der Europäischen Kommission sehen gar nicht schlecht aus.

Ende des Monats will der Ministerrat den europäischen Flüchtlingsfonds verabschieden, der 45 Millionen Euro für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen vorsieht. Darüber hinaus gibt es einen Entwurf, der Mindestnormen für den vorübergehenden Schutz von Flüchtlingen in Massenfluchtsituationen wie im Kosovo garantieren soll. Auch die Richtlinien zur Familienzusammenführung wurden von den Tagungsteilnehmern als fortschrittlich bezeichnet.

Allerdings ist fraglich, ob die Pläne tatsächlich EU-Gesetz werden. Denn die Praxis des Asylrechts weist in eine andere Richtung. In Großbritannien wurde Anfang des Jahres die Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge abgeschafft. Und Polen hat neuerdings Abschiebegefängnisse eingerichtet und die Zahl der Abschiebungen seit 1997 um 100 Prozent auf 7.000 erhöht.

In den Niederlanden werden abgelehnte Asylbewerber, die man wegen der Lage in ihren Herkunftsländern nicht ausweisen kann, auf die Straße verwiesen. Vor allem Afghanen und Somalier macht man so zu Obdachlosen mit behördlicher Meldepflicht. Und Deutschland hat auf Gund verschärfter Grenzkontrollen längst seinen Spitzenplatz als Aufnahmeland verloren.

Solange die Asylpraxis in Europa so widersprüchlich wie heute ist, könne man das durchaus im Interesse der Flüchtlinge nutzen, war die vorherrschende Meinung in Arnoldshain. So würden Flüchtlinge aus Afghanistan, die in Deutschland abgewiesen werden, da sie nicht als staatlich Verfolgte gelten, in Großbritannien anerkannt.

Pro Asyl kritisierte, dass die Genfer Flüchtlingskonvention augenblicklich de facto außer Kraft gesetzt ist, obgleich sie alle EU-Staaten unterzeichnet haben. Pro Asyl forderte die EU auf, die Konvention wieder anzuwenden, um so zu garantieren, dass Flüchtlinge Schutz finden, egal ob sie nun durch Staaten oder durch Gruppen wie die afghanische Taliban verfolgt werden.

EVELYN FILIPP