Bremer Nachrichten, 2.9.2000

Jetzt geht es ans Eingemachte

Von unserer Korrespondentin Susanne Güsten

Türkei ringt mit der EU um ein Reformpaket für künftigen Beitritt

Istanbul. Der Sommer geht zu Ende, und für Mesut Yilmaz sind die ruhigen Zeiten bald vorbei. Als erster EU-Minister der Türkei muss sich der ehemalige Ministerpräsident in den kommenden Wochen um einige der stacheligsten Themen in der türkischen Politik überhaupt kümmern: Kurden, Meinungsfreiheit, Menschenrechte. Konnte Yilmaz in den ersten sechs Wochen seit seiner Ernennung Mitte Juli noch eine ruhige Kugel schieben, weil die Sommerpause in Ankara und Brüssel für einen gemächlichen Gang der Dinge sorgte, steht er nun vor einem arbeitsreichen und politisch brisanten Herbst. Denn die Türkei muss sich der EU gegenüber schriftlich zu einem Reformpaket verpflichten, das innenpolitisch voller Zündstoff ist.

Gleich in den ersten Septembertagen geht es ans Eingemachte: Yilmaz will in Ankara Vertreter von 37 staatlichen Ämtern und Institutionen zusammentrommeln, um mit ihnen über notwendige Reformen zu reden. Mitte September beginnen dann Kontakte mit Brüssel auf hoher Ebene; unter anderem ist eine Reise von Außenminister Ismail Cem zum EU-Hauptquartier geplant. All dies dient der Vorbereitung von zwei Dokumenten, die für die weitere Annäherung der EU-Beitrittskandidatin Türkei an die Union von zentraler Bedeutung sind: Zunächst wird die EU selbst ein Papier zur so genannten Beitrittspartnerschaft erstellen, in dem die von Ankara verlangten Reformschritte aufgelistet werden. Anschließend legt die Türkei ein "Nationales Programm" vor, in dem sie beschreibt, wie und wann sie die Reformen umsetzen will.

Bei der Vorbereitung dieser Dokumente wird sich die türkische Regierung nicht mehr wie bisher um die Knackpunkte ihrer EU-Kandidatur herumdrücken k&oumlnnen - aber sie wird es versuchen. Da sensible Themen wie die Lage der Kurden und die Begrenzungen der Bürgerrechte in der Türkei aufs Tapet kommen, dürfte hinter den Kulissen um jedes Wort gestritten werden: Im "heißen Herbst" zwischen Ankara und EU würden die kleinsten Formulierungen eine wichtige Rolle spielen, prophezeit der liberale Leitartikler Hasan Cemal in der Zeitung "Milliyet". Es hängt schließlich nicht zuletzt von der Wortwahl ab, ob die Dokumente für beide Seiten akzeptabel sind.

Einen kleinen Vorgeschmack gab es bereits in den vergangenen Monaten. So schlug die EU mit Rücksicht auf die türkischen Empfindlichkeiten beim Thema Kurden vor, von den Schwierigkeiten im türkischen Südosten zu sprechen - dem mehrheitlich von Kurden bewohnten Landesteil der Türkei. Doch selbst das ging Ankara noch zu weit; die türkische Regierung wollte sich auf die Formulierung "regionale Disparitäten" zurückziehen. Der jetzt schon absehbare Streit zeigt, dass Ankara weiter versucht, die EU-Mitgliedschaft zu den eigenen Bedingungen durchzusetzen und nicht ohne weiteres bereit ist, sich nach den Vorgaben aus Brüssel zu richten.

Wie schwer sich die Türkei kurz vor Beginn des "heißen Herbstes" mit der EU noch tut, wenn es um die Akzeptanz internationaler Normen geht, zeigt auch Ankaras Umgang mit zwei UN-Menschenrechtskonventionen, die in den vergangenen Wochen von der türkischen Regierung unterzeichnet wurden. Die Konventionen verpflichten die Unterzeichnerstaaten unter anderem dazu, kulturelle Rechte von Minderheiten und die Meinungsfreiheit zu garantieren - Forderungen, die von Ankara noch immer mit dem Argument abgelehnt werden, dass diese Rechte zur Unterwanderung des türkischen Staates ausgenutzt werden k&oumlnnten. Deshalb ist die türkische Regierung nicht der Meinung, dass Ankara als Unterzeichner der UN-Konventionen jetzt für die Einhaltung dieser Prinzipien sorgen muss: Das Außenministerium ließ verlauten, die Türkei müsse "nicht jeden Artikel" der Dokumente befolgen. Vielmehr habe das Parlament in Ankara das Recht, bei der bevorstehenden Ratifizierung der Konventionen "Vorbehalte" geltend zu machen - bei all jenen Passagen der internationalen Abkommen, die der Türkei nicht schmecken.