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Que Se Vayan Todos

- Argentinas Popular Uprising -


Ein Augenzeugenbericht des finanziellen Zusammenbruchs und der fortschreitenden Grasswurzelrebellion

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Ein Nachruf an die globale antikapitalistische Bewegung

"Die Krise Argentiniens stellt sich immer mehr als eine Art ökonomischer Rorschach-Test heraus, sie wird von Ökonomen und Theoretikern aller ideologischen Richtungen benutzt, um ihre Ansichten zu bestätigen", sagt die Financial Times. "Gegner des "Washingtoner Konsens" sagen, Argentiens Erfahrung zeigt die Gefahr den Rezepten des IWF zu folgen. Ünterstützer des freien Markts sagen Argentiniens Erfahrung zeigt das Risiko, [die Wirtschaft] nicht weit genug zu öffnen."
Argentinien könnte sehr wohl beweisen, die Krise zu sein, die den, sich ständig weiternden Riss im neoliberalen Panzer unwiderruflich aufspaltet, ganz besonders dann, wenn sich die Lage auch in anderen Teilen Lateinamerikas entwirrt. Die Vorgänge in Venezuela vor kurzem und die Möglichkeit der Linken die Präsinentschaftswahlen in Brasilien dieses Jahr zu gewinnen, zeigen ein Abweichen vom "Washingtoner Konsens" in grossen Teilen der Region.
Das letzte Jahrzehnt hat eine sich verstärkende Delegitimierung des neoliberalen Modells erlebt, als eine Bewegung der Bewegungen auf allen Kontinenten aufsprang, und die scheinbar nicht aufzuhaltende Expansion des Kapitals heraufbeschwor. Von Chiapas bis Genua,von Seattle bis Porto Alegre, von Bangalore bis Soweto, haben Leute die Straßen besetzt, direkte Aktionen durchgeführt, Modelle der Selbstorganisation praktiziert und einen radikalen Geist von Autonomie, Verschiedenheit und gegenseitiger Abhängigkeit gelebt. Die Bewegungen schienen nicht aufzuhalten, Massen-mobilisierungen wurden grösser, verschiedenere Bevölkerungen fanden zusammen und die Weltbank, der IWF, die WTO und der G8 wurden gezwungen sich auf Berggipfeln, von repressiven Regimen beschützt, oder hinter Zäunen, von tausenden Riotpolizisten verteidigt, zu treffen. Sie in der Defensive zu sehen, wie sie ihre Existenz rechtfertigen müssen gab den Bewegungen eine besondere Hoffnung.
Indem das grundlegende Problem als Kapitalismus identifiziert und inspirierende internationale Netzwerke in sehr kurzer Zeit entwickelt wurden, fühlte es sich fast so an als ob sich die Geschichte beschleunigte, als ob wir in der nächsten Phase gewinnen könnten mit dem Prozess des Vorstellens und Aufbauens von Welten jenseits von Gier und Wettkampf. Dann tat die Geschichte, was sie am besten kann, sie überraschte uns alle als am 11. September das World Trade Center einstürtzte und für eine Weile schien sich alles geändert zu haben. Hoffnung war auf einmal durch die Politik der Verzweiflung und der Angst ersetzt. Demonstrationen wurden abgesagt, Gründungen zurückgezogen, innerhalb der Bewegung gab es massenhaft Rückzieher und Distanzierungen. Kommentatoren erklärten Antikapitalismus sofort für tot. Der Herausgeber des The Guardian schrieb: "seit dem 11. Septem-ber gibt es keinen Appetit auf [Antiglobalisierung], kein Interesse und was wir alle vor ein paar Monaten konsumiert haben scheint jetzt irrelevant." Andere vermuten, dass die Bewegung irgendwie mit den Terroristen verbunden war. Clare Short, Entwicklungsminister des Vereinten Königreichs, stellte fest, dass die Forderungen der Bewegung denen der Al-Qaida sehr ähnlich seien. Der 11. September zwang die AktivistInnen, besonders die im Norden der Welt, zu einer Neubewertung. Er forderte von uns allen tief durchzuatmen, unsere Rhetorik in die Praxis umzusetzen, und strategisch und schnell zu denken. Drei Monate später schien, als Argentinien zusammenbrach und kurz darauf der Kollaps Enrons folgte, die Geschichte ihre erhöhte Geschwindigkeit wiederaufzunehmen. Es schien, dass der Neoliberalismus abseits des, die Welt ablenkenden, blinden, nationalistischen und undefinierten "Kriegs gegen den Terror" seine zersetzende Wirkung entfaltet.
Vielleicht ist es die grösste Herausforderung für die globale Bewegung, zu erkennen, das die erste Runde vorbei ist und dass der zuerst auf ein Gebäude in Seattle gesprühte und zuletzt auf einem brennenden Auto in Genua gesehene Slogan: "We Are Everywhere" (Wir sind überall) tatsächlich wahr sein könnte. Die "Legitimationskrise" wächst fast täglich exponentiell. Körperschaften und Institutionen wie die Weltbank und der G8 versuchen ständig, die wachsende globale Erhebung mit leeren Versprechungen von Umweltnachhaltigkeit und Armutsreduzierung, zu beschwichtigen.
Am 1. Mai 2002 wurde ein neues Buch von Akademikern veröffentlicht, die lamentieren: "Heute gibt es ein antikapitalistisches Dogma, dass mit einer latenten Feind-schaft grossen Geschäften gegenüber, einhergeht. Es ist eine gut organisierte Kritik des Kapitalismus." Das Buch argumentiert, dass wir "für Kapitalismus aufstehen" müssen, da er "die beste Sache [ist], die der Welt jemals passierte" und das, "wenn wir die Welt ändern wollen, wir es durch Geschäfte tun sollten" und Kapitalismus als "Held, nicht als Bösewicht" betrachten sollten. Vielleicht würden ihnen ein paar Stunden in den Strassen Argentiniens oder ein Gespräch mit den ehemaligen Angestellten Enrons die wahre Boshaftigkeit und Absurdität des Kapitalismus zeigen.
Mit den Mainstreamkommentatoren, die sich überschlagen zu erklären, dass Kapitalismus gut für uns alle ist und die Welt retten wird, scheint klar zu sein, dass die erste Runde dieser Bewegung ein Sieg war. Laut dem Ökonomen James K. Galbraith war es ein "...fast vollständiger Kollaps der vorherr-schenden ökonomischen Theorie". Aber die nächste Runde wird die härteste sein. Es wird heissen, unsere Kritik und unsere Prinzipien auf den Alltag anzuwenden; es wird die Stufe sein, in der wir und unserer direkten Umgebung arbeiten. Eine Stufe, in der der massenhafte Konflikt in den Straßen sich mit dem Schaffen von Alternativen zu Kapitalismus in unserer Nachbarschaft, unseren Dörfern und Städten, unseren Regionen die Waage hält (aber nicht völlig ersetzt ist). Genau das ist es, wobei uns Argentinien einen inspirierenden Weg weiterzukommen zeigen kann. Die Situation in Argentinien enthält viele Elemente der antikapitalistischen Bewegungen: die Praxis direkter Aktion, Sebstorganisierung und direkte Demokratie; der Glaube in die Kraft von Vielfalt, Dezentralisation und Solidarität; das Zusammenkommen grundsätzlich verschiedener sozialer Sektoren; die Ablehnung des Staates, multinationaler Unter-nehmen und Finanzinstitutionen. Das unglaublichste ist schließlich, dass die Form der Erhebung spontan entstand, sie wurde nicht von AktivistInnen durchgesetzt oder vorgeschlagen, sondern von gewöhnlichen Leuten von Unten geschaffen. Das Ergebnis ist eine wirklich öffentliche Rebellion, die jeden Tag, jede Woche stattfindet und alle möglichen Menschen mit einschliest.
Argentinien ist ein lebendiges Laboratorium des Kampfes geworden, ein Ort, an dem die öffentlichen Politikformen der Zukunft erfunden werden. Angesichts der Armut und des ökonomischen Zusammenbruchs haben die Menschen genug Hoffnung entwickelt, um weiter Widerstand zu leisten und sie haben ausreichend Kreativität zusammengetragen, um mit dem Aufbau von Alternativen gegen die Verzweiflung des Kapitalismus, zu beginnen. Die globalen Bewegungen können viel aus diesem Laboratorium lernen. Es ist auf viele Arten vergleichbar mit den sozialen Revolutionen in Spanien 1936, in Frankreich im Mai 1968 und vor kurzem in Süd-Mexico mit der Erhebung der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) 1994 - alles Revolutionen, die damals wie heute, Millionen rund um die Welt inspirierten.
Es war ein Geist innovativer Solidarität, der die Veränderung der Politikformen auslöste und uns auf die erste Stufe dieser neuen Entwicklung der Volksbewegungen führte. Die Zapatistas säten die Samen zur Schaffung einer "Rebellion die zuhört", eine Rebellion, die sich den lokalen und deshalb überall unterschiedlichen Bedürfnissen und Forderungen zuwendet. Und AktivistInnen aus der ganzen Welt antworteten, nicht nur mit traditionellen Formen internationaler Solidarität, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren speziell von Zentralamerika Solidaritätsgruppen praktiziert wurde, sonder auch durch Anwenden des zapatistischen Geistes, durch "Zuhören" zu Hause.
Dieses Netzwerk des Zuhörens fand zwischen vielen verschiedenen Kulturen statt und wurde ein Eckpfeiler in der ersten Runde dieser globalen Bewegung, da es die vielfältigen Differenzen miteinander verwob und eine kraftvolle Fabrik des Kampfes entstand. Die zweite Runde muss diese Netzwerke, die die gegenseitige Inspiration füttern, erhalten, da keine Revolution Erfolg haben kann ohne Hoffnung. Aber die gobale antikapitlistische Bewegung braucht auch die Rückver-sicherung seine Wünsche und Bestrebungen im Alltag gelebt zu sehen. Die zapatistischen, autonomen Gemeinden in Chiapas sind eine Art Modell, aber fest in der indigenen Kultur verwurzelt, sie sind kleine Enklaven in einem grösserern Staat und nicht in grösserem Umfang übertragbar. Argentinien ist eine komplette Gesellschaft in der Veränderung. Es ist ein Modell, dessen Stattfinden zu Hause sich die Bewegungen, insbesondere die des Nordens, wesentlich leichter vorstellen können.
Wie auch immer, die Bewegung in Argentinien unterliegt der Gefahr der Isolation; ohne die Sicherheit und gegenseitige Inspiration internationaler Solidarität wird sie eine schwere Niederlage erleiden. Die Mainstreammedien haben die Situation seit den Dezemberaufständen im wesentlichen ignoriert und die meisten Leute, die wir trafen hatten das Gefühl, dass die Welt sich ihrer Lage nicht bewusst ist. Einmal sang niemand "die ganze Welt schaut auf Euch", da es natürlich im Interesse der Verteidiger des Kapitalismus ist sicherzustellen, dass wir das was tatsächlich passiert nicht zum zuschauen, nicht zu sehen bekommen. Obwohl weltweit viele Antikapitalist-Innnen gesagt haben: "Danke Gott für Argentinien", so wie unsere Hoffnungen in den dunklen Tagen nach dem 11.9. wieder entfacht wurden, haben die meisten Leute in den Strassen Argentiniens keine Ahnung, dass sie so weitverbreiteten Optimismus verursacht haben.
Wenn Chiapas der Ort war, von dem die Samen der ersten Runde dieser Bewegung herwehten, dann könnte Argentinien der Ort sein, an dem sie landen, zu spriessen beginnen und Wurzeln schlagen. Wir müssen kreative Wege finden, die Rebelin dort zu unterstützen und von ihr zu lernen, so wie wir es mit den Zapatistas taten. Einige Solidaritätsaktionen wurden unternommen - die argentinische Botschaft in London wurde besetzt und eine anarchistische Fahne herausgehängt, Cazerolazos fanden statt, von Seattle bis Sao Paolo, von Rom bis Nairobi. Ein gegen das Weltwirtschaftsforum als es sich in New York traf, gerichteter Gesang verkündete: "Sie sind Enron, wir sind Argentinien!" Aber viel mehr könnte getan werden, mehr Geschichten ausgetauscht, mehr Aktionen koordiniert, und mehr Besuche in das Laboratorium könnten unternommen werden.
Ein Witz wird gerade in den Kreise japanischen Banker erzählt, er lautet: "Was ist der Unterschied zwischen Argentinien und Japan?" "Ungefähr achtzehn Monate." Diese Banker wissen sehr gut, dass es zur ökonomische Situation Argentiniens auch woanders kommen wird, und dass es unvermeidlich ist, dass das Tauziehen zwischen den Interessen der Menschen und den Forderungen des globalen Kapitals Explusionen auf der ganzen Welt zur Folge haben wird. Ein aktueller Bericht der Weltentwicklungsbewegung dokumentiert 77 verschiedene zivile Unruheherde in 23 Ländern, alle haben mit IWF Protesten zu tun, und alle sind aus dem Jahr 2001. Von Angola über Nepal nach Kolumbien und in die Türkei sind es die gleichen Risse, die in der neoliberalen "Logik" auftauchen, und die Menschen wehren sich. Ein Dutzend Länder drohen, das "nächste Argentinien" zu sein und einige davon sind wohl wesentlich näher an uns dran, als wir es uns jemals vorgestellt haben.
Wir müssen vorbereitet sein, nicht nur dar auf Widerstand zu leisten, sondern auch darauf, unsere Gesellschaften wieder auf-zubauen, wenn die ökonomische Krise zuschlägt. Falls die öffentliche Rebellion in Argentinien Erfolg hat, könnte das der Welt zeigen, dass die Menschen in der Lage sind Ökonomische Krisen zu durchleben und auf der anderen Seite herauszukommen, nicht nur mit dem nackten Überleben, sondern, wegen des Kampfes um neue Wege des Lebens, stärker und glücklicher. Wenn dies in Druck geht, gerät die ökonomische Krise in Argentinien weiter außer Kontrolle. Da sie gerichtliche Auseinandersetzungen mit der Regierung gewannen (durch schaffen eines gerichtlichen Präzendenzfalls, der als Querschläger durch die Welt geht), und wieder Zugang zu ihren Ersparnissen auf der Bank haben, heben tausende Anleger ihr Geld von den Banken ab, so schnell sie können.In den letzten Tagen schickte ein Richter ein Polizeikontingent und einen Schlosser zu einer Filiale der HSBC um die Ersparnisse eines Anwärters wiederzuerlangen, gleichzeitig wurden die Tresorräume einer Filiale der Banco Provincia mit Hilfe einer Lötlampe geöffnet. Wegen des, kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Bankensystems, entschied die Regierung alle Banken für einen "unbefristeten Urlaub" zu schliessen. Als der IWF es ablehnte, weiteres Geld zu verleihen und der argentinische Kongress einen Gesetzentwurf einbrachte, der vorschlug alle eingefrorenen Erparnisse auf den Banken in Regierungsanleihen zu verwandeln, trat der Wirtschaftsminister zurück. in einer Notfallpressekonferenz erklärte Duhalde: "Die Banken werden wieder öffnen müssen und Gott weis, was dann passieren wird. Banken können nicht ständig geschlossen sein. Es wäre absurd an ein kapitalistisches System ohne Banken zu denken."
Es mag absurd sein an ein kapitalistisches System ohne Banken zu denken, aber es ist genauso absurd an das Fortbestehen des gegenwärtigen globalen Systems zu glauben. Vielleicht ist das Realistischste, was man sich am Anfang dieses schon jetzt mit Krieg belasteten Jahrhunderts, vorstellen kann, ein System frei von Kapitalismus, eines ohne Banken, ohne Armut, ohne Verzweiflung, ein System, dessen Währungen Kreativität und Hoffnung sind, ein System, dass Zusammenarbeit statt Wettkamf belohnt, ein System, dass den Willen der Menschen über die Regeln des Markts stellt. Eines Tages werden wir vielleicht zurückschauen auf die Absurdität der Gegenwart und uns errinnern wie wir von den Menschen in Argentinien inspiriert wurden, das Unmögliche zu verlangen und wie sie uns einluden neue Welten zu bauen, die sich von unseren Nachbarschaften aus ausbreiteten.




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