Einleitungsredebeitrag

Liebe Demoteilnehmerinnen und Demoteilnehmer, geschätzte Polizistinnen und Polizisten, werte Presseverteterinnen und -verteter, sehr geehrte Wurznerinnen, Wurzner und Voyeure.

Wir sind Heute nicht hier, um uns als Vertreterinnen und Vertreter der Tourismusbranche, Sachgebiet antifaschistische Demonstrationen, ausnahmsweise mal in Wurzen zu treffen. Nein. Vielmehr gebietet es die Situation in Wurzen und im gesamten Muldentalkreis, durch unsere Anwesenheit ins öffentliche Blickfeld zu rücken, was jahrelang in nahezu ungestörter Eintracht gedeihen konnte. Die blühende Landschaft ostdeutscher Provinzen ließ die Neonazis in Wurzen zu den Prinzen der Provinzen werden. Unter der absolutistisch anmutenden Hoheit von Bürgermeister Anton Pausch werden die Neonazis in Wurzen seit 1991 hofiert und in ihren Machenschaften bestätigt. Der Öffentlichkeit scheint es entgangen zu sein, daß noch vor dem Pogrom in Hoyerswerda in Leisnig, nahe des Muldentalkreises, und kurz darauf in Wurzen selbst, der Beginn der Pogromwelle gegen Flüchtlinge und die für sie von staatlicher Seite eingerichteten Lager zu datieren ist.

Der Verweis auf diese Tatsache hat auch über den Fakt als solchen einen symbolischen Gehalt für die Realität in der Bundesrepublik Deutschland: Das Organisationsmodell der Muldentaler Neonazis ist in einem neuen Maße gesellschaftsfähig. Die Option, dem sozialpädagogischen Klischee "rechtsorientierter" Jugendlicher so zu entsprechen, daß damit Operationsfelder offen bleiben, die das "Stigma" Neonazi ins Leere laufen lassen, versetzt die Muldentaler Neonazis in die Lage, sich als Lobby der gesamten Muldentaler Jugend darzustellen und zu bestimmen, was "die" Muldentaler Jugend braucht und was nicht. Wo in anderen Landstrichen die Entwicklung der Nazi-Szene entweder noch nicht so weit gediehen ist oder andere Organisationsmodelle strenger Hierarchisierung nicht den gewünschten Effekt erzielten, wurde im Muldentalkreis und besonders in Wurzen, ganz bewußt auf jene Argumentationsmuster gezielt, die der Politik der Verantwortlichen im Muldentalkreis im großen und ganzen zugrunde liegen. Zu vermuten, diese seien großartig von den allgemeinen in der Bundesrepublik zu unterscheiden, ist ein schwerer Irrtum. Schließlich wird allerorten gleichlautend argumentiert, daß alles nur eine Frage des Phänomens "Gewalt" sei, die nur als "Hilfeschrei" beantwortbar wäre. Spätestens nach der staatlichen Instrumentalisierung der Neonazis zur de facto-Abschaffung des Asylrechtes in Deutschland beansprucht der Staat das Monopol auf Rassismus. Genannt seien hier als Stichworte nur das Staatsbürgerrecht, die Ausländergesetzgebung und das Schengener Abkommen. Dabei kommt es dem Staat nicht gelegen, daß der Rassismus der Stammtische - also des Volkes Maul - die Opferstatistik des täglichen staatlich reglementierten Rassismus nach oben addiert. Die zum Selbstmord getriebenen Flüchtlinge in den Abschiebelagern oder die in den Tod getriebenen an der Ostgrenze sind international schon Problem genug. Es ist deshalb von staatlicher Seite gewollt, Rassismus nicht beim Namen zu nennen, der eben auch, und das darf nicht vergessen werden, von "unten" diktiert wird.

Die angebliche Globalisierung der Märkte, die ja nicht mehr und nicht weniger ist, als der ungehemmte Kapitalfluß nach Wegfall des Ostblocks, baut auf den nationalen Konsens des deutschen Volkes, seinen Wirtschaftsstandort Deutschland nicht unnötig zu beflecken bzw. unbedingt rein zu waschen. Der für alle schmerzliche Abbau der Sozialleistungen ist den Deutschen Opfergang genug. Darüber täuscht auch nicht der punktuelle Widerstand gegen die prozentuale Minderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder ähnliches hinweg. Sozialpartnerschaft ist in Deutschland laut Sozialgesetzgebung ein Projekt, das hier lebende Menschen mit deutschem Paß eindeutig den Vorzug gibt.

In Wurzen sieht es in puncto Beförderung der Nazi-Szene chronologisch unter anderem so aus:
    1991 Überfall auf das Flüchlingsheim: Die Täter erhalten einen Jugendtreff, die Opfer müssen verschwinden.
    1994 Überfall auf portugiesische Bauarbeiter: Die Täter erhalten einen Jugendtreff, die Opfer müssen verschwinden.
    1995 Überfall auf das einzige alternative Wohnprojekt: Die Täter erhalten einen Jugendtreff, den Opfern wird alternatives Wohnen von kommunaler Seite untersagt.
Wie überall in Deutschland zeigen Öffentlichkeit und Verantwortliche Solidarität mit den Tätern. Herausragendes Beispiel ist derzeit der Lübecker Prozeß gegen Safwan Eid. Doch auch das aktuellste Beispiel vom 7. November in Grimma, der Kreisstadt des Muldentalkreises, illustriert eindeutig, um wessen Wohl es geht:

Drei jugendliche deutsche Rassisten stechen zwei Menschen aus der Türkei mit Messern nieder und verletzen einen dritten durch Schläge und Tritte. Prompt folgen O-Töne wie, die Jugendlichen Täter seien nicht ausgelastet, es fehlten ihnen die Ziele im Leben oder es müßte der Jugend mehr geboten werden.

Die Strategie der Nazis im Muldentalkreis hat sich diese Argumentationsreflexe zu eigen gemacht und stößt damit seit Jahren auf offene Ohren. Nur so konnte es ihnen gelingen, die jugendkulturelle Hegemonie im gesamten Muldentalkreis zu erringen. Es gelang ihnen, den Muldentalkreis zu ihrem Aufmarsch- und Rückzugsgebiet zugleich auszubauen. Aufmarsch auf der Straße, in den Schulen, in den Jugendtreffs und vor den Verantwortlichen. Rückzug ins traute Heim der familiären Geborgenheit und des Schutzes. Rückzug auf den Status angeblich engagierter, ordentlicher Jugendlicher, die nichts anderes wollen, als Lobby für die gesamte Muldentaler Jugend zu sein. Deshalb sprechen wir davon, daß der gesamte Muldentalkreis zu ihrem Zentrum geworden ist. Seit Jahren wird ihnen im Muldentalkreis auf den Leim gekrochen. Die wenigen, die sich dagegenstellten, wurden eingeschüchtert und mundtot gemacht oder direkt physisch angegriffen.

Die Demonstration soll denjenigen Mut machen, die bereit sind, sich gegen die Neonazis zu stellen. Sie soll deutlich machen, daß wir selbstgewählt auf der Seite der Opfer stehen, denen alleinig unsere Solidarität gehört. Es geht darum, mit dieser Demonstration antifaschistische Ansätze zu unterstützen, die der einzig gangbare Weg zur Zurückdrängung der Nazis sind. Diese Demonstration soll zeigen, daß antifaschistischer Widerstand auch überall dort möglich ist, wo sich die Neonazis anschicken, ähnliches wie im Muldentalkreis aufzubauen. Sie prangert gleichzeitig alle Verantwortlichen im Muldentalkreis und auf Landesebene an, die diese Situation mitzuverantworten und mitverschuldet haben. Wir fordern alle auf, die Aktivitäten der Neonazis nicht länger zu dulden und rechte Übergriffe nicht zu verschweigen und zu verharmlosen. Nicht diese Demonstration ist das Problem, sondern die Situation, die diese Demonstration dringend notwendig macht.

Bündnis gegen Rechts Leipzig

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