Fressen Ficken Fernsehen

"Leipzig erinnert an den Herbst '89" lautet das offizielle Motto der Feierlichkeiten der Stadt Leipzig. Die Stadt setzt dabei auf ein Image-Programm, das bewußt Geschichte festlegt. Für uns ist auch dies wieder Grund für einen kritischen Rückblick und eine Bewertung der Ereignisse '89 und der folgenden Jahre.

    10 Jahre danach

Entscheidende Motivation für unsere Intervention gegen diese Feierlichkeiten ist dabei allerdings nicht, daß sich die Herbstdemonstrationen und die Maueröffnung zum zehnten Mal jähren, sondern daß dies Anlaß zu Feierlichkeiten ist, die wir letztlich als Teil einer gesamtdeutschen Nachwendeentwicklung betrachten, in der im Einklang mit deutschen Weltmachtambitionen Nationalismus und Rassismus wieder heranreifen können und immer wieder der Versuch gestartet wird, unter die Auseinandersetzung mit der deutschen Judenvernichtung einen Schlußstrich zu ziehen. Wir selbst, heute in verschiedenen Leipziger außerparlamentarischen linksradikalen, antifaschistischen Gruppierungen und Projekten wie dem Bündnis gegen Rechts aktiv, sehen uns teilweise in der Tradition derjenigen, die sich schon zu DDR-Zeiten gegen Staatssozialismus einerseits und Kapitalismus andererseits positionierten. Das heißt auch, daß wir uns positiv auf all jene beziehen, die den Prozeß der Proteste einleiteten und auf die Straße trugen, allerdings dann gewaltsam aus den Demos gedrängt wurden, weil sie sich gegen den nationalistisch-großdeutschen Taumel aussprachen. Unsere Betrachtungen der Wendeereignisse und der daraus resultierenden Ergebnissen sollen eben mehr erfassen als einen "Demokratisierungsprozeß". Die Sicht auf die Ereignisse muß sich verbreitern, denn Leipzig ist darin nur ein Teil, eingebettet in den Kontext: Maueröffnung - Wiedervereinigung 1990 - Martin Walsers "Auschwitzkeule" - die Balkanpolitik der deutschen Bundesregierung. Für uns ein Zusammenhang und kein Grund für Feierlichkeiten.

    10 Jahre davor

Leipzig war ein Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die die Verhältnisse in der DDR grundlegend veränderten. Als damals Tausende von Menschen protestierten - nachdem der überwiegende Teil der DDR-Bevölkerung das DDR-System jahrzehntelang getragen hatte - wandelte sich die durchaus demokratische Forderung "Wir sind das Volk" innerhalb von wenigen Wochen in die nationalistische Parole "Wir sind ein Volk". Im Schwarz-Rot-Goldenen Fahnenmeer war für die Mehrheit der ostdeutschen Gesellschaft das Ziel Wiedervereinigung klar. Eine gesellschaftliche Alternative dazu war spätestens im Frühjahr 1990 nicht mehr denkbar. Beim Betrachten der folgenden 10 Jahre und deren Ergebnisse stellt sich heute fast noch zwingender die Frage, woraus sich 1989 Forderungen formulierten. War es tatsächlich ein Streben nach einer Demokratisierung der Verhältnisse in der DDR? War es ein Ablehnen der Überwachungsmethoden der Staatssicherheit? Ein Protestieren gegen die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze?
Angesichts der Debatte und der Gesetzgebung um den sogenannten "Großen Lauschangriff", der Sicherheits- und Überwachungsverhältnisse in Einkaufsmärkten und Innenstädten und der bundesdeutschen Abschiebepraxis bzw. der menschenunwürdigen Grenzüberwachung an den EU Außengrenzen bleibt eine Antwort offen. Oder kommen wir am Ende zu der Erkenntnis, daß es ein Streben von Konsumenten und Konsumentinnen war, die ihren Stolz auf Deutschland in der Deutschen Mark verkörpert sehen wollten?

    Ein Volk

1990 - parallel zur Wiedervereinigung - setzte in der BRD eine Welle von rassistischen Übergriffen auf Migranten und Migrantinnen ein, in deren Folge weit über 100 (!) Menschen starben. Dabei heizten deutsche Politiker und Politikerinnen mit rassistischen Forderungen zur Verschärfung der Asylgesetz-gebung die Stimmung an. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Magdeburg sind hierbei Sinnbilder und Konsequenz der nationalistisch deutschen "Blut und Boden"-Forderung "Wir sind ein Volk". 1993 wurde das Asylgesetz vom deutschen Bundestag als zynische Antwort auf die Übergriffe verschärft. Die Folge war eine weitere Verschlechterung der Lebensverhältnisse der hier lebenden Migranten und Migrantinnen und die faktische Unmöglichkeit, in der BRD Asyl zu bekommen und zu behalten.
10 Jahre Nachwende bzw. 9 Jahre wiedervereinigtes Deutschland ist eine Epoche, in der sich die deutsche Gesellschaft normalisiert sehen will. Ein wiedervereinigtes Deutschland sollte nach über 50 Jahren Holocaust die Vergangenheit vergessen und Platz nehmen in der "zivilisierten Welt". Martin Walsers "Auschwitzkeule" war Mitte 1998 dabei ein bitterer Höhepunkt des deutschen Normalisierungsprozesses. Auch der Ex 68er Joschka Fischer brachte seinen Beitrag zur Normalisierung: Als Außenminister entwickelt er in Interviews aus der deutschen Vergangenheit eine Stärke, verglich die "ethnische Säuberung" im Kosovo mit dem Holocaust und rechtfertigte damit den deutschen Militäreinsatz auf dem Balkan als eine deutsche Pflicht.

    Grenzen

Die zu Recht damals kritisierten Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze werden heute stillschweigend an den EU-Außengrenzen hingenommen. Heute ist es für Flüchtlinge fast unmöglich, in der BRD Asyl zu bekommen. Das Schengener Abkommen, das unter besonderer Federführung der Bundesregierung zustande kam, regelt genau und auf menschenver-achtende Weise die Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Von Usedom bis Bayern wird mit deutscher Gründlichkeit die europäische Außengrenze überwacht. Der Tod wird dabei vom Bundesgrenzschutz und anderen staatlichen Behörden billigend in Kauf genommen. Und tatsächlich starben in den 10 Jahren mehr Menschen an der deutschen EU-Außengrenze als an der innerdeutschen Grenze zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Gesellschaft entwickelt nur wenig Verständnis für Menschen auf der Flucht. Sie empfindet das von außen Kommende als Gefahr. Denunziation im Grenzgebiet und Übergriffe auf Flüchtlinge sind im wiedervereinigten Deutschland Alltag. Ausdruck findet das rassistische Verhalten auch in deutschen Wortlauten: So sind Äußerungen, wie "Das Boot ist voll" und "Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze" wohl nur zwei von vielen.
Und: Sprach man z.B. vor 1989 von Fluchthelfern und galt ein Herausholen von Menschen aus dem Ostblock als ehrbar, so nennt man Fluchthelfer an der deutsch-polnischen Grenze heute "kriminelle Schleuser" ("Schleuserbanden").

    Welt

Die Ereignisse 1989 waren nur ein Teil, die DDR befand sich in einem Strom zahlreicher anderer sogenannter Ostblockstaaten, bei denen ein Konzept, eine praktische Alternative zum kapitalistischen Verwertungsprinzip zu entwickeln, scheiterte. Es kann für uns nicht darum gehen, die Verhältnisse in den Ostblockstaaten hochzuhalten, doch müssen wir festhalten, daß der Blöckekonflikt bzw. das Bestehen einer ernstzunehmenden Alternative zum Kapitalismus einigen Länder, besonders im Trikont, eine Verbesserung ihrer Situationen brachte. Und weiter bleibt zu erkennen, daß sich mit dem Ende des Blöckekonfliktes auch der Status Quo aufgelöst hat.
Heute sehen wir uns mit einer neuen Situation konfrontiert. Mit dem Ende der Nachkriegsordnung, wofür das Symbol 1989 explizit steht, haben Errungenschaften wie die UNO längst ihre Legitimation verloren. Sie erscheinen heute nur noch als weltgemein-schaftliches Feigenblatt zur Funktionalisierung der Menschenrechte laut UNO-Charta. Eine Änderung der Doktrin der NATO, die erst vor wenigen Monaten erfolgte und in der festgeschrieben wurde, daß selbst der UN-Sicherheitsrat faktisch für die Entscheidung der NATO unerheblich ist (siehe Koso-vo), wäre beispielsweise zu Zeiten, als der Warschauer Vertrag militärisches Pendant und Regulativ war, undenkbar gewesen.
Die BRD wie auch andere Länder wurden und werden derzeit auf einen neuen Kurs gebracht. Die sozialen Systeme in den europäischen Ländern werden von den Regierungen massiv beschnitten, notwendige Leistungen des Staates drastisch gekürzt - die Maxime heißt heute noch stärker: Ökonomie. Hierbei wird unter dem Begriff der Dienstleistungsgesellschaft alles einer kapitalistischen Verwertungslogik untergeordnet. Gesellschaftlich soziale Regulative sind im zukünftigen Markt unerwünscht. Die jetzige Gesellschaft ist und wird zukünftig nicht in der Lage sein, die weltweiten Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Prinzips zu beseitigen. Die Bitterkeit dabei ist, daß die Mehrheit der Bevölkerung dies hinnimmt und kaum noch jemand Alternativen, als Lösung der weltweiten Probleme, denkt.

AG neunundachtzig beim Bündnis gegen Rechts Leipzig

Seitenanfang Startseite