Süddeutsche Zeitung, 09.09.1999

Gewichtung und Wahrheit
Kurdenausschuss: Der Chef des Bundesverfassungsschutzes belastet den Innensenator - was wußte Werthebach wirklich?

Von Philip Grassmann

Der Berliner Innensenator Eckart Werthebach (CDU) gerät wegen der Erstürmung des israelischen Generalkonsulats vom vergangenen Februar immer stärker unter Druck. Werthebach hatte nach dem Vorfall, bei dem vier Kurden von israelischen Sicherheitsbeamten erschossen worden waren, mehrfach behauptet, dass die geringe Sicherung des Gebäudes auf eine Information des Bundesamtes für Verfassungsschutz zurückgehe. Auf einer Rangliste, die auf ein Telefonat zwischen dem Chef des Bundesamtes, Peter Frisch, und dem Berliner Verfassungschutzchef Eduard Vermander zurückgegangen sei, habe die israelische Einrichtung weit unten gestanden. Deshalb habe man andere Objekte, darunter die US-Botschaft, mit einer Hundertschaft Polizisten gesichert. Vor dem israelischen Generalkonsulat wurden lediglich drei Beamte postiert.

Frisch widersprach gestern vor dem Kurden-Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses dieser Darstellung. Der Ausschussvorsitzende, Wolfgang Wieland, sagte nach der nichtöffentlichen Sitzung: "Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat dem Landesamt keine Prioritätenliste übermittelt. Das hat Herr Frisch bestätigt." Die Version des Innensenators sei damit zusammengebrochen. Seine Äußerungen müsse man als Schutzbehauptung werten. Die Prioritätenliste gehe vielmehr auf den Leiter des Berliner Staatsschutzes, Peter Michael Haeberer zurück. Wieland warf dem Innensenator Vertuschung und Verschleierung vor.

Der Grünen-Politiker sagte weiter, Frisch habe in seiner Zeugenaussage auch erklärt, dass in dem Telefongespräch mit Vermander von Israel nicht die Rede gewesen sei. Man habe lediglich über die Lage in den einzelnen Ländern gesprochen. Es müsse nun überlegt werden, ob Werthebach nicht noch einmal vor den Ausschuss geladen werden müsse, um die Widersprüche aufzuklären.

Zusätzliche Brisanz erhält die Aussage Frischs durch die Vernichtung des ursprünglichen Vermerks über das Telefonat, der anschließend durch eine zweite Version ersetzt wurde. In dem ersten Schriftstück war die jetzt von Frisch bestätigte Version vom Landesverfassungsschutzchef Vermander niedergeschrieben worden. Die zweite Version entsprach dagegen den Angaben des Innensenators.

Die Notiz wurde auf Betreiben des Abteilungsleiters in der Innenverwaltung, Axel Dechamps, ausgetauscht und vernichtet. Er ist in der Behörde für den Verfassungsschutz zuständig. Auch Dechamps sagte gestern vor dem Untersuchungsausschuss aus: Ihm sei ein Widerspruch zwischen dem ersten Vermerk und der Rangliste des Berliner Staatsschutzes aufgefallen. Dazu beigetragen haben auch die Äußerungen des Innensenators vor dem Innenausschuss am 22. Februar. Werthebach hatte sich dort zum ersten Mal auf eine Rangliste berufen. Er habe deshalb Vermander auf die Ungereimtheiten aufmerksam gemacht. Man sei sich einig gewesen, dass es sich offenbar um ein Missverständnis gehandelt habe. "Eine missverständliche Formulierung wurde durch eine verständliche ersetzt", sagte er. Nach seiner Ansicht habe man den Inhalt des alten Vermerks in der neuen Version nicht verändert. "Ich habe es nicht kompatibel, sondern verständlich gemacht", erklärte er. Auch in der Vernichtung des ursprünglichen Schriftstücks konnte Dechamps nichts Ungewöhnliches entdecken. Da es sich nicht um ein inhaltlich neues Dokument gehandelt habe, sei es auch nicht notwendig gewesen, die alte Version zu dokumentieren. "Es gab keinen Grund, den alten Vermerk aufzubewahren", sagte Dechamps. Er habe das Schriftstück eigenhändig zerrissen.

Weder habe der Innensenator das Dokument gesehen, noch sei der CDU-Politiker von den Vorgängen informiert worden, sagte Dechamps. "Das war eine Sache zwischen Vermander und mir." Auch nachträglich habe er weder mit Werthebach noch mit dem Innenstaatssekretär Kuno Böse über den Austausch der Vermerke besprochen.

Von dem Versuch, auch die Kopien des Originals zu vernichten, habe er nichts gewusst, sagte Dechamps. Davon habe er erst aus den Zeitungen erfahren. Nur weil der stellvertretende Leiter des Berliner Verfassungsschutzes sich geweigert hatte, die Kopie an seinen Chef herauszugeben, sind die beiden unterschiedlichen Versionen überhaupt bekannt geworden. Eine zweite Kopie, die von einem Abteilungsleiter des Berliner Verfassungsschutzes aufbewahrt worden war, wurde dagegen vernichtet. Müller ist inzwischen versetzt worden. Er ist nun Berliner Geheimdienstkoordinator.

Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Wieland kündigte erneut an, er werde Strafanzeige wegen der Aktenvernichtung gegen den Leiter des Landesverfassungsschutzes stellen.

Im Zusammenhang mit dem Sturm von Kurden auf das israelische Konsulat ist unterdessen ein 35-jähriger Kurde zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Er habe versucht, mit einem Holzstab auf einen Polizisten einzuschlagen.