Süddeutsche Zeitung, 08.09.1999

Die Akten und die Toten

Vier erschossene Kurden, ein gestürmtes Konsulat und ein mysteriöser Geheimdienst-Vermerk

Von Philip Grassmann

Wenige Wochen, bevor der Kurden-Ausschuss seine Arbeit mit dem Ablauf der Legislaturperiode beenden muss, gibt es nun doch noch einen Skandal: Im Landesamt für Verfassungsschutz wurde ein Vermerk vernichtet, der zumindest aus Sicht der Grünen wesentlich zur Aufklärung der Erstürmung des israelischen Konsulats im vergangenen Februar beitragen könnte. Er wurde durch einen neuen Vermerk ersetzt.

Bislang gab es bei der parlamentarischen Untersuchung nur routinemäßige Zeugenaussagen. Innensenator Eckart Werthebach (CDU) schob die Verantwortung für den Vorfall, bei dem vier Kurden von israelischen Sicherheitsbeamten erschossen worden waren, auf die Bundesbehörden und auf die Israelis. Die Polizei sah keinen Grund, Selbstkritik wegen des dilettantisch geplanten Einsatzes zu üben und die CDU suchte die Hauptschuldigen in der kurdischen Arbeiterpartei PKK.

In dem gelöschten Vermerk geht es um die Einschätzung der Gefährdung verschiedener Einrichtungen in der Hauptstadt durch Aktionen der PKK nach der Festnahme ihres Vorsitzenden Öcalan. Innensenator Werthebach hatte stets darauf beharrt, dass es eine Prioritätenliste des Bundes gegeben habe, auf der das israelische Konsulat weit hinten rangiert habe. Nur drei Beamte hatten darum das Gebäude gesichert und waren von den angreifenden Kurden überrannt worden.

In dem Originalvermerk über ein Telefonat zwischen dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch, und dem Chef des Landesamtes Eduard Vermander war von dieser Prioritätenliste dagegen keine Rede. Es ging lediglich allgemein darum, welche Institutionen gefährdet waren. Die Folge: Die Verantwortung für die Fehleinschätzung der Gefahr läge bei den Berliner Behörden. Der Vermerk wurde dann vernichtet und durch einen zweiten ersetzt, der den Ausführungen des Innensenators entsprach.

Nach Angaben des Ausschussvorsitzenden, Wolfgang Wieland (Grüne), war es nur dem Vizeleiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, Klaus Müller, zu verdanken, dass eine Kopie des Originals erhalten blieb. Müller habe sich der Anweisung widersetzt, das Dokument in den Reißwolf zu geben. Wieland will heute Strafanzeige gegen den Chef des Landesverfassungsschutzes stellen.

Während Innensenator Werthebach erklärte, "die ganze Geschichte wird wie ein Luftballon zerplatzen", passt der Skandal den Grünen gut in ihr Wahlkampfkonzept. Die Spitzenkandidatin Renate Künast forderte bereits, Vermander in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. "Den desolaten Zustand des Amtes und den Versuch der Irreführung des Parlaments hat der Amtsleiter zu verantworten", sagte sie.

Für zusätzliche Aufregung sorgte die Versetzung von Vize-Chef Klaus Müller. Er ist seit Montag Geheimdienstkoordinator in Berlin. Die Grünen sehen darin eine Strafversetzung für einen unliebsamen Beamten. Künast sagte, auch in einem anderen Fall habe die Beharrlichkeit Müllers dazu geführt, dass ein Skandal an den Landesverfassungsschützern hängenblieb. Im Sommer 1998 hatte ein V-Mann den damaligen Polizeidirektor Otto D. beschuldigt, Mitglied der Scientology-Organisation zu sein. Künast sagte, während Vermander von der Schuld des Beamten überzeugt gewesen sei, habe Müller dafür gesorgt, das die Behauptungen des V-Mannes überprüft - und widerlegt wurden. Der damalige Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) musste sich daraufhin öffentlich bei seinem Spitzenbeamten entschuldigen. "Das hatte für Müller Folgen. Er wurde geschnitten und nicht mehr zu Besprechungen und Ausschusssitzungen mitgenommen", sagte Künast.

Die Grünen-Politikerin betonte, es gebe darüber hinaus gar keinen Bedarf für einen Berliner Geheimdienstkoordinator. Die Aufgaben von Bundesnachrichtendienst und Bundesverfassungsschutz seien klar voneinander abgegrenzt, ein Informationsaustausch der Behörden könne untereinander erfolgen, dazu brauche man keine neue Dienststelle. Auch Müller will seine Versetzung nicht hinnehmen und bereitet eine Klage.

Schon heute könnte sich herausstellen, ob der Vermerk wirklich gefälscht wurde. Vor dem Untersuchungsausschuss wird der Präsident des Bundesverfassungsschutzes aussagen. Er muss dann auch zu dem Telefonat mit Verfasungsschutz-Chef Vermander Stellung nehmen. Unangenehm wird es auf jeden Fall. Entweder, es gab die Prioritätenliste; dann hätte die Bundesbehörde die Situation falsch eingeschätzt. Oder es gab sie nicht - dann wäre der Verfassungsschutz-Chef Vermander vom Verfassungsschutz-Chef Frisch desavouiert.