junge Welt, 01.09.1999

Kurden-Prozeß: Lügen Polizisten?
Notstand bei der Berliner Festnahmetruppe: Es fehlen Handschellen.

jW-Bericht

Der Prozeß gegen den Kurden Süleyman A., der sich vor dem Berliner Landgericht wegen der Teilnahme an der »Erstürmung« des israelischen Konsulats im Berliner Bezirk Wilmersdorf im Februar zu verantworten hat, scheint sich mehr und mehr gegen die Polizisten zu wenden, die den Angeklagten schwer belasten. Die Aussagen der Polizisten stehen in krassem Widerspruch zu einer dem Gericht vorliegenden Videoaufnahme. Am Dienstag hatten die Polizeibeamten nun eine verblüffende Erklärung für die unauflöslich scheinende Diskrepanz zwischen Videoaufnahme und Polizistenaussage.

Die beiden Polizisten haben ausgesagt, daß der Angeklagte auf die jetzt als Zeugen vor Gericht aussagenden Polizisten mit einem Holzknüppel losgegangen sein soll. Polizeihauptmeister M. und Polizeiobermeisterin S. sind sich sicher, Süleyman A. wiederzuerkennen, da sie ihn einige Zeit später selbst verhaftet haben wollen. Im weiteren Verlauf des Prozesses spielte eine der Polizeivideoaufnahmen, auf der die Verhaftung Süleyman A.s zweifelsfrei zu erkennen ist, eine entscheidende Rolle. Der Haken bei der Sache: Diese Verhaftung hatten andere Polizisten vorgenommen. Die belastenden Aussagen der beiden Polizisten von der 23. Hundertschaft können demnach nicht richtig sein.

Überraschend mit einem Foto von dem Polizeivideo konfrontiert, blieb die Beamtin S., die sich im Zuschauerraum aufhielt, in der vergangenen Woche dennoch bei ihrer Aussage: »Wir haben ihn hundertprozentig festgenommen«.

Da gab es nun kein Zurück mehr: Am Dienstag wurde die Polizistin mit der gesamten Videoaufnahme konfrontiert und hatte sich eine verblüffende Erklärung zurechtgelegt. Wenn, woran kein Zweifel bestehen könne, der Angeklagte wenige Minuten nach der ersten Festnahme durch sie, die Polizeibeamtin S. erneut verhaftet worden sei, dann müsse er eben zwischendurch wieder frei gekommen sein.

Zur Untermauerung ihrer Geschichte erzählte die eifrige Polizistin, daß sie sich vor der Verhandlung noch einmal über die Umstände des Einsatzes vor dem Konsulat erkundigt hatte. Dabei will sie nun erfahren haben, daß an dem fraglichem Tag bei der Polizei Handschellenmangel herrschte. Wahrscheinlich sei der Angeklagte, nachdem sie ihn auf einer Sammelstelle »abgelegt« habe, deshalb von einem anderen Kollegen wieder befreit worden.

Gegenüber jW widersprach die Anwältin des Angeklagten, Silke Studzinsky, dieser Version: Zu dem fraglichen Zeitpunkt habe es am Einsatzort deutlich mehr Polizisten als Verhaftete gegeben; es sei aber davon auszugehen, daß jeder Polizist zumindest ein Paar Handschellen bei sich trage - von Plastikhandschellen einmal ganz abgesehen. Zudem müsse aufgrund der eindeutig dokumentierten Zeitabläufe der Angeklagte zweimal innerhalb von vier Minuten verhaftet worden sein - olympiaverdächtig.

Bei der Demonstration vor dem israelischen Konsulat im Zusammenhang mit der Öcalan-Entführung im Februar diesen Jahres waren vier kurdische Demonstranten durch Schüsse israelischer Wachbeamter tödlich verletzt worden. Die Anwältin wies gegenüber jW darauf hin, daß es sich bei der 23. Hundertschaft der Berliner Polizei um eine kasernierte Truppe handelt, die immer wieder zu besonderen Einsätzen herangezogen werde, insbesondere zu Festnahmen. Dabei sei es schon oft zu abgesprochen erscheinenden Aussagen der Beamten gekommen.

(Siehe dazu auch Interview)

junge Welt Interview 01.09.1999

Was ist die 23. Berliner Polizeihundertschaft?
jW fragte Freke Over, innenpolitischer Sprecher der Berliner PDS im Abgeordnetenhaus

F: Was wissen Sie über die 23. Berliner Polizeihundertschaft?

Die 23. Einsatzhundertschaft ist ein Zug der zweiten Bereitschaftspolizeiabteilung und in den letzten Jahren häufig unangenehm aufgefallen. Bei Einsätzen außerhalb von Berlin war es oft so, daß sich Länderpolizeien über die Berliner Beamten, vor allem über die 23. Einsatzhundertschaft, beschwerten, weil sie übergriffig war, weil von Beamten Straftaten begangen wurden.

Es gibt inzwischen selbst eine große Anzahl von Anzeigen Berliner Beamter der Schutzpolizei gegen Beamte der 23. Einsatzhundertschaft. Am 1. Mai war es auch die 23., die das Deeskalationskonzept der Polizei unterlief und damit die Krawalle auslöste. Bei allen Ermittlungen gegen die 23. kam es bislang zu einer kompletten kollektiven Amnesie der 23er Kollegen, wenn es um die Straftaten geht. Obwohl klare Hinweise und Beweismittel gegen Beamte der 23. vorlagen, sind so die Straftaten mehrfach nicht personenkonkret zuzuordnen gewesen, wodurch auch keine strafrechtliche Verfolgung stattfand. Das letzte Mal fiel die 23. Anfang August dadurch auf, daß sie in der Rigaer Straße in Berlin- Friedrichshain sieben Schwerverletzte, darunter völlig unbeteiligte Passanten, produzierte, nachdem eine Streitigkeit schon seit Stunden aufgelöst war. Wenn die 23. auftaucht, kommt es üblicherweise zu Übergriffen und Straftaten. Ich habe stets die Auflösung der 23. gefordert. Selbst Vertreter der SPD sagen, daß die Einheit völlig aus dem Ruder läuft.

F: Polizei in der Polizei?

Sie ist eher die Prügelgarde in der Polizei, die zum Teil auch auf großes Unverständnis bei den Polizisten selbst trifft. Von den vielen einfachen Beamten, die häufiger in den Genuß kommen, die Einsätze der 23er-Kollegen zu erleben, hört man immer starke Mißtöne nach dem Motto: Daß wir hier so einen schlechten Ruf haben, haben wir denen zu verdanken.

F: Wer verfügt über die Einheit?

Die kann einfach angefordert werden im Rahmen der Bereitschaft. Es gab in Berlin schon Einheiten, die auch unangenehm auffielen und dann aufgelöst wurden. Z. B. die Einheit für besondere Lagen, die u. a. in Wackersdorf so massiv Journalisten verletzte, daß sie dann aufgelöst wurde. Die Beamten blieben bei der Berliner Polizei, und einige von ihnen finden sich eben auch in der 23. Trotzdem: Die 23. muß endlich aufgelöst werden!

Interview: Jana Muth