junge welt, 04.09.1999

Zwei Festnahmen in vier Minuten?
Prozeß gegen Kurden vor dem Berliner Landgericht fortgesetzt.
Von Peter Murakami

Auch am vierten Verhandlungstag gegen Süleyman A. wegen Landfriedensbruchs vor dem Berliner Landgericht konnten die Widersprüche zwischen den Zeugenaussagen der beteiligten Polizisten und den Videoaufzeichnungen nicht geklärt werden. Die Staatsanwaltschaft bezichtigt den 23jährigen Kurden im Zusammenhang mit den Protesten anläßlich der Festnahme von Abdullah Öcalan, auf dem Gelände der israelischen Botschaft mit einer Holzlatte auf Polizeibeamte eingeprügelt zu haben. Der Behauptung einer Polizistin, die an einem der vergangenen Verhandlungstage ausgesagt hatte, sie habe Süleyman A. festgenommen, scheinen Polizeivideos klar zu widersprechen.

Deshalb dreht sich der Prozeß im Augenblick darum, ob es möglich ist, daß Süleyman A. in weniger als vier Minuten festgenommen und zu einer Gefangenensammelstelle gebracht werden konnte, um zu entkommen und gleich darauf von einer anderen Polizeieinheit erneut festgenommen zu werden.

Das behauptet am Freitag auch ein 36jähriger Polizist, der als Zugführer zur Botschaft abkommandiert worden war. Nachdem sich der Beamte über die Gewaltbereitschaft von Europäern und »kurdischen Nichteuropäern« im Allgemeinen ausgelassen hatte (»die sind wutmäßig ruckzuck oben und dann wieder unten ...«), erzählte er dem Richter, daß man dem zuvor festgenommenen Kurden möglicherweise aus Nachsicht die Handschellen abgenommen habe.

Das war selbst für den Vorsitzenden Richter Walter Neuhaus nicht nachvollziehbar. »Da greift jemand eine Kollegin von Ihnen an und nur vier Minuten später nehmen Sie ihm die Fesseln wieder ab? Da hab' ich dran zu knacken ...«, sagte der Richter. »Die Kollegen von der 12. Einsatzhundertschaft wußten ja nicht, daß Herr A. vorher mit einer Latte auf die Kollegin eingeschlagen hatte«, erwiderte der Polizist spitzfindig.

Dem widerspricht allerdings die Videoaufzeichnung der Polizei vom Ablauf der Botschaftsbesetzung. Auf dem Video ist deutlich zu sehen, daß Süleyman A. einen der verletzten Kurden aus dem Botschaftsgebäude bringt. Unmittelbar darauf müßte er von den beiden Hauptzeugen, den Polizisten Sch. und M. festgenommen und gefesselt, kurz darauf von den Beamten der 12. Einsatzhundertschaft entfesselt und gleich darauf, nach vorhergegangener Flucht erneut gefesselt worden sein. Aufgrund der kurzen Zeitspanne ein eher unwahrscheinlicher Vorgang, den zu debattieren auch der Vorsitzende als »müßig« bezeichnete.

Warum er dann nicht die Konsequenz zieht und das Verfahren einstellen läßt, wo die juristischen Grundlagen dermaßen fragwürdig sind, ist kaum noch nachzuvollziehen. Zumal die Justiz bei diesem und den anderen zu erwartenden rund zwanzig Prozessen aus dem Auge zu verlieren scheint, daß die angeklagten Kurden nicht Täter, sondern Opfer sind. Opfer von einigen schießwütigen Bodyguards mit israelischem Diplomatenstatus, die selbst nach Ansicht der Staatsanwaltschaft den »Notwehr«-Begriff sehr weit ausgelegt haben, als sie auf wehrlose Kurden schossen.

Der Prozeß wird am Freitag kommender Woche fortgesetzt.