Der Antikommunismus war schon immer ein Klotz am Bein des Anarchismus!
Die Hamburger Zeitung "Alarm" der Freien Sozialisten-Anarchisten (1919-1922)
 

In der Folge der revolutionären Erhebungen 1918/19 erhöhten sich die Mitgliedszahlen aller linken Gruppierungen. Der Vielzahl der politischen Auffassungen jener Zeit entsprach eine kaum überschaubare Zahl revolutionären Zeitungen. In Hamburg erschien der "Alarm", herausgegeben von Carl Langer. Der Alarm und die mit ihm verbundenen Freien Sozialisten-Anarchisten vertraten syndikalistische Positionen, d.h. die Organisierung der RevolutionärInnen sollte ausschließlich auf betrieblicher oder Branchen-Ebene stattfinden. Hierdurch wurde der ökonomische Kampf in den Vordergrund gerückt. Im Gegensatz zu den UnionistInnen wurde eine darüber hinaus wirkende politische Organisierung, wie sie z.B. die Parteien aber auch andere Organisationen darstellten, abgelehnt.

Diesem Artikel liegt die Fragestellung zugrunde, wie sich AnarchistInnen zu KommunistInnen verhielten. Im Vorgriff sei gesagt, daß der heutige Anarchismus, der zu einem erheblichen Teil von antikommunistischen Impulsen und Vorurteilen geprägt ist, sich bedauerlicherweise auf eine lange Tradition berufen kann. Zwischen 1919 und 1920, dies zeigt die Entwicklung des Alarm, differenzierten sich die unterschiedlichen politischen Tendenzen auch im Linksradikalismus aus. Während im Gefolge der Unruhen nach 1918 noch eine allgemeine Zusammenarbeit aller RevolutionärInnen stattfand und sich die verschiedenen Richtungen, die sich später aufs heftigste befehden sollten, erst herauszuschälen begannen, läßt sich für die Folgejahre eine immer rigidere Abgrenzung der einzelnen Strömungen voneinander feststellen. Diese Entwicklung soll im folgenden beispielhaft dargestellt werden. Als schwierig für die Darstellung und Bewertung erwies es sich, daß im Alarm kaum diskutiert wurde und somit Differenzen kaum einmal das Niveau des einander Beschimpfens verließen. Es gibt wenig Beispiele für Zusammenarbeit oder auch für die begründete Ablehnung einer solchen. Ein Beispiel für den Prozeß der Abgrenzung von KommunistInnen und AnarchistInnen ist die Thematisierung der russischen Revolution im Alarm. Auf die anfängliche Begeisterung folgte bald eine Ernüchterung, die aber noch zur kritischen Solidarität gegen die Imperialisten aufzurufen erlaubte. Die Erdrosselung der ukrainischen anarchistischen Bewegung um Nestor Machno, die zuvor die weißen Truppen gemeinsam mit der Roten Armee niedergeschlagen hatte, stellte sodann den emotional nachvollziehbaren, aber politisch fatalen Bruch mit dem revolutionären Rußland dar.

Der Alarm begann mit dem Jahr 1919, die letzte Ausgabe erschien Mitte 1922. Ende 1919 war der Alarm 4 Monate lang per staatlicher Verordnung verboten. Mit einem gewissen Stolz wurde dies künftig auf dem Titellogo vermerkt. In immer wiederkehrenden, mäßig interessanten Beiträgen zu Themen wie "Was ist eigentlich Anarchie?" oder "Ausbruch der Weltrevolution?" zeigte sich der vorwiegend agitatorische Charakter der Zeitung, tiefergehende Auseinandersetzungen, z.B. um das politische Vorgehen, fanden nicht statt.
 

Diktatur des Proletariats und Beendigung des Bruderzwistes

"Aufruf für die Diktatur des Proletariats [...] die Erkämpfung der Diktatur des ewig entrechteten Proletariats zur Herbeiführung der kommunistischen Weltordnung. [...] Wenn leidenschaftliche Einmütigkeit und Verbrüderung hier alles ist, wie können dann die, welche sie wollen, Brudermord üben? Wenn das gesamte Proletariat aller Länder sich in einheitlichem Willen vereinigen soll, um zum Ziel zu kommen, wie können wir dann im Bruderzwist und in der lieblosen Zersplitterung schon in Berlin unser gemeinsames Ziel erreichen?" (Alarm 1/1919) Die positive Verwendung der Begriffe "Diktatur des Proletariats" und "kommunistische Weltordnung" deutet auf den zu dieser Zeit noch vorhandenen Blick auf die revolutionäre Bewegung als ein Gemeinsames der Linken. Veränderungen in der Auffassung der Alarm-AnarchistInnen zeigten sich auch darin, daß diese Begriffe sukzessive verschwanden bzw. ihre positive Wertung einbüßten. Die Aufforderung zum Zusammenhalt der RevolutionärInnen war hier eindeutig formuliert und ließ keine Einschränkungen zu - auch dies wird sich später ändern, wenn beispielsweise die Einheit unter anarchistischem Banner verlangt wurde. Ganz ähnlich auch in der Nr. 4/1919 unter der Überschrift "Ausbruch der Weltrevolution?": "[...] Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und alle die ihr Freunde der Freiheit, wahrer Freiheit, sein wollt, stellt euch brüderlich in Reih' und Glied und marschiert geschlossen gegen die Reaktion, gegen den immer frecher werdenden Kapitalismus." Beim ersten Mal, als die Freien Sozialisten-Anarchisten im Alarm auftauchten, geschah dies mit dem Aufruf: "Revolutionäre, Sozialisten, Anarchisten schließt euch zusammen, eint euch zum Kampfe gegen den Rückschritt!" (23/1919).

Die Atmosphäre des Aufbruchs und die Vielfalt der politischen Auffassungen - oder negativ formuliert: das Durcheinander und die politische Unklarheit - soll stellvertretend durch einen Hauptmann a.D. Beerfelde dokumentiert werden, der seinen Artikel auch als Flugschrift im Berliner Januar-Aufstand verteilte: "Das Ziel aber ist die seelische Erlösung, die ganz allein auch ihren wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg in ungeahnter Weise ermöglicht und zur Vollendung bringt." (1/1919) Der Alarm war an und für sich überhaupt nicht offen für andere als die eigene Meinung. Die einzige Ausnahme waren seltsamerweise individualanarchistische Anschauungen (z.B. wurde geäußert, daß die geforderte Gleichheit aller Menschen abzulehnen sei, da sie der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit widerpreche), die so gar nicht zu der kommunistisch-anarchistischen Ausrichtung des Alarm paßten. Allerdings waren die Ziele des Alarm häufig unklar formuliert: "Eine natürliche Ordnung auf freier Vereinbarung und gegenseitiger Hilfe, das ist das Ideal für das der 'Alarm' kämpft." Diese Ungenauigkeit des Ausdrucks - denn was ist eine "natürliche Ordnung", was sind "freie Vereinbarung" und "gegenseitige Hilfe"? - ist typisch für die Zeitung. Sie ermöglichte es, daß, wenn auch nur als gelegentliche 'Gäste', IndividualanarchistInnen, d.h. AntisozialistInnen, neben exponierten VertreterInnen des revolutionären Anarchismus wie Peter Kropotkin im Alarm veröffentlichten. Das Selbstverständnis gegenüber nichtanarchistischen Strömungen resultierte zu diesem Zeitpunkt aus der Ablehnung von Parteien, die generell als Unterordnung der Einzelnen unter einen zentralisierten Zwangswillen gesehen wurden. "Nicht Sklave des Staates will ich sein, doch auch nicht Sklave der Partei!" (16/1919)

Daß die revolutionäre Linke zunehmend auf Ausgrenzung setzte, schlug sich auch in Alarm-Artikeln nieder. Ihre Aufrufe zur Zusammenarbeit aller, die sie noch immer vertrat, klangen eindringlicher, ein Stück weit auch verzweifelter. Der historische Hintergrund ist der Sieg der Reaktion auf der ganzen Linie, die nunmehr, da sie wieder zu Stärke gekommen war, die Repressionsschraube außerordentlich anzog. Die zunehmende Zersplitterung der Revolutionäre hatte katastrophale Folgen, da sie die ohnehin schwierig gewordene Gegenwehr nahezu unmöglich machte. "Die beste Antwort auf diese Gewaltmethoden [der Reaktion] ist der Zusammenschluß aller Revolutionäre zu einer einheitlichen Front. Begrabt die Streitaxt der Gehässigkeit, übt Toleranz gegen politisch Andersdenkende, reicht euch als ausgebeutete Lohnsklaven die Bruderhand. Ihr Proletarier, mögt ihr politisch Staatssozialisten, autoritäre Kommunisten oder freie Sozialisten-Anarchisten sein, ihr habt alle einen dornigen Weg vor euch. Laßt ab vom Bruderzwist, der nur eitle Politikanten befriedigen kann." (5/1920)
 

Beginn der Abgrenzung zu KommunistInnen

Der Ton wurde allmählich merklich anders. Es wurden KommunistInnen und MehrheitssozialdemokratInnen in einen Topf geworfen; der Sozialismus, den zu wollen beiden unterstellt wurde, wurde nunmehr in Anführungszeichen gesetzt (6/1920). Das sind sicherlich lediglich Veränderungen im Kleinen, aber sie machen einen beginnenden Wandel in der Betrachtung der KommunistInnen sichtbar.

In der Ausgabe 8/9/1920 wurde eine Spaltung der KPD gemeldet, näheres jedoch nicht mitgeteilt. Der Übertritt der einen Fraktion zu den AnarchistInnen wurde erwartet. Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um die Abspaltung einer Hamburger KPD-Gruppe um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim im Herbst 1919. Diese Gruppe lehnte den sich entwickelnden Zentralismus ab. Sie war an der Bildung der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) beteiligt. Laufenberg und Wolffheim selbst endeten schon im November 1919 im Nationalbolschewismus (nach Bock, S. 67, 189, 274ff.).

Die Zielrichtung des Alarm war nunmehr die engere Zusammenarbeit der links der KPD stehenden Gruppierungen. Es wurde ein Aufruf zu "einer gemeinsamen Versammlung der anarchistischen und syndikalistischen Organisationen Hamburgs" für eine "proletarische Front" veröffentlicht (11/1920). Was daraus geworden ist, teilte der Alarm seinen LeserInnen nicht mit. Es ist davon auszugehen, daß diese Initiative im Sande verlief, da auch späterhin nichts von ihr zu lesen war.

Die neue Linie fand ihren Ausdruck in der Ablehnung der Diktatur des Proletariats, da diese niemals durch das gesamte Proletariat ausgeübt werden könne, sondern nur durch einige wenige. Das neue Motto gegenüber den in Parteien organisierten KommunistInnen lautete: "Heraus aus den Parteien!" (33/1920) Es deutete sich ein gewisser Abschluß der politischen Auseinandersetzung um die Frage der Zusammenarbeit aller RevolutionärInnen an, die in der Ausgabe 44/1920 ihren Höhepunkt fand: "Für die wahren Revolutionäre gilt nur die eine Parole und die lautet: Jeder Reaktion, gehe sie von bürgerlicher oder parteipolitischer Seite sog. Revolutionäre aus, ist der schärfste Kampf entgegenzusetzen." Hier wurde der Standpunkt erreicht, der noch heute erhebliche Teile der anarchistischen Bewegung charakterisiert: die Gleichsetzung der Reaktion mit denjenigen Teilen der revolutionären Linken, die in etlichen, durchaus bedeutsamen Fragen, Widersprüche zu der eigenen Strömung haben. Allerdings war damit das Ende der sektiererischen Fahnenstange noch keineswegs erreicht; wie noch zu zeigen sein wird, gingen nunmehr die Auseinandersetzungen im eigenen - anarchistischen - Lager mit sehr ähnlichen Parolen weiter.

Ein weiterer Höhepunkt des Antikommunismus, der politische Verantwortungslosigkeit erkennen ließ, bildete eine Demonstration der inzwischen Vereinigten KPD (KPD und linker USPD-Flügel) in Hamburg wegen der Ermordung des bayerischen USPD-Abgeordneten Gereis. Hämisch bezeichnete es der Alarm als "klägliche[s] Fiasko", daß lediglich 2000 Menschen teilnahmen. Die AnarchistInnen waren ihrerseits 'selbstverständlich' nicht zur Demo gegangen. Stattdessen wurde kommentiert: "Nur durch Toleranz und Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte wird es gelingen, der Reaktion einen Damm entgegen zu setzen." (25/1921) Das ist eine hohle Phrase, denn beides - Toleranz und Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte - war mensch selbst keineswegs zu geben bereit. Das Ganze wird auch dadurch nicht erträglicher, daß die VKPD mit ihrer parteipolitischen Arroganz und Besserwisserei ihren Teil zu den Spaltungen der Linken beitrug.

Der Weg zur Politsekte: scharfe Abgrenzungen auch im eigenen Lager
Wie schon angedeutet, setzte sich die Abgrenzungspolitik, die sich zuerst gegen die KommunistInnen der KPD richtete, sodann auf linkskommunistische Organisationen ausgedehnt wurde, weiter fort mit harschen Abgrenzungen innerhalb des anarchistischen Lagers, insbesondere gegen die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). "Scharfe aber gerechte Erklärungen wurden [auf der Konferenz des Anarchistischen Freibundes Rheinland-Westfalen in Bochum am 23.10.1921] gegen die Auch-Anarchisten der Fr.A.U.S. [FAUD-Syndikalisten] abgegeben. Die Auch-Anarchisten sind unsere ärgsten Gegner und gegen sie gilt es den Kampf zu führen mit aller Schärfe."  (42/1921, Herv. AG/R) Diese arge Gegnerschaft wurde hervorgerufen durch die teilweise Beteiligung von FAUD-Zellen an Betriebsratswahlen, wodurch sie sich den abzulehnenden Zentralgewerkschaften gleichgemacht hätten, und durch die straffere Organisierung durch z.B. das Bestehen fester Mitgliedsbeiträge und das Führen von Mitgliedsbüchern. Diese lächerlichen Begründungen zeigen, wie sehr es um Prinzipienreiterei ging und wie wenig die realen Bedingungen, unter denen die Kämpfe stattfanden, reflektiert wurden. Zu dieser Zeit nämlich war die proletarische Gegenwehr schwach, die Reaktion triumphierte auf ganzer Linie. Die linken Organisationen verloren Mitglieder, und es hat den Anschein, daß sie darauf mit Dogmatisierung reagierten. Für den Alarm läßt sich zumindest sagen, daß eine öffentliche Reflexion der eigenen politischen Schwäche nicht stattfand. Die FAUD trieb es übrigens nicht anders; abweichende Positionen wurden in alter ZentralistInnenmanier in der Organisationszeitung "Syndikalist" entstellt oder gar nicht wiedergegeben. Der Anarchistische Freibund Rheinland-Westfalen bestand aus Personen, die aus der FAUD 'rausgedrängt oder ausgeschlossen worden waren (zur FAUD vgl. Bock und Rübner).

Jetzt wurden verstärkt Beiträge gebracht, die auch syndikalistische Positionen heftig attackierten, soweit sie den eigenen Überlegungen widersprachen. In der Nummer 6/1922 erschien ein Artikel, der bereits im Dezember 1917 in der "Voces Proletarias" erschienen war. Darin wurde gesagt, es gelte einen erstarrten, bevormundenden Syndikalismus ebenso zu bekämpfen wie Militarismus, Religion und Staat. In der unsachlich geführten Auseinandersetzung vorwiegend mit der FAUD hatte der Alarm seine gesamte Differenzierungsfähigkeit eingebüßt - die Front verlief nunmehr entlang der eigenen Zehenspitzen.

Diese Politik kulminierte in der Ablehnung einer Einheitsfrontpolitik. Für jeden Versuch, die ArbeiterInnenbewegung zu einen, gab es nur noch Spott. "Als Lockmittel gebrauchen jetzt alle Parteien und Organisationen die Parole der Errichtung der Einheitsfront." Es traf mit Sicherheit zu, daß viele der Einheitsfront'angebote' nur dem Zweck dienten, die eigene Organisation in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Aber mußte deshalb jeder Versuch einer Bündnispolitik diskreditiert werden? Die Idee an sich wurde nämlich weiterhin bejaht ("Dieser Gedanke [der Einheitsfront], so richtig er ist [!], wird Utopie bleiben, solange es Organisationen gibt, die von Führern geleitet werden und zugleich für dieses Leiten bezahlt erhalten."), aber jede Konkretisierung verneint. D.h. das die AnarchistInnen nicht bereit waren, die anderen Strömungen zu akzeptieren, um zusammen für die gemeinsamen Ziele zu kämpfen, sondern daß die Bedingung auch hier die Aufgabe der eigenen Position und die Übernahme der anarchistischen war. Und trotzdem wurde von einem "Freien Gewähren()" als Voraussetzung des Zusammenwirkens gesprochen - "Freies Gewähren" war der Alarm seinerseits in keiner Weise zu geben bereit! Noch ein Beispiel einer gewissen Doppelzüngigkeit: "Diese Verständigung [unterschiedlicher Personen über die Einheitsfront] kann nicht durch Verächtlichmachung anders Gesinnter, sondern durch gegenseitige Aussprache in freien Geistesgemeinschaften herbeigeführt werden." Zuvor hieß es über ParteipropagandistInnen, die die Einheitsfront verfochten: "Wie zwei bissige Hunde stehen sich in öffentlichen Versammlungen die Begründer und Rufer für die Einheitsfront gegenüber. [...] Einige Wenige sagen sich, [...] daß die beiden 'Kämpfer' stinken. [...] Neben diesen unfähigen Aposteln der Einheitsfront stehen jene eitlen kleinen Pfenniglichter, die sich im Glanze großer Einheitsapostel sonnen [...]." (46/1921) Keine Verächtlichmachung Gleichgesinnter? Zu diesem Zeitpunkt war der Alarm prinzipiell gegen die Einheitsfront. Und ganz ähnlich wie er es, zum Teil zu Recht, den anderen vorwarf, verhielt er sich selbst: die Einheit als propagandistisches Mittel sich ins beste Licht zu rücken und zur Diskreditierung anderer Strömungen.
 

Die Wende? - Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten

Im Jahre 1922 ist es zu einigen gemeinsamen Aktionen unterschiedlicher revolutionärer Strömungen gekommen. Am 5. März demonstrierten in Werne (Ruhrgebiet) einige 1000 Menschen zur Ehrung der bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches (reaktionärer Umsturzversuch im März 1920, der von einer ge- und entschlossenen ArbeiterInnenklasse niedergeschlagen wurde) ermordeten RevolutionärInnen. Daß die Demonstration strömungsübergreifend angelegt war, zeigte sich dadurch, daß der Herausgeber des Alarm, Carl Langer, auf dem Friedhof sowie ein nicht näher zugeordneter Kommunist auf dem Marktplatz sprachen (7/1922). Erneut in Werne kam es zu Aktionen der Bergarbeiter gegen Überschichten und Arbeitszeitverlängerung, auf denen sowohl Frei-Syndikalisten als auch Kommunisten redeten (20/1922). Diese Aktionen blieben sicherlich die Ausnahme und waren möglicherweise auch durch regionale Besonderheiten bestimmt. Immerhin ist bemerkenswert, daß der Alarm sie positiv hervorhob, obgleich sie der bisher geäußerten 'Linie' zuwiderliefen.

Zumindest zwischen den links der KPD stehenden Gruppen wurde jetzt eine Zusammenarbeit angestrebt. "In einigen Städten Rheinlands und Westfalens haben sich Anarchisten, Syndikalisten und Unionisten zur Errichtung eines Schutz- und Trutzbündnisses, unter Wahrung ihrer Eigenheit und Selbständigkeit zusammengefunden." Es wurde vorgeschlagen, dies auch reichsweit zu versuchen. Wer sich hier zusammentat, erwähnte der Alarm - mal wieder - nicht. Häufiger drängt sich der Eindruck auf, die LeserInnen sollten in Unwissenheit gelassen werden, als ginge dies nur die Organisationsfunktionäre an - ein Prinzip das öffentlich immer weit von sich gewiesen wurde. Ob das "Schutz- und Trutzbündnis" Erfolg hatte, ob es von Dauer war, läßt sich für die hier behandelte Strömung der AnarchistInnen nicht mehr feststellen, da die Nummer 27/1922 zugleich die letzte Ausgabe des Alarm war. Es handelte sich bei diesem Bündnis wahrscheinlich um die Bildung einer "Kampfgemeinschaft", die auf einer "Konferenz der revolutionären Gewerkschaftsorganisationen" Rheinland-Westfalens am 14. Februar 1922 beschlossen wurde. Es taten sich die Allgemeine Arbeiter-Union, die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), die Freie Arbeiter-Union/Gelsenkirchener Richtung und die Allgemeine Arbeiter-Union Einheitsorganisation aufgrund des verstärkten Drucks des Zentralgewerkschaftsverbandes und der Arbeitgeberverbände zusammen (Rübner, S. 79).
 

Das Verhältnis zum revolutionären Rußland

Dieses Thema soll etwas ausführlicher betrachtet werden, weil es großen Einfluß dadurch hatte, daß Rußland das erste Beispiel einer gelungenen Revolution war, daß also der sozialistische Aufbau aus den Theoriegebäuden herauskam und sich an der Wirklichkeit erweisen konnte, wie auch dadurch, daß die Entwicklung in Sowjetrußland und der Standpunkt, den die revolutionären Strömungen dazu bezogen, zu einem entscheidenden Faktor der innerlinken Auseinandersetzungen und Streitereien wurde, der letztlich bis heute politische Trennungslinien mitbestimmt.

1919 wurde eine bedingungslose Solidarität mit dem revolutionären Rußland vertreten. Rußland war auch den Alarm-AnarchistInnen der Inbegriff all dessen, was sie sich erhofften. "Die Sozialisierung ist heute im großen ganzen im europäischen Rußland durchgeführt, zum Nutzen und Segen für die schaffende Bevölkerung." (4/1919) Bejubelt wurde auch noch ein Jahr später die Erschießung des weißen Admirals Koltschak, da hierin der vorläufige Sieg der Revolution gesehen wurde. "Immer mehr hat sich die Macht der Bolschewiki gefestigt, trotz aller wütenden Anfeindung, Verhetzung und Verleumdung, die sich von Seiten der Bourgeoisie aller Länder gegen sie richtete". Mittlerweile begreife die herrschende Klasse: "wir stehen am Ufer eines Stromes, dessen Fluten alles überschwemmen und mit sich fortreißen werden - weder Wall noch Damm werden imstande sein, die brandende Welle aufzuhalten!" (8/9/1920)

Diese euphorische Einschätzung sollte nicht lange vorhalten; zunehmend mehrten sich die Anzeichen dafür, daß die Bolschewiki ihre Herrschaft auch auf Kosten anderer linker Strömungen zu festigen suchten, daß auch das neue Rußland RevolutionärInnen unterdrückte. Anfänglich gab der Alarm dafür allerdings nicht den BolschewistInnen die Schuld, sondern trennte zwischen ihnen sowie Lenin und Trotzki. Das Vorgehen Letzterer zeige, daß "Staatssozialismus nichts anderes als Staatskapitalismus, Staatsknechtschaft" ist (20/1920).

In der Nr. 28/1920 wurde ein ausführlicher Artikel von Semen Wityk, Präsident des Trudowyi Kongresses, über die zunehmende Unterdrückung der ukrainischen revolutionären Bewegung durch die Rote Armee veröffentlicht. Konstatiert wurde, daß die ukrainische Linke aller Schattierungen - rechte SozialdemokratInnen, SozialrevolutionärInnen, linke SozialistInnen, InternationalistInnen, KommunistInnen und 'BorotbistInnen' - als konterrevolutionär und reaktionär verleumdet würden. Der Grund dafür läge in dem Willen Moskaus weiterhin über die Ukraine zu bestimmen. "Die moskowitischen Kommunisten [...] können im Verhältnisse zum ukrainischen arbeitenden Volke, vielleicht mit Ausnahme Lenins, ihrer imperialistischen Träume nicht entsagen". Die Rote Armee wolle die "ukrainische soziale Revolution" erdrücken, sie stelle nicht in Rechnung, daß die andere Sozialstruktur der Ukraine eine andere Form des Sozialismus hervorbrachte.

Die Unterschiede zwischen Rußland und der Ukraine wurden folgendermaßen dargestellt: "In der Ukraina überwiegt die landwirtschaftliche Produktion wogegen in Moskowitien die industrielle und Waldproduktion vorherrschend ist. [...] In der Ukraina hat der große feudale Latifundienbesitz die kleinbäuerliche Bevölkerung derart proletarisiert, daß es dort jetzt sogar bis zu 15 Prozent landwirtschaftliches Proletariat gibt. Der übrige Teil der Bauern ist derart verarmt, daß sehr viele von ihnen, um ihr Dasein fristen zu können, gezwungen sind, auf den großen Latifundien und in den landwirtschaftlichen, gewerblichen Unternehmungen (Zuckerfabriken, Molkereien, Branntweinbrennereien) gegen geringen Lohn zu arbeiten oder aber durch Auswanderung ein besseres Los in Asien und Amerika zu finden." In der Ukraine handele es sich um ein "mächtig entwickeltes agrarisches Proletariat", welches die BolschewistInnen mißachteten. Hierdurch zerstörten sie das Bündnis mit dem ukrainischen Proletariat, das "mit der sozialen Revolution in Moskowitien sympathisiert und sie unterstützt". Die revolutionären UkrainerInnen würden niemals einverstanden sein mit einer Diktatur des städtischen, und d.h. russischen Proletariats.

Verlangt wurde die Selbstbestimmung der ukrainischen ArbeiterInnen und die Rücksichtnahme auf die spezielle Sozialstruktur. "In Moskowitien hat sich die Formel gebildet: die Diktatur der Arbeiter- und Bauern-Räte, wobei im Hinblicke auf die Indolenz und Passivität der moskowitischen Bauern die 'Bauernräte' bloß eine Verzierung des Rätesystems darstellen. In der Ukraina muß mit Rücksicht auf die revolutionäre Energie des proletarisierten Bauernstandes diese Formel umgestellt werden und hat dieselbe zu lauten: Die Diktatur der Räte der Bauern- und Arbeiter-Deputierten." Eine recht semantische Unterscheidung, die aber mit symbolischem Gehalt aufgeladen war, so daß die Reihenfolge, in der die Arbeiter- und Bauernräte genannt wurden, als Beleg der errungenen oder fehlenden Eigenbestimmung gesehen wurden. Daß Moskau wiederum auf der eigenen Formulierung beharrte, zeigt, daß auch dort dieser Zusammenhang gesehen wurde. (Übrigens wurde vom Alarm an dieser Stelle eine Anmerkung zugefügt, die darauf hinwies, daß die Zeitung gegen jede Diktatur sei und nur bei der Entscheidung zwischen den zwei gegebenen Formeln sich für die ukrainische Variante aussprechen würde.)

Durch das Verhalten der Bolschewiki, durch ihren Chauvinismus, werde der "Kommunismus und die Revolution in den Augen der Völker des ehemaligen zaristischen Imperialismus kompromittiert", worauf die Bolschewiki mit Verleumdung der ukrainischen Linken reagierten. Der Beitrag endet mit einem Appell an das internationale Proletariat, nicht zuzulassen, "daß das ukrainische Proletariat in die Knechtschaft falle, denn der Bestand auch nur eines einzigen geknechteten Proletariats - das ist die schwärende Wunde auf dem gesamten Weltproletariat."

Auch in der folgenden Ausgabe wurde dieser Standpunkt vertreten. Dennoch handelte es sich um eine solidarische Kritik, eine Kritik mit der Hoffnung auf Einsicht und Besserung. Das revolutionäre Rußland sollte verteidigt werden: "Um ein Eingreifen Deutschlands an der Seite der reaktionären Ententeheere unmöglich zu machen, muß das deutsche Proletariat allen Parteistreit und Zank vorläufig beiseite lassen. Die vornehmste Aufgabe muß es sein, die Weltreaktion niederzuringen." (29/1920) Obgleich der russische Sozialismus als "Attrappe" bezeichnet wurde (33/1920), konnte in der selben Nummer ein Aufruf des Bezirks Wasserkante und des Ortsvereins Hamburg der USPD gedruckt werden, in dem es hieß: "Kampf an der Seite Sowjet-Rußlands gegen das internationale Kapital, gegen die deutsche Regierung, gegen die deutsche Bourgeoisie." 1920 waren auch andere anarchistische Strömungen noch mit Rußland solidarisch, so die FAUD in ihrem "Syndikalist" (Nr. 1/1920, nach Bock, S. 334).

Der Umschwung erfolgte noch im gleichen Jahr. Mit der Verschärfung der Unterdrückung gegen LinksrevolutionärInnen in Rußland, v.a. aber in der Ukraine, nahm der Alarm eine unversöhnliche Haltung gegen die staatskommunistische Richtung ein, die bei vielen AnarchistInnen bis heute nicht überwunden ist. "Die Arbeiterschaft haben wir gewarnt, wir haben ihr oft genügend gesagt, von Rußland kann keine Befreiung kommen, denn die Tatsachen liefern uns das Gegenteil. In Rußland herrscht der rote Schrecken wie in andern Ländern der weiße Terror herrscht." (34/1920) Sicher hatte dieses Statement seine Ursachen in den erschreckenden Vorgängen in Rußland. Daß aber diese Zeilen so ähnlich noch heute in anarchistischen Blättern zu finden sind, läßt die Forderung aufkommen, mal wieder neu nachzudenken.

In diesem Sinne: Mit schlechten Traditionen brechen! Für die Zusammenarbeit aller RevolutionärInnen!

Anarchistische Gruppe/Rätekommunisten (AG/R)

Literatur:
Der Alarm. Wochenschrift für freien Sozialismus (ab Nr. 2/1920: Organ für freien Sozialismus), Nr. 1/1919-27/1922, StArch.HH Z 440/7.
Bock, Hans Manfred: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923. Zur Geschichte und Soziologie der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, Meisenheim am Glan 1969.
Rübner, Hartmut: Freiheit und Brot: die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarcho-Syndikalismus, Berlin/Köln 1994.
 
 

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