DAS ANDERE AMERIKA

Geschichte und Wirklichkeit eines historischen Prozesses

von Leo Gabriel | 10.2.2006

Es ist noch gar nicht so lange her, dass in fast allen der 35 Staaten des lateinamerikanisch-karibischen Subkontinents der USA und Kanada die weltweit brutalsten Militärdiktaturen vom Kaliber eines Augusto Pinochet (Chile), Alfredo Stroessner (Paraguay) oder Anastasio Somoza (Nicaragua) geherrscht haben. Heute bekleiden die als "Terroristen" verteufelten, ehemaligen Widerstandskämpfer entweder hochrangige Regierungsämter wie in Venezuela, Bolivien, Brasilien, Uruguay und der Dominikanischen Republik oder sie sitzen wie in Nicaragua, El Salvador, Ecuador und Mexiko als anerkannte Oppositionsführer derart fest in ihren politischen Satteln, dass selbst die ultrakonservativsten Kräfte der Bush-Regierung jederzeit mit einem Regimewechsel rechnen müssen. Einzig und allein in Kuba, der Vorreiterin aller zeitgenössischen Revolutionen Lateinamerikas und in Kolumbien, dem ewigen Nachzügler jeder geopolitischen Entwicklung, scheinen die Uhren stehen geblieben zu sein letzteres allerdings nur um den Preis einer der mächtigsten bewaffneten Aufstandsbewegungen in der Geschichte des Kontinents.

Was ist passiert? War es das Versagen der auf andere Weltregionen wie den Nahen, Mittleren und Fernen Osten konzentrierten US-Außenpolitik oder die Stärke der Guerillabewegungen, die zu dieser historisch einmaligen Trendwende im Hinterhof der Vereinigten Staaten geführt hat? Oder ist diese neuartige Situation wie viele Konservative behaupten gar auf die Demokratisierung der politischen Strukturen Lateinamerikas zurückzuführen?

Nichts von alldem ist wahr. Die These, die hier zur Diskussion gestellt werden soll, ist eine andere:

Die geopolitische Wende im Erdteil südlich des Rio Bravo ist (ähnlich wie in den islamischen Ländern des Mittleren Ostens) auf eine Politisierung der durch Jahrhunderte unterdrückten oder instrumentalisierten Kulturen zurückzuführen, welche letztendlich zu einem Erstarken lokaler, regionaler und national-revolutionärer Kräfte geführt hat.

Es handelt sich bei der Trendwende in Lateinamerika also weder um kurzfristig vorbereitete Putsche linksgerichteter politischer Fraktionen noch um deren "zufällige" Wahlerfolge, sondern tatsächlich um einen tiefsitzenden Wandel des politischen Bewusstseins und der gesellschaftlichen Strukturen der Bevölkerungsmehrheiten; um einen Paradigmenwechsel also, der sich in fast allen Ländern Lateinamerikas bereits in den letzten fünfzig Jahren abgezeichnet hat.

So lange ist es nämlich ungefähr her, dass sich in ganz Lateinamerika und der Karibik im Sog anscheinend entgegengesetzter sozialrevolutionärer politischer Strömungen wie der Castristen und Basischristen, der linken Sozialdemokraten und der kommunistischen Parteien in den Sechziger- und Siebzigerjahren so genannte organizaciones populares gebildet haben, die sich zunächst einmal, in verschiede Sektoren gegliedert, auf lokaler Ebene organisiert hatten: die unzähligen Wohnviertelorganisationen, Campesino-Bewegungen und studentischen Gruppierungen gehörten ebenso dazu wie die an klassischen Modellen orientierten unabhängigen Gewerkschaften, die sich von ihren unternehmerfreundlichen Zentralen abgespaltet haben.

Die Revolution entlässt ihre Kinder

Ihnen allen war gemeinsam, dass sich diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen früher oder später von den so genannten politischen Avantgarden im Zuge ihres Emanzipationsprozesses gelöst hatten zumeist weil sie von ihren Hierarchen und Patriarchen in Rom, in Moskau oder in der Sozialistischen Internationale von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Stich gelassen wurden. (Um der Wahrheit die Ehre zu geben: die einzigen, die sie nicht im Stich ließen, waren die castristisch oder maoistisch ausgerichteten Guerillabewegungen, die jedoch - mit der Ausnahme der Sandinisten in Nicaragua, der FMLN in El Salvador, der URNG in Guatemala und der EZLN in Mexiko - von ihren US-hörigen Gegnern militärisch zur Gänze aufgerieben wurden.)

Die auf diese Art verwaisten organizaciones populares, die sich während der Achziger- und Neunzigerjahre zu großflächigen Regionalverbänden vom Kaliber einer MST (brasilianische Landlosenbewegung), einer CONAIE (Indígena-Bewegung Ecuadors), eines Movimiento Piquetero (Argentinische Arbeitslosenbewegung) oder einer MAS (aus der Kokabauernbewegung Evo Morales entstandene politische Linkspartei Boliviens) ausgeweitet hatten, suchten und fanden immer öfter den Weg zueinander, sei es im Rahmen regionaler und internationaler Treffen wie der Sozialforen, sei es in der Form von gemeinsamer politischen Aktionen wie dem Kampf gegen die vom US-Imperium gesteuerten kontinentalen Freihandelszone ALCA.

All das führte zu einem vielschichtigen und vielfältigen Amalgam von zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche sich manchmal (wie die brasilianische PT, die bolivianische MAS und die ehemaligen zentralamerikanischen Guerillabewegungen) zu politischen Wahlparteien verknüpften oder wie die EZLN in Mexiko oder die CONAIE in Ecuador zu eigenständigen, autonomen Trägern eines gemeinschaftlichen Bewusstseins auf nationalstaatlicher oder internationaler (z.B. Via Campesina) Ebene.

Hugo Chavez: ein Sonderfall?

Mitten in diesem historischen Prozess findet nun eine Entwicklung statt, die eigentlich für diesen Prozess eher atypisch ist: mit dem Wahlsieg und der einige Jahre später erfolgten Machtergreifung von Hugo Chavez in Venezuela wurde (nach Fidel Castro zum zweitenmal in der Geschichte der letzten fünfzig Jahre) eine Führungspersönlichkeit kreiert, die das politische Panorama des Anderen Amerika mehr als die anderen linken Präsidenten nachhaltig bestimmen wird. Dabei hätte Chavez genauso gut ein rechts- oder linksliberaler Volkstribun werden können. Der ehemalige Putschistenführer verstand jedoch die Zeichen der Zeit und entpuppt sich heute als eine Art spiritus rector des anti-imperialistischen Lagers Lateinamerikas.

Das wurde nicht zuletzt vor wenigen Wochen beim Weltsozialforum in Caracas deutlich, wo Chavez nicht nur als einer der vier oder fünf (je nachdem, ob man Lula noch oder Bachelet schon dazu zählt siehe Artikel von Werner Hörtner) linksgerichteten Staatschefs auftrat, sondern auch als die von nahezu allen TeilnehmerInnen anerkannte Symbolfigur eines historischen Prozesses, dessen Wurzeln, wie gesagt, weit in die Zeitgeschichte des amerikanischen Kontinents zurückreichen.

"Sozialismus oder Tod": das VI. Weltsozialforum in Caracas

Vom 24. bis 29. Jänner fand also in Caracas, Venezuela, der amerikanische Teil des diesjährigen Weltsozialforums statt, das von einem noch nie da gewesenen Klima der Politisierung der zivilgesellschaftlicher Netzwerke insbesondere auf dem Südamerikanischen Kontinent - geprägt war.

"In Lateinamerika konnten wir während der letzten Jahre miterleben, wie sich die Mobilisierungen gegen den Freihandel, die Privatisierungsprozesse und für den Schutz der natürlichen Ressourcen und die Ernährungssouveränität explosionsartig ausweiteten; diese Mobilisierungen haben in einigen Ländern zur Übernahme von Regierungen geführt, die jene politischen Alternativen verfolgen, welche im Rahmen der Kämpfe an der Basis entstanden sind. Das jüngste Beispiel dafür ist der Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien, der auf die Kämpfe gegen die Privatisierung des Wassers und der Auseinandersetzungen der Campesinos und Indígenas sowie der ArbeiterInnen und BewohnerInnen der städtischen Randviertel zurückzuführen ist, die sich in diesem Land seit dem Jahr 2000 entwickelt haben."

Diese lapidaren Sätze, entnommen aus der Schlusserklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen, deuten bereits auf die allgemeine Aufbruchsstimmung hin, welche dieses Event der besonderen Art vom Anfang bis zum Ende charakterisierte. Dabei war es vor allem der Regierung des Präsidenten Hugo Chavez zu verdanken, dass diese von den venezolanischen OrganisatorInnen mitgebrachte Aufbruchsstimmung sogar auf die Delegierten aus jenen Ländern übergriff, deren Regierungen sich nach wie vor dem Diktat Washingtons unterordnen: Mexiko, Zentralamerika und Kolumbien.

Während der vier Tage des Forums besuchten an die 80 000 TeilnehmerInnen insgesamt an die 2000 Seminare und Kulturveranstaltungen entlang der vorgesehenen sechs Hauptachsen, von denen die meisten von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Brasilien, Venezuela, Kolumbien und Argentinien durchgeführt wurden:

  1. Die Machtfrage und die Kämpfe für eine soziale Emanzipation.
  2. Imperiale Strategien und der Widerstand der Völker
  3. Ressourcen und Recht auf Leben: Alternativen zum Raubbau des neoliberalen Modells
  4. Vielfalt, Identitäten und Kosmovisionen in Bewegung
  5. Arbeit, Ausbeutung und Reproduktion des Lebens
  6. Kommunikation, Kultur und Erziehung: dynamische Modelle einer alternativen Demokratie.

Sehr im Unterschied zu den vorangegangenen Weltsozialforen in Porto Alegre gab es relativ wenig bekannte Namen unter den RednerInnen. Dafür war aber die Beteiligung der Jugendlichen vor allem aus Venezuela und Argentinien umso größer, die an mehreren Orten eigene Zeltstätte eingerichtet hatten. Eine Besonderheit bildeten mehrere lokale Sozialforen, die gleichzeitig mit den Hauptveranstaltungen in den Armutsvierteln der venezolanischen Hauptstadt stattfanden.

Am weitaus größten war der Zulauf in der Sporthalle, in der Hugo Chavez am Freitag Abend zwei Stunden lang seine Vision vom "Sozialismus des XXI Jahrhunderts" vorstellte. Nach einem Rückblick auf die verschiedenen Etappen der Geschichte seit den Unabhängigkeitsprozessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, kam Chavez zur Sache: "Wir werden den Kapitalismus und den Imperialismus noch in diesem Jahrhundert zerstören; andernfalls gibt es keine Überlebenschance für die Menschheit mehr". Tatsächlich, meinte der Comandante en Jefe der Bolivarianischen Revolution, dass der Marx'sche Satz von "Sozialismus oder Tod" heute eine größere Gültigkeit hätte denn je. Bemerkenswerterweise verstand er das Christentum ("Christus war ebenso revolutionär wie Ernesto Che Guevara") ebenso wie die anderen Weltreligionen nicht als Gegensatz, sondern als integrierenden Bestandteil der Revolutionen des 21. Jahrhunderts.

Dabei beriefen sich weder er noch die anderen TeilnehmerInnen an diesem Weltsozialforum auf die Praxis bewaffneter Aufstandsbewegungen, sondern auf die politischen Prozesse, die in den letzten Jahren dazu geführt hatten, dass in Argentinien, Uruguay, Bolivien, Venezuela und jetzt auch in Chile Präsidenten an die Macht gekommen sind, die auf die eine oder andere Weise von Volksbewegungen getragen wurden. Trotzdem wurde in den verschiedenen Statements immer wieder hervorgehoben, dass diese Volksbewegungen wie die Landlosen (MST) in Brasilien, die Arbeitslosen (Piqueteros) in Argentinien und die Kokabauern in Bolivien diese Regierungen auch wieder fallen lassen würden, sollte sich herausstellen, dass sie wie in Brasilien ihre Zeit nicht für tiefgreifende Reformen nutzen würden.

"Partizipative Demokratie ist zum Unterschied von der repräsentativen keine politische Überlebensgarantie", sagte eine der FührerInnen von Via Campesina, dem weltweit größten Netzwerk von Bauernorganisationen, "sie muss jeden Tag von Neuem erkämpft werden".

Auf diese und andere Weise stellte sich in den unzähligen Gesprächen in und außerhalb der Seminarräume des Parque Central und auf dem weitläufigen Areal der Universität Venezuela (UCV) die Gretchenfrage, welcher der Sozialforumsprozess bisher immer ausgewichen war: Welcher Methoden der politischen Umsetzung wird sich die lateinamerikanische und die weltweite globalisierungskritische Bewegung bedienen müssen, damit die andere Welt, die immer mehr Menschen als eine Überlebensnotwendigkeit ansehen, nicht nur möglich, sondern auch wirklich werden kann?.


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