Nr. 22, Februar 2000
 
Andreas Rockstein

Unbehagen in der Globalisierung

Über das Scheitern der WTO-Ministerkonferenz und den internationalen Widerstand

Kläglich scheiterten die Verhandlungen der dritten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle, und dies war nicht einzig die Folge unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten führender WTO-Mitgliedstaaten, denn schließlich waren es die Proteste von immerhin rund 50 000 Menschen, die trotz massiven Polizeieinsatzes einen geregelten Tagesablauf verhinderten.

Ein Rückblick auf die gleichfalls gescheiterten Verhandlungen zu einem Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) im Rahmen der OECD (vgl. Die Gazette Nr. 2, April 1998) mag uns einen Anhaltspunkt geben, wie es dazu kam:

Das MAI war gewissermaßen die Spitze des Eisberges, die das Faß zum Überlaufen brachte. Nachdem seit Ende der 80er Jahre internationale Abkommen und Institutionen in die Welt gesetzt worden waren, die die Grundlage der so genannten Globalisierung bildeten - sprich "freier" Handel von Waren, Dienstleistungen und Kapital, die bis dahin von der Öffentlichkeit kaum beachtet blieben - entstand in der trügerischen Gewißheit, es könne einfach so weitergehen, mit dem MAI ein Vertragswerk, in dem ganz unverblümt Regelungen festgeschrieben werden sollten, die es Großkonzernen erlaubt hätten, sich mit international rechtlicher Absicherung über alle demokratischen Grundsätze, über Menschenrechte und Umweltschutz hinwegzusetzen.

Während zuvor einzelne Interessenverbände meist unabhängig voneinander für ihre spezifischen Belange stritten, wurde es durch das MAI auf einmal klar, daß all die vielen Kämpfe - für den Erhalt der Umwelt, für bessere Arbeitsbedingungen, für einen besseren Verbraucherschutz und wie auch immer - letztlich sinnlos sind, solange nicht die maßgebliche Kraft, die alledem entgegenwirkt, ins Visier genommen wird.

Im Oktober 1998, als die letzte Verhandlungsrunde des MAI stattfand, versammelte sich in Paris vor dem OECD-Gebäude eine überschaubare Gruppe von Menschen (allerdings mit internationaler Beteiligung), und während drinnen gestammelt wurde, daß naja, und so, war die Botschaft draußen klar: kein MAI und auch keine neuen Klone des MAI, weder in der WTO, noch in jedweder anderen internationalen Wirtschafts- oder Finanz-Institution.

Szenenwechsel: 5 Monate zuvor, Mai 98: Die (zweite) Ministerkonferenz der WTO in Genf. Im Vergleich zu Seattle waren längst nicht so viele DemonstrantInnen angereist. Drei Monate zuvor hatte sich ein Netzwerk gegründet unter der Bezeichnung "Peoples Global Action" (PGA), um gegen die WTO zu mobilisieren, getragen von Basisgruppen aus aller Welt, u.a. aus Ländern der so genannten Dritten Welt, mit der Folge, daß gerade aus jenen Ländern eine verhältnismäßig große Zahl von Menschen kam. Das Unbehagen der Ordnungsmächte war allerdings so groß, daß sie sich veranlaßt fühlten, in PGA eine "terroristische Vereinigung" zu sehen, um "Rädelsführer" zu "enttarnen", und Menschen, die sich an den Protesten beteiligt hatten, strafrechtlich zu verfolgen.
In Seattle wäre diese Vorstellung absurd gewesen, angesichts der Massen von Menschen, die, durch unterschiedlichste Zusammenhänge motiviert, aus aller Welt angereist kamen. Hatten es die Massenmedien doch schon recht schwer damit, die DemonstrantInnen als potentielle Gewalttäter darzustellen, angesichts der Bilder, die überwiegend massive Gewalt zeigten, die von der Polizei ausging.

Die Breite der WTO-Gegnerschaft - mobilisiert in gleicher Weise über PGA wie durch das internationale Netzwerk von Nicht-Regierungs-Organisationen, die jeweils als die Ausgangspunkte für den internationalen Widerstand gegen WTO und Globalisierung angesehen werden können - war schlicht überwältigend: Umwelt- und Verbraucherverbände, Gewerkschaften, StudentInnenschaften, Landwirte und AnarchistInnen, aus allen Teilen der USA, aus ganz Amerika, aus der ganzen Welt kamen sie angereist, um den größten Menschenauflauf in den Staaten seit Vietnam und Woodstock zustandezubringen.

Was aber sind die Gründe, daß so viele Menschen gegen die WTO protestierten, was ist an der Welthandelsorganisation, das so viel Unmut provoziert?

Die WTO ist eine verhältnismäßig junge Organisation. Sie wurde 1995 als Folge der letzten GATT-Verhandlungsrunde (auch "Uruguay-Runde" genannt) gegründet. Das GATT, also das allgemeine Zoll- und Handelsabkommen besteht bereits seit Ende des zweiten Weltkriegs und diente dem Abbau von Handelsbarrieren für Industriegüter. Mit der Uruguay-Runde und der Gründung der WTO war ein Quantensprung erreicht. Damit erlangte das GATT auch Geltung für den Agrar- und Dienstleistungsbereich, für so genannte "handelsbezogene Investitionsmaßnahmen" wie auch für den Handel mit geistigen Eigentumsrechten. Außerdem erhielt die WTO eine Schiedsgerichtsbarkeit mit internationaler Geltung.

Die Folgen offenbarten sich, als die WTO rechtsverbindlich und vorerst unwiderrufbar in die Welt gesetzt war. In sich durch und durch intransparent und undemokratisch entpuppte sich die WTO als das geeignete Instrument zur Durchsetzung der Interessen multinationaler Großkonzerne. Umweltschutz- und Menschenrechtsauflagen konnten von nun an als "Handelshemmnisse" angesehen werden und im Rahmen der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit "erfolgreich" abgewendet werden.

Was von den GegnerInnen des MAI als drohende Gefahr für Mensch, Umwelt und Demokratie angeprangert wurde ist also mit der WTO längst grausame Realität.

"Abbau von Handelshemmnissen", "Marktliberalisierung" oder wie auch immer positiv klingend benannt, all diese Maßnahmen haben nur zu einem noch hemmungsloseren Raubbau an Ressourcen und zu einer noch gnadenloseren Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft geführt.

In Seattle hätte nun, bevor überhaupt eine umfassende Bestandsaufnahme, eine Evaluation der Folgen der bisher bestehenden GATT/ WTO-Abkommen stattfand, wie es von vielen Verbänden gefordert wurde ("turn around the round"), im Rahmen einer sogenannten "Millennium Round" eine noch umfassendere Ausweitung des WTO-Mandats beschlossen werden sollen, womit Bereiche wie Bildung, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Fischerei, Forstwirtschaft und anderes mehr der bestehenden WTO-Reglementierung hätten unterworfen werden sollen — die Folgen sind kaum auszumalen.

Außerdem war eine Ausweitung der bestehenden Abkommen geplant, so des Landwirtschafts-Abkommens, des Abkommens über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen — was, entgegen aller Beteuerungen, das MAI sei ein für allemal gestorben, der schleichenden Einführung desselben in der WTO gleichgekommen wäre — , des Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen sowie des Abkommens über handelsbezogene geistige Eigentumsrechte (hier sei zu bemerken, daß geistige Eigentumsrechte auf Gene, wie sie bislang nur für pflanzliche Gene galten, nun auch auf tierische und menschliche Gene hätten ausgeweitet werden sollen). Über letzteres wird bereits heute "Biopiraterie" betrieben, d.h., daß etwa ein Pharmakonzern sich die alleinigen Rechte an einer Heilpflanze sichert.

Daß die Verhandlungen in Seattle gescheitert sind, daß es erst einmal keine "Millennium Round" geben wird, ist, wie das Scheitern der MAI-Verhandlungen, ein Grund zum Feiern, obschon nicht zu Unrecht etwa AktivistInnen von "Public Citizens", einer maßgeblich an beiden Kampagnen beteiligten Nicht-Regierungs-Organisation damals gesagt hatten - was auch jetzt noch gilt -, daß wir den Champagner erst mal im Kühlschrank lassen sollten.

Es stellt sich die Frage, wie es weiter geht. Bereits jetzt gibt es Anzeichen dafür, daß, wieder zur "Tagesordnung" übergegangen, innerhalb der WTO Punkt für Punkt all jene in Seattle geplatzten Vorhaben nun "im stillen Kämmerlein" weiterverhandelt werden. So ging die WTO seit ihres Bestehens vor, und so mag uns letztendlich eine "Millennium Round" auch ohne "Millennium Round" präsentiert werden, d.h., ohne große Konferenzen und Zusammentreffen, die im Lichte der Öffentlichkeit stünden.

Es geht freilich weiter mit "Marktliberalisierung", mit der "Liberalisierung" etwa im Telekommunikationsbereich (feindliche Übernahmen und Dumping-Preis-Kriege sind an der Tagesordnung), im Strommarkt (Billigst-Anbieter aus dem Ausland — woher mag der Strom wohl kommen? — aus Tschernobyl? — ganz recht!), in der Wasserversorgung (Gemeinden aus der bekanntlich wasserreichen Eifel beklagen sich über Wassermangel, weil das vorhandene Grundwasser gewinnbringend nach Benelux abgeführt wird) und in vielen anderen Bereichen mehr — wann wird, ist hier die Frage, die Luft privatisiert, die wir atmen?

Andererseits hat Seattle uns nichtsdestotrotz etwas gezeigt (und darin mögen uns die AmerikanerInnen vielleicht voraus sein): Der Widerstand gegen derartige Vorhaben ist in die Breite gegangen, das Unbehagen angesichts Globalisierung, Markt-"Liberalisierung" und Standortlogik hat sich artikuliert.

Die Erkenntnis, daß wir es hier nicht mit einem unumgänglichen Naturgesetz zu tun haben, gemäß dem wir uns dem "Wettbewerb auf dem globalen Markt" zu stellen hätten, sondern daß dies eine von "unseren" Regierungen gezielt herbeigeführte Politik ist, bietet den Menschen eine Chance. Daß es nicht dieser - verlogenen - Politik bedarf, die allein den Interessen transnationaler Konzerne dient, und die heuchlerisch feilgeboten wird als "Anreize für die 'Wirtschaft' schaffen, ohne die es keine neuen Arbeitsplätze gibt", sondern einer Politik, die wahrhaft das Wohlergehen des Menschen und seiner Umwelt im Auge hat - diese Einsicht hat in Seattle Tausende und Abertausende beflügelt, sich gegen die Ministerkonferenz der WTO zu erheben.

Nicht-Regierungs-Organisationen, geschärft durch die internationale Kampagne gegen das MAI, haben erkannt, daß Widerstand nur durch eine massive öffentliche Aufklärungsarbeit Erfolg haben kann.

Menschen im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung in der Dritten Welt haben - nicht zuletzt über das Netzwerk von "Peoples Global Action" - durchschaut, daß der Angriffspunkt ihres Aufbegehrens nicht allein die jeweiligen nationalen Regierungen sind, sondern in erster Linie die internationale Wirtschaftspolitik, die die katastrophalen Zustände in ihren Ländern verursacht hat.

Seattle - das war in diesem Sinne erst der Anfang. Während in Genf der Widerstand aufgrund der Ausschreitungen auf der Straße noch als kriminelle Aktion irgendwelcher "gewaltbereiter Autonomer" abgetan werden konnte (ein Affront gegenüber der Mehrheit der gewaltlosen DemonstrantInnen), lag in Seattle die Sympathie eindeutig auf Seiten der durch Tränengas und Gummigeschosse malträtierten DemonstrantInnen.

Doch sollten wir uns hüten vor der Gegenoffensive der WTO, die verstärkt versuchen wird, den Widerstand zu spalten, indem Dialogbereitschaft geheuchelt wird, wobei nur "vertrauenswürdige VertreterInnen der Zivilgesellschaft" zu Gesprächen eingeladen werden. Auch sollten wir wachsam das Verhalten mancher Nicht-Regierungs-Organisationen im Auge behalten, die mit dem Anspruch auftreten, den Widerstand gegen die WTO zu repräsentieren, sich jedoch zugleich regierungsfreundlich geben und dabei nur ihre spezifischen Eigeninteressen im Blickfeld haben.

Diejenigen, die die WTO ins Leben gerufen haben, werden alles daran setzen, diese Institution zu erhalten und ihre Macht zu strken. Aber der Widerstand wächst und auch die Erkenntnis, daß es um mehr geht als um irgendwelche Handelsabkommen, daß eine Umkehrung des bestehenden Wirtschaftssystems notwendig ist, um den Menschen und der Natur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.


Seattle Reports
PGA