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Oaxaca-Hintergundartikel aus der Soz

Wer in diesen Tagen Oaxaca besucht, um eine der zahlreichen Museen, Galerien, Kirchen und Kathedralen der historischen Innenstadt zu besichtigen, muss sich daran gewöhnen, dass es dort etwas anders aussieht als in Touristenführern beschrieben: Zwar sind alle historischen Gebäude und kulturellen Angebote der Touristenmetropole in Südmexiko weiterhin zugänglich, aber die Spuren der Rebellion sind unübersehbar. Überall in der Stadt campieren Menschen unter freiem Himmel oder aufgespannten Zeltplanen, um sich vor Sonne und Regen zu schützen, kaum ein Gebäude, das nicht von Graffitis und politischen Parolen beschriftet wäre; und der Zocalo, der zentrale Platz im Zentrum der Stadt, ist bedeckt von Transparenten und Zelten. Was für die Touristen etwas befremdlich oder auch exotisch wirkt, ist für die Menschen in Oaxaca existenziell: Dies ist kein Jugendcamp der etwas anderen Art, sondern Ausdruck einer breiten Protestbewegung, in der sich beinahe alle Sektoren der Gesellschaft zusammen gefunden haben und die ein zentrales gemeinsames Ziel hat: Den Rücktritt von Ulises Ruiz Ortiz, des Gouverneurs von Oaxaca, zu erreichen.

Begonnen hatte alles mit einem der schon traditionellen Streiks der 22. Sektion der Bildungsarbeitergewerkschaft SNTE, die fast jedes Jahr im Frühling für eine bessere Bezahlung, aber auch für Verbesserungen für die Situation ihrer Schüler, wie Schulfrühstück, Schuhe, kostenlose Bücher und Schreibmaterialien kämpfen, und die Demonstrationen erfolglos bleiben, mit Streiks und der Errichtung von Plantons (Protestcamps) in der Hauptstadt Oaxaca reagieren. Nachdem die Regierung Ulises Ruiz die Proteste ignorierte, erklärten die Lehrer einen unbefristeten Streik, woraufhin Ulises, statt Verhandlungen anzustrengen, das Platon der streikenden Lehrer mit einem Einsatz von Polizei und der berüchtigten Präventivpolizei des Bundes räumen ließ. Diese Räumung des 14. Juni war selbst für mexikanische Verhältnisse, in denen Polizei- und Armeekräfte wenig zimperlich sind, wenn es um die Bekämpfung von sozialen Bewegungen geht, außergewöhnlich brutal: Trotz der Anwesenheit von Kindern in dem Planton auf dem Zocalo wurde massiv Tränengas verschossen, sogar aus einem Hubschrauber heraus, mehrere Lehrer wurden durch Schläge und Schüsse schwer verletzt. Dennoch schafften es die Lehrer, bewaffnet nur mit Holzknüppeln gegen Tränengasgrananten und Feuerwaffen der Polizei, diese zurückzutreiben und gegen Mittag hatten sie die Innenstadt bereits zurückerobert und begannen, das Planton wieder zu errichten.

Doch nicht nur die Lehrer ließen sich durch die Repression keineswegs einschüchtern; auch die Bevölkerung solidarisierte sich mit den Lehrern. Durch seinen autoritären und repressiven Regierungsstil hatte sich Ulises Ruiz den Ärger beinahe sämtlicher Sektoren der Gesellschaft zugezogen; hinzu kam die übermäßige Korruption, bei der Milliarden von Pesos in mysteriösen Bau- und Sanierungsvorhaben verschleudert wurden, die nicht nur nichts zur Verschönerung der Stadt oder zur Verbesserung der Infrastruktur beitrugen, sondern das kulturelle Erbe der Stadt und damit die Identität ihrer Bewohner beschädigte. Und das in einem Bundesland, das als eines der ärmsten Mexikos gilt und in dem über die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und nicht einmal das lebensnotwendigste besitzt. "In diesen eineinhalb Jahren, seit sie regieren, haben sich die ganzen Beamten zu Millionären gemacht, und das Volk hat gar nichts," empört sich Berta, die als Ärztin einen freiwilligen Notdienst für die Bewegung aufgebaut hat, "das kann doch nicht sein!"

Auch die indigenen Gemeinschaften hatten reichlich Grund zur Wut auf Ulises: Seit Amtsantritt hatte er in zahlreichen Gemeinden die traditionell selbst gewählten und demokratisch kontrollierten Autoritäten abgesetzt und durch Mitglieder seiner Partei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution, die 70 Jahre lang das Land praktisch als Einparteiendiktatur regiert hatte) ersetzt. Auf Widerstand reagierte er mit massiver Repression; zahlreiche indigene Führer und soziale Aktivisten wurden eingekerkert oder sogar umgebracht.

Die Räumung des Plantons war damit der berühmte Tropfen, der das randvolle Fass zum Überlaufen brachte. Binnen Stunden fand sich die Zivilgesellschaft unter einer einzigen Forderung zusammen: Ulises muss gehen! Innerhalb weniger Wochen sah Oaxaca Demos mit mehreren hundertausend Teilnehmern - einige sprechen sogar von einer Million - (bei einer Einwohnerzahl der Stadt Oaxaca von weniger als einer Million), die seinen Rücktritt forderten. Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Demos oder andere Protestaktionen, in der ganzen Stadt gibt es Plantone, in denen Mitglieder der Bewegung Tag und Nacht präsent sind, die ganze Innenstadt ist verbarrikadiert und blockiert, ebenso wie einige Zufahrtsstraßen, und alle Einrichtungen und Gebäude des Staates und der Stadt sind besetzt. Diese Strategie bezieht sich auf einen Verfassungsartikel, der besagt dass bei einem "Verschwinden der Gewalten" der zuständige Gouverneur von der Bundesregierung oder dem Senat abgesetzt werden kann. Dies ist in Oaxaca seit Monaten der Fall: Regierung und Parlament befinden sich im Untergrund, die Gerichte arbeiten nicht mehr, und die Polizei hat sich auf ihre Stützpunkte zurück gezogen und tritt gar nicht mehr offen in Erscheinung. Es herrscht ein Art Anarchie - aber es funktioniert.

Seite dem 14. Juni hat sich die Bewegung von einer Bewegung des Magistrats der Lehrer zu einer Volksbewegung ausgeweitet, die alle Sektoren der Gesellschaft einschließt, die sich in der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca - Volksversammlung der Völker von Oaxaca) zusammen geschlossen und organisiert haben. Die APPO ist Organisation, Bündnis und Versammlung zugleich, in der sich Delegierte der über 350 Organisationen, die die APPO bilden, täglich treffen, um aktuelle Fragen zu diskutieren, Sachen zu organisieren und Entscheidungen zu treffen. Natürlich ist es nicht leicht, in einem Bündnis, das neben der Lehrergewerkschaft nicht nur Organisationen und Gruppen von Arbeitern verschiedener Bereiche, Studenten und Professoren, Indigene, Frauen, Jugendliche, kirchliche Basisgemeinden, Ärzte und Gesundheitsarbeiter, Nachbarschaft-sorganisationen und alle möglichen andere Sektoren umfasst, sondern auch ideologisch unterschiedlich ist und von den verschiedensten marxistischen Strömungen zu libertären, aber auch reformistischen Ideen reicht, zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Um so erstaunlicher, dass die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung bisher ohne größere Streits und Spaltungen zu funktionieren scheint. Das einigende Band besteht in der Forderung des Rücktritts Ulises, aber das es damit nicht getan ist, dass viel tiefgreifendere Veränderungen nötig sind, ist auch eigentlich allen klar, zumindest den Mitgliedern der APPO. Deshalb gibt es Diskussionen über eine neue Verfassung, die umfassende Reformen bedeuten würde. "Es geht nicht nur darum, Ulises loszuwerden. Es ist das ganze System, das uns in der Armut und Ungleichheit hält." Sagt Miriam von den kirchlichen Basisgemeinden. "Ulises repräsentiert dieses System," ergänzt Anna Maria.

Doch so wichtig diese Debatten über die Zukunft der Bewegung sind, ist es schwierig, konstant Mobilisierungen aufrecht zu erhalten und sich gleichzeitig diesen fundamentalen Fragen zu widmen. Vor allem angesichts der Repression, mit der sie sich ständig konfrontiert sieht und die immer wieder besonders brutale Züge annimmt: Anfang August wurde bei einer Demo ein Mechaniker erschossen; in der Nacht vom 20. auf den 21. August wurde bei dem Versuch der Räumung eines Plantons eine weitere Person erschossen, ein Architekt, der als Sympathisant bei der Bewachung des Platons helfen wollte. Es handelte sich dabei um ein Planton bei einem besetzten Radio. Die Vorgeschichte: Am ersten August wurde der lokale Fernsehsender Kanal 9 (eine staatliche regionale Station, die im gesamten Staat Oaxaca sendet, vergleichbar mit den Dritten in Deutschland), der ständig gegen die Bewegung gehetzt hatte, von einer Frauendemo kurzerhand besetzt. Ihre "Waffen", mit denen sie das erreichten: Cazerolas, große Kochtöpfe. Angesichts von tausendfacher Frauenpower kapitulierten die Angestellten des Senders ohne Kampf und damit hatte die Bewegung plötzlich einen eigenen Fernsehsender! Mit der Hilfe von einigen Kommunikationsprofessoren und "studenten gelang es ihnen schnell, diesen in Betrieb zu nehmen und zu senden, ebenso wie das dazugehörige Radio. Und nicht nur das, innerhalb von zwei Wochen kletterte der vorher uninteressante kleine Sender in der Einschaltquotenermittlung weit nach oben. Viel länger dauerte die Existenz des Kanal 9 als Volkssender aber leider dann auch nicht: Wenn auch die Polizei angesichts der Stärke der Bewegung nicht mal den Versuch einer Räumung unternahm, gelang es ihnen doch, den Schwachpunkt des Senders, die Antennen und Sendeanlagen, die sich auf einem Berg in der Nähe der Station befanden, zu attackieren und zu zerstören. In der Nacht vom 19. auf den 20. August griffen maskierte Männer, bewaffnet mit Maschinengewehren die Wachen an, wobei mehrere Menschen von Kugeln getroffen und zum Teil schwer verletzt wurde. Danach zerschossen sie buchstäblich die Sendeanlagen. Doch die Antwort der Bewegung war ebenso schnell wie erfolgreich: Noch in der selben Nacht besetzten sie 12 Radiostationen, von denen vier in Betrieb genommen wurden. Und wieder erfolgte die Übernahme in Volkseigentum ohne Gewalt und Zerstörung. Doch auch die Antwort der Regierung ließ nicht lange auf sich warten und bestand in besagtem Versuch der Räumung mit Maschinengewehren, bei der der Architekt sein Leben verlor. Und erst am 14. Oktober gab es wieder einen Toten an einer Barrikade, der von Militärs erschossen wurde.

Obwohl sich die APPO und das Magistrat der Lehrer seit Anfang September in Verhandlungen mit dem Staatssekretariat der Bundesregierung befindet, ist die latente Drohung einer militärischen "Lösung" des Konflikts nicht geringer geworden, im Gegenteil. Mitte September forderte der von der PRI und der rechtskonservativen derzeitigen Regierungspartei PAN dominierte Senat das Eingreifen der Regierungstruppen. Mehrmals sah es so aus, als würde Armee und PFP die Plantone räumen wollen, doch bisher blieb es "nur" bei dem psychologischen Krieg der permanenten Bedrohung. Ohnehin scheint die Bundesregierung anders als die Regierung Oaxacas deutlich zögerlicher mit dem Einsatz des Militärs, denn es ist offensichtlich, dass es mit einer einmaligen Intervention nicht getan ist, sondern dass sich angesichts der Stärke der Bewegung der bisher friedliche Protest leicht in einen Bürgerkrieg ausweiten könnte und eine Brechung des Widerstands jedenfalls eine monatelange militärische Besetzung erfordern würde. Daran hat jedoch die Bundesregierung wenig Interesse, ist sie doch ausreichend damit beschäftigt, den Protest gegen den offensichtlichen Wahlbetrug des PAN-Kandidaten Felipe Calderon gegen den Kandidaten der sozialdemokratischen PRD, Lopez Obrador, zu kontrollieren. Zu der Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik kommt nun noch die Wut über den Betrug; und in dieser Situation könnte das Beispiel Oaxaca leicht Schule machen. Das ist nun allerdings genau der Konflikt, in dem sich die Bundesregierung befindet: Sie kann Ulises nicht einfach absetzen, denn abgesehen davon, dass die PAN die Unterstützung der PRI zur Absicherung ihrer Macht braucht und daher nicht offen gegen einen PRI-Gouverneur agieren kann, würde ein Sieg der Bewegung ein Signal auch für Bewegungen in anderen Bundesstaaten bedeuten. In einigen haben sich auch schon APPOs gegründet; im Bundesstaat Sonora beginnen gerade die Lehrer zu streiken und orientieren sich dabei an den Erfahrungen in Oaxaca. Anderseits könnte sich eine Repression gegen die Bewegung in Oaxaca leicht zu einem Flächenbrand über das ganze Land ausweiten. Daher blieb bisher für das Staatssekretariat nur das Spiel auf Zeit und die Hoffnung, dass sich der Protest irgendwann von selbst ausbrennt. Doch danach sieht es bisher nicht aus. Obwohl nach mittlerweile vier Monaten Mobilisierungen alle müde und erschöpft sind, ist von Resignation und Aufgabe keine Spur. Im Gegenteil, Ende September brachen mehrere Tausend Mitglieder und Sympathisanten der APPO zu Fuß zu einem Protestmarsch in die 500 Km entfernte Hauptstadt auf, die sie drei Wochen später erreichten. Damit sollte der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden, die Hauptforderung der Bewegung, die Absetzung Ulises, zu erfüllen. Das Ultimatum des Innenministeriums, am 16. Oktober den Unterricht wieder aufzunehmen, lehnt die APPO ab und fordert stattdessen mittlerweile sogar den Rücktritt der gesamten Regierung Oaxacas.

Für den 21. Oktober hat die Bewegung zu einem zivilen Bürgerstreik und zu einer Großdemonstration nach Mexiko Stadt aufgerufen. Allerdings könnte sich der Kampf sogar schon vorher entscheiden: Anfang dieser Woche wird der Bericht der Senatskommission erwartet, die über die "Unregierbarkeit" Oaxacas entscheiden soll. Kommt diese zu dem Ergebnis der Unregierbarkeit, könnte Ulises tatsächlich abgesetzt werden. Allerdings halten Beobachter eine Absetzung Ulises gegen den Willen der PRI für unwahrscheinlich.

Sollte Ulises wirklich gehen, wird in jedem Fall auch ein künftiger Gouverneur es schwer haben, gegen den Willen des Volkes zu regieren. Die Vorschläge für eine neue Verfassung, an denen APPO-Mitglieder arbeiten, sehen eine scharfe Kontrolle der Regierenden seitens des Volkes vor. Diese Philosophie, dass die Regierung dem Volke gehorchen soll und nicht umgekehrt, hat eine lange Tradition in den Indigenen Gemeinschaften und ist u.a. von den Zapatistas unter dem Begriff "mandar obediciendo" ("gehorchend befehlen") bekannt gemacht worden.


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