Was vorher geschah:
Generalstreik und Kritik aus dem Militär setzen Präsident Chavez unter Druck. Menschenrechtler rufen beide Seiten zur Mäßigung auf

Von Roberto Roa
http://www.npla.de/poonal/P519.htm

(Mexico-Stadt, 11. April 2002, npl).- Schwere Zeiten für Venezuelas Präsidenten Hugo Chavez: Seit Dienstag (9.4.) ist seine Regierung mit einem unbefristeten Generalstreik konfrontiert, der insbesondere den Erdölsektor in Mitleidenschaft zieht und von Demonstrationen der Opposition in mehreren Städten begleitet wird. Angeheizt wird die Stimmung zusätzlich durch die größtenteils Chavez-kritischen Medien und der anhaltenden Kritik aus dem Ausland, insbesondere seitens der US-Administration, die Venezuela auf dem Weg zu einem zweiten Kuba sieht.

Am Mittwoch eröffnete der Brigadegeneral Nestor Gonzales eine weitere Front gegen den Präsidenten. Auf venezolanischem Gebiet befänden sich Camps der kolumbianischen Guerilla, und Chavez sei darüber durch informiert, so Gonzales auf einer Pressekonferenz. Damit ist General Gonzales bereits der sechste hohe Militär, der seit Februar Chavez öffentlich kritisiert. Auch wenn Gonzales am Donnerstag präzisierte, dass es sich nicht um ständige Guerillacamps handele, sondern um "gelegentliche Nutzung des Territoriums" durch die Farc, zeigt der Vorfall, dass die Kritiker von Chavez auch im Militär Zuwachs haben.

Chavez verzichtete am Donnerstag, dem dritten Tag des Streiks, darauf, die Geschehnisse im Land zu kommentieren. Es ließ lediglich verlauten, dass er nicht zum Gipfeltreffen die Rio-Gruppe fahren werde, der zur gleichen Zeit in Costa Rica begann.

Am Vortag hatte Präsident Chavez dazu aufgerufen, den Konflikt im Dialog zu lösen. Ansonsten überließ der sonst wortreiche Präsident es seinem Verteidigungsminister Jose Vicente Rangel, die Regierungspolitik zu vertreten. Rangel widersprach Gerüchten, denen zufolge der Ausnahmezustand verhängt werden solle. Außerdem kritisierte er, dass es sich um einen politischen Streik handele, der zum Ziel habe, die Regierung Chavez zu stürzen.

Auslöser des Konflikt war im März die Entscheidung von Präsident Chavez, die Führungsriege des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA neu zu besetzen. PDVSA ist das wichtigste Unternehmen des südamerikanischen Landes, das einer der größten Erdölexporteure weltweit ist. Die Proteste von Teilen der PDSVA-Belegschaft gegen diese Umbesetzung, die allerdings von der neuen Landesverfassung gedeckt ist, veranlasste den Gewerkschaftsdachverband CTV, sich der Streikbewegung anzuschließen. Gleiches tat die einflussreiche Unternehmervereinigung Fedecameras. Am Mittwoch dann verkündeten CTV-Chef Carlos Ortega und Fedecameras-Präsident Pedro Carmona, dass es sich um einen unbefristeten Generalstreik handele.

Diese eigenartige Streik-Koalition ist es, die die Regierung veranlasst, ihr politische Motive zu unterstellen. Zweifellos war die CTV immer schon eine der klassischen lateinamerikanischen Gewerkschaften, die mehr durch Korruption als durch Vertretung von Arbeiterinteressen Schlagzeilen machte. Und sie stand den traditionellen Parteien nahe, die Hugo Chavez und seine Bolivarianische Bewegung bei mehreren Wahlen seit 1999 derart besiegte, dass sie seitdem kaum noch eine Rolle in der Landespolitik spielen. Dass die Unternehmer das Ende der Chavez-Rgierung herbei sehnen, ist auch kaum verwunderlich: Der Ex-Militär, dessen populistischer Regierungsstil auch schon große Teile der Mittelschicht gegen ihn aufgebracht hat, ist vehementer Kritiker der neoliberalen Wirtschaftpolitik, plädiert für eine Landreform und erhöhte kürzlich die Unternehmenssteuern.

Doch der erwünschte Aufstand fand bisher nicht statt. Dem Streik gelingt es offenbar nicht, das Arbeitsleben in Venezuela lahm zu legen, auch wenn die Gewerkschaften von 60 bis 80 Prozent Beteiligung sprechen. Die Spitzen des Militärs sprachen Chavez ihre Unterstützung aus, und auch die befürchteten Versorgungsengpässe beim Erdöl lassen auf sich warten. Allerdings ließ es die Regierung nicht an Drohungen fehlen: Alle Streikenden würden sofort entlassen, erklärte Chavez im Fernsehen. Und es häufen sich Berichte über brutales Vorgehen der Polizei gegen die Protestierenden.

Unterdessen zeigen sich Nichtregierungsorganisationen zunehmend besorgt über die Eskalation der Lage in Venezuela. Die derzeitige Zuspitzung scheint die Befürchtung zu bestätigen, dass eine Regierung wie die von Hugo Chavez, die sich heraus nimmt, die Außen- und die Wirtschaftspolitik Washingtons zu krititisieren, vielen Anfeindungen ausgesetzt ist. Erst kürzlich wies die größte Menschenrechtsorganisation Venezuelas, PROVEA, darauf hin, dass es viele Mythen in Venezuela gebe, die die Demokratie gefährdeten. An erster Stelle nannte PROVEA den Mythos, dass das Land strikt in Gegner und Anhänger von Chavez gespalten sei. In Wirklichkeit zeigen alle Umfragen, dass 70 Prozent der Venezolaner auf keiner der beiden Seiten stehen und sich ein weniger konfliktives Klima wünschen.

Ein weiteres Problem sei, dass beide Seiten ihren Gegner als diktatorisch und sich selbst als demokratisch darstellen. In Wirklichkeit, so PROVEA, tendieren sowohl Regierung wie Opposition zum Autoritarismus. Schließlich dürfe nicht vergessen werden, dass Chavez von einer überwältigenden Mehrheit demokratisch gewählt wurde und noch heute bis zu 48 Prozent Zustimmung hat. Dies müsse die Opposition anerkennen, statt zu behaupten, dass eine Demokratie nur nach dem Abgang von Hugo Chavez möglich sei.


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