Naomi Klein: Kein Frieden ohne Kampf

von MTD Freundeskreis Naomi Klein - 16.03.2003 16:12
http://de.indymedia.org/2003/03/44507.shtml

Übersetzung eines Artikels von Naomi Klein zur Antikriegsbewegung und dem alltäglichen Krieg gegen soziale Bewegungen auf nologo.org

In einem Aussenbezirk von Buenos Aires plant Florencia Vespignani auf einem schmutzigen Stück besetzten Landes ihre bevorstehende Reise in die USA, wo sie mit StudentInnen und AktivistInnen über die widerständigen Bewegungen in Argentinien sprechen wird.

"Ich fürchte mich ein wenig", gibt sie zu.
"Vor dem Krieg?", frage ich.
"Nein. Vor dem Flugzeug. Hier bei uns gibt es die ganze Zeit Krieg."

Vespignani, eine 33-jährige Community-Aktivistin und Mutter, ist führend in der Movimiento de Trabajadores Desocupados (MTD) tätig, eine der zahlreichen Organisationen der arbeitslosen ArbeiterInnen, auch bekannt als piqueteros, die aus den Trümmern der Ökonomie Argentiniens entstanden sind.

Wenn Vespignani das Leben als Krieg beschreibt, ist das keine Metapher. Sie hat gelernt am Leben zu bleiben, in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt und 27 Kinder jeden Tag an Hunger sterben. Du musst auf die Straßen gehen und kämpfen, für jedes Stück Brot, für den Schreibstift jeder Schülerin und jedes Schülers, für jeden Schlafplatz.

Aus der Sichtweise des IWF sind die piqueteros der Kollateralschaden des Neoliberalismus - eine Explosion, die eingetreten ist, als die Schnellfeuer-Privatisierung mit "Schock-"Austerität gemischt wurde. Mitte der 90er Jahre standen Hunderttausende ArgentinierInnen ohne Lohnschecks, Sozialhilfe oder Pensionen da. Doch anstatt schweigend in den müllüberfüllten Slums rund um Buenos Aires zu verschwinden, organisierten sie sich in militanten Nachbarschafts-Vereinigungen. Hauptstraßen und Brücken wurden blockiert bis die Regierung die Arbeitslosenhilfe herausrückte; leerstehendes Land wurde besetzt um darauf Häuser, Landwirtschaften und Suppenküchen zu errichten; Hundert geschlossene Fabriken wurden von ihren ArbeiterInnen übernommen und die Produktion wiederaufgenommen. Direkte Aktionen sind die Alternative zu Diebstahl und Tod geworden.

Aber das ist nicht der Grund, warum Vespignani das Leben in Argentinien als Krieg bezeichnet. Der Krieg kommt nachher, nachdem sie und ihre NachbarInnen es gewagt haben zu überleben: die Besuche von bewaffneten Schlägern, die brutalen Räumungen von besetztem Land und Fabriken, die Ermordungen von AktivistInnen durch die Polizei, die Darstellung der piqueteros als bedrohliche Terroristen. Im letzen Monat setzte die Polizei Tränengas und Gummigeschosse ein, um 60 Familien aus einem besetzten Gebäude nahe der trendigen Plaza Dorrego zu vertreiben. Es war die schlimmste Repression, seit im vergangenen Juni zwei junge MTD-Aktivisten während einer Straßenblockade von der Polizei ermordet wurden.

Die Polizei hat behauptet, sie sei um die Sicherheit des besetzten Hauses besorgt, doch viele Menschen hier denken, dass die gewaltsame Räumung einzig ein Teil der letzten ökonomischen Anpassung war, die im Sheraton Hotel gekocht wird, wo sich seit Wochen Delegierte des IWF mit BankerInnen und den KandidatInnen der bevorstehenden PräsidentInnen-Wahl treffen. Der IWF hofft einzuschätzen, ob Argentinien neue Kredite zuzutrauen sind: ob es die Auslandsschulden bezahlen und weiterhin Sozialausgaben kürzen wird. Aber es gibt noch ein - nicht angesprochenes - Kriterium, das von den AnwerterInnen auf das PräsidentInnenamt erfüllt werden muss, um ausländisches Kapital zu verdienen: Sie müssen zeigen, dass sie bereit sind, Gewalt zur Kontrolle derjenigen Sektoren anzuwenden, die von diesen Vereinbarungen verletzt werden. BesetzerInnen, piqueteros und selbst die cartoneros - das Heer der LumpensammlerInnen, die den Abfall auf der Suche nach verwertbaren Pappkartons durchkämmen - werden belagert. Ganz nach den Worten des ehemaligen Eigentümers der grössten privatisierten Abfall-Firma der Stadt, der jetzt auf einer Liste nach dem Motto "Nehmen wir uns Buenos Aires zurück" für das Bürgermeisteramt kandidiert: Müll ist Privateigentum und die cartoneros sind "Diebe".

Kurz gesagt: Der verzweifelte Versuch von Millionen ArgentinierInnen, am Leben zu bleiben, ist eine Bedrohung für die Erholung der Wirtschaft und muss aufgehalten werden.

Vor kurzem schrieb John Berger: "Ohne Geld wird jedes tägliche Bedürfnis der Menschen zum Schmerz". In Argentinien wird jeder Versuch, diesen Schmerz zu lindern, zum Verbrechen. Das ist der Krieg, von dem Florencia spricht, und während sie quer durch die USA reist, wird sie mit der Schwierigkeit umzugehen versuchen, dieses Argument den AktivistInnen zu vermitteln, die beinahe ausschliesslich darauf konzentriert sind, eine andere Art von Krieg zu beenden. Einen Krieg, in dem die Strategie "Schocken und Einschüchtern" lautet, und nicht tägliche Brutalität und Marginalisierung von Massen.

Mitten auf dem aufgerissenen Kopfsteinpflaster vor dem besetzten Haus, in der Nacht als die 70 Familien vertrieben wurden, das Tränengas noch immer in der Luft und dutzende von Menschen im Knast, dachte ich über die Rufe nach "Frieden" nach, die aus Europa und Nordamerika kommen. Die Botschaft gegen den Krieg findet hier einen starken Widerhall, Zehntausende beteiligten sich am Global Action Day am 15.Februar. Aber Frieden? Was bedeutet Frieden in einem Land, wo die meisten das Recht zu Kämpfen verteidigen müssen?

FreundInnen in Südafrika erzählen mir, dass die Situation dort ganz ähnlich ist: Familien werden von Soweto bis Cape Flats aus miserablen Slums vertrieben, die Polizei und private Sicherheitsdienste setzen Munition und Tränengas ein, um Menschen mit Gewalt aus ihren Häusern zu räumen und im letzten Monat die verdächtige Ermordung von Emily Nengolo, eine 61-jährige Aktivistin, die gegen die Privatisierung des Wassers gekämpft hatte. Anstatt ihre Energien der Nahrungssicherheit, Jobs und Land zu widmen, werden soziale Bewegungen überall auf der Welt dazu getrieben, ihre Zeit im Krieg niederer Intensität gegen ihre eigene Kriminalisierung zu verausgaben.

Die große Ironie dabei ist, dass diese Bewegungen eigentlich den wirklichen Krieg gegen den Terrorismus austragen - nicht mit Law & Order, aber indem sie Alternativen zu den fundamentalistischen Tendenzen anbieten, die überall zu finden sind, wo es echte Verzweiflung gibt. Sie entwickeln Taktiken, die es den am meisten marginalisierten Menschen ermöglichen, ohne Terror ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen - durch Straßenblockaden, Gebäude- und Landbesetzungen und Widerstand gegen Vertreibungen.

Der 15.Februar war mehr als eine Demonstration - er war das Versprechen, eine wirklich internationale Antikriegsbewegung aufzubauen. Wenn das passiert, werden Menschen in den USA und Europa dem Krieg auf all seinen Fronten begegnen müssen: Opposition gegen den Angriff auf Irak und die Zurückweisung des Terrorismus-Labels für soziale Bewegungen. Die Anwendung von Gewalt um die Ressourcen in Irak zu kontrollieren ist nur ein extremer Ausdruck der Gewalt, die eingesetzt wird, um Märkte offenzuhalten und den Schuldenrückfluss aus Ländern wie Argentinien und Südafrika zu sichern. Und an Orten, an denen das alltägliche Leben wie Krieg ist, sind die Menschen, die dieser Brutalität militant gegenübertreten, die FriedensaktivistInnen.

Weil wir alle Frieden wollen. Aber erinnern wir uns daran, ohne Kampf wird er nicht zu erreichen sein.

http://www.thenation.com/doc.mhtml?i=20030331&s=klein | http://www.nologo.org


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