http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=60723&IDC=16 ND vom 04.10.04 Wut und Unsicherheit Hartz-Gegner aus ganz Deutschland zogen durch Berlin – aber wie geht es weiter? Von Damiano Valgolio Was bringen die Demonstrationen? Läßt sich Hartz noch stoppen? »Sonst wären wir nicht hier!«. Marion Kelz antwortet bestimmt. Frühmorgens sind sie und ihre Mitstreiter am Samstag in Zittau in den Bus nach Berlin gestiegen. »Wir spielen nicht mehr mit«, sagt die Frau mit glänzender Lederhose und roten Haaren, die die Zittauer »ihre Chefin« nennen. »Hartz IV macht uns zu Sklaven.« Seit Jahren hat Marion Kelz keinen Job. Die Arbeitslosigkeit in Ostsachsen streift die 25-Prozent-Marke. Hinter Kelz strömen die Menschen aus allen Richtungen auf den Berliner Alexanderplatz. Seit Wochen wird bundesweit gegen Sozialabbau demonstriert, nun kommen die Hartz-Gegner aus der ganzen Republik in der Hauptstadt zusammen. »Wir versammeln uns hier wie eine große, geballte Faust« erklärt die Bielefelderin Sidar Demirdögen. »Die herrschenden Eliten wollen die Arbeitslosigkeit nicht mit neuen Arbeitsplätzen bekämpfen«, donnert Bernd Riexinger von der Bühne, »sondern mit weniger Geld und mehr Druck für die Arbeitslosen.« Riexinger ist ver.di-Vorsitzender im Bezirk Stuttgart. Neben dem Rednerpodest ist ein großes Transparent über eine Werbetafel geklebt: »Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsam«, steht da. Die Globalisierungskritiker von Attac entrollen ihre Fahnen, die PDS breitet ihr riesiges Transparent aus. Im Hintergrund stehen rund 100 Busse – geparkt in der Karl-Marx-Allee. Bezeichnende Symbolik. Was noch vor einem Jahr bei vielen Menschen nur Kopfschütteln hervorgerufen hätte, ist wieder aktuell. Die Redner fordern »Schluss mit dem kapitalistischen Irrsinn« und »demokratische Kontrolle über die Wirtschaft«. Auf dem Kundgebungsplatz brandet Applaus auf. Es ändert sich etwas in Deutschland, spätestens seit im Juni die ersten Hartz IV-Fragebögen verschickt worden sind. »Wir haben jahrelang stillgehalten«, sagt Kerstin Weidner aus Senftenberg in Brandenburg, »jetzt reicht es.« Als sich die ersten Demonstranten in Bewegung setzen, beginnt eine Ska-Punk-Band zu spielen. Wenige Meter entfernt begleitet das Schalmeien-Orchester »Fritz Weineck« die Proteste mit einem italienischen Arbeiterlied. Weiter hinten läuft eine Samba-Gruppe. Eine bunter Haufen zieht durch Berlin. »Weg mit Hartz IV« wird gerufen. Gewerkschaftsfahnen, rote Fahnen und vor allem selbstgemalte Schilder sind zu sehen: »Hartz IV ist Menschenverachtung« oder: »Aus Wut wird Widerstand« ist zu lesen. Am lautesten ist der Block der türkischen Gewerkschaftsföderation DIDF. Von wegen, rechte Einflüsse bei Hartz-Gegnern. Das Sozialforum Bochum ist vertreten, Attac-Halle und die Jugendorganisation »Solid«. Neben dem Spruchband der »Daimler-Chrysler-Kollegen« aus Berlin weht die Regenbogenfahne der Friedensbewegung. An der Spitze des Zuges laufen die Hartz-Gegner aus Leipzig. »Schließt euch an, morgen seit ihr selber dran« rufen sie. Die Touristen auf der Friedrichstraße gucken verwirrt. Gegen ein Ausstellungshaus des VW-Konzerns, der in den laufenden Tarifverhandlungen mit Massenentlassungen droht, fliegen einige Farbeier. Polizisten stürmen in die Demonstration, einige Protestler werden verletzt. Ein älterer Herr steht neben einem jungen Mann im schwarzen Kapuzenpullover und schreit: »Haut ab!« Bei aller Wut ist unter den Demonstranten auch Unsicherheit zu spüren. Ist die Berliner Demonstration der Schlusspunkt der Montagsdemos? Ein Neuanfang auf höherer Ebene? Die Zweifel an der Zukunft der Proteste drücken sich auch im Gefeilsche um die offizielle Teilnehmerzahl aus. Erst haben die Veranstalter am Samstag 70 000 Menschen gezählt, dann einigt man sich mit der Polizei auf »rund 45 000«. »Es wird zu wenig darüber gesprochen, wie es weitergeht«, kritisiert der Berliner Professor und Protestveteran Peter Grottian. Wie können die Proteste denn weitergehen? Für Marion Kelz aus Zittau keine Frage: »Es wird demonstriert, bis Hartz weg ist.« Am 6. November soll erneut bundesweit mobilisiert werden. Nach Nürnberg, vor die Bundesagentur für Arbeit. »Von uns werden auf jeden Fall einige runterfahren«, sagt Kelz, dann steigt sie in den Bus zurück nach Zittau. (ND 04.10.04) Meinungen zu den Demos und Hartz IV © ND GmbH 2001 - Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Die Nachrichten sind nur für die persönliche Information bestimmt. Jede weitergehende Verwendung, insbesondere die Speicherung in Datenbanken, Veröffentlichung, Vervielfältigung und jede Form von gewerblicher Nutzung sowie die Weitergabe an Dritte - auch in Teilen oder in überarbeiteter Form - ohne Zustimmung der Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH sind untersagt. Kontakt zur Redaktion redaktion@nd-online.de, ND-Online wird produziert mit: ONE2Publish