http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=60721&IDC=2 ND vom 04.10.04 Wenn Keynes die Anarchisten trifft Die »Anti-Hartz-Bewegung« muss eine gemeinsame Sprache finden. Leicht ist das nicht Von Velten Schäfer Nach der mäßig erfolgreichen »Großdemonstration« vom Samstag debattierten die Aufrufer gestern über das weitere Vorgehen und eine gemeinsame Plattform. Deren Eckpunkte sollen lauten: Arbeitszeitverkürzung, Grundeinkommen ohne Lohnarbeitspflicht, gesetzlicher Mindestlohn und steuerliche Umverteilung. Weder Himmelhoch jauchzend, noch zu Tode betrübt gaben sich gestern in der Technischen Fachhochschule Berlin Organisatoren und Sympathisanten der »Anti-Hartz-Großdemonstration« vom Samstag. Zwar seien, so der Tenor, 45 000 Demonstranten »keine Blamage« gewesen – aber eben auch kein durchschlagender Erfolg, der für die kommenden Wochen Lust auf weitere zentrale Kraftakte machen würde. Es war also zu debattieren, wie die Proteste gegen die Hartz-Gesetze und den Sozialabbau weitergehen könnten und wie die »neoliberale Hegemonie« wirksam aus den Köpfen nicht zuletzt der Betroffenen selbst vertrieben werden könnte. Dazu bedarf es zu allererst einer gemeinsamen Stimme. Formal ist solches recht einfach zu leisten: Man setzt eine Plattform auf, unter der sich alle wiederfinden können. Auch die Elemente einer solchen braucht man nicht neu zu erfinden: Dass an der Binnennachfrage angesetzt werden müsse und dass dazu eine steuerliche Umverteilung von oben nach unten notwendig sei, dass die »Lohnnebenkosten« eine Schimäre und spürbare Reallohnsteigerungen für Wirtschaftswachstum unverzichtbar seien, dass die permanente Produktivitätssteigerung ein Segen für die Menschheit wäre, weil kaum jemand mehr als 30 Stunden arbeiten müsste, wenn nur das politische Regime stimmte, dass das Starren auf die Neoliberalismus-Maschine der EU namens »Stabilitätspakt« unsinnig, ein garantiertes Bürger-Grundeinkommen dagegen für die Erledigung wichtiger, nicht marktfähiger sozialer Arbeit segensreich wäre – all das wurde schon oft genug gesagt und geschrieben. Die Differenzen indessen stecken in den Details. Geht es zum Beispiel um die Verteidigung einmal erreichten Terrains? Oder müsste, wie der Sozialwissenschaftler Christian Brütt von der Humboldt-Universität in seinem Referat sagte, nicht nur die Mythen des Neoliberalismus angegriffen, sondern auch die Mystifikation des alten Sozialstaats rheinischer Prägung vermieden werden? Und wo wäre anzusetzen: Bei der »Spontaneität« der Betroffenen, bei ihren alltäglichen Bedürfnissen – oder weit jenseits davon, auf der Ebene makroökonomischer Entscheidungen? Oder wäre beides zu verbinden? Das Problem einer »sozialen Bewegung« gegen die Hartz-Gesetze und den Neoliberalismus ist mit der Bedingung ihrer Stärke identisch: ihrer Heterogenität. In den letzten Wochen haben sich nicht nur die Montagsdemonstranten von Leipzig und anderswo, sondern auch viele andere Stimmen gegen die neoliberale Politik erhoben. Kritik der Arbeit oder der Arbeitslosigkeit? Die Extreme dieses Spektrums markieren auf der einen Seite vielleicht der ehemalige Brandt- und Schmidt-Berater Albrecht Müller, der sich vor einigen Wochen mit einem populär geschriebenen Buch über die »Reformlüge« ins Gespräch gebracht hat – und libertär-anarchistische Zirkel auf der anderen Seite. Während Müller fordert, die »Pferde wieder saufen zu lassen«, also durch antizyklische staatliche Interventionspolitik die Kapazitäten der Industrie wieder auszulasten, um Wachstum und letztlich Vollbeschäftigung zu schaffen, gibt es zugleich durchaus relevante Gruppen und Einzelpersonen, die »Freizeit statt Arbeit« oder eine »Kritik des bürgerlichen Arbeitsbegriffs« fordern und kategorisch davon ausgehen, dass die »Vollbeschäftigung« eine niemals mehr wiederkehrende – und nicht einmal mehr wünschenswerte, weil eben »lohnarbeitszentrierte«, patriarchalische und disziplinierende – Episode aus den »fordistischen« siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts darstelle. Zwischen diesen Polen finden sich Akteure wie Gewerkschaften und die PDS. Selbst von einer – von der Bundesspitze vielleicht einmal abgesehen – in Sachen Hartz-Proteste und alternative Gesellschaftsentwürfe relativ offenen Arbeitnehmerorganisation wie ver.di wird man kaum verlangen können, pauschal gegen die »Arbeitsgesellschaft« anzukämpfen. An diesem Punkt scheinen nicht nur verschiedene Interessen aufeinander zu treffen, sondern auch unterschiedliche politische Kulturen. Mit solchen Parolen tun sich die Sozialisten, in zwei Bundesländern zudem selbst für die Hartz-Umsetzung mit zuständig, wie ihre auf »Arbeit, Arbeit, Arbeit« zugeschnittenen Kampagnen der letzten Jahre zeigen, ebenfalls schwer. Auch wenn die Partei schon seit Jahren das Konzept eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors in der Schublade hat, der auf einem Fonds für die Erledigung gesellschaftlicher sinnvoller Aufgaben beruhen soll, und die stellvertretende PDS-Vorsitzende Katja Kipping gestern in ihrer Eigenschaft als Sprecherin eines Netzwerks für ein bedingungslosen Grundeinkommen (von rund 1200 Euro inklusive Miete) auftrat. Um der Bewegung nachhaltig Substanz zu geben, glaubt PDS-Gewerkschaftspolitiker Harald Werner, wäre es notwendig, dass sich die Fraktionen der »Ökonomen« und der »Sozialen« über längere Zeit ernst- und dauerhaft miteinander befassen. Wenn die gestrige Konferenz dazu ein Auftakt war, resümiert Werner, wäre schon einiges erreicht. (ND 04.10.04) © ND GmbH 2001 - Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Die Nachrichten sind nur für die persönliche Information bestimmt. 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