Gleicher als Andere 1

Christoph Spehr, 12.02.2001

Gleicher als Andere
Eine Grundlegung der Freien Kooperation

zugleich Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage:
"Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?"

Die mächtige mittelalterliche Uhr in Lund
zeigt den Planetengang und Tag- und Nachtgleichen an
sie tickt wie ein sehr langsames Herz.
Einmal täglich gehen ihre Türen auf.
Zwei kleine mechanische Bläser spielen dünn
In Dulci Jubilo.
Aus Holz geschnitzt, ziehen Könige
und die Diener von Königen
an der Muttergottes vorüber
und alle verneigen sich vor ihr, bis auf den letzten.
Er ist der letzte, und er verneigt sich nicht.
 

Lars Gustafsson, Die Uhren haben mich lange krank gemacht

Inhalt
Einleitung: Die drei Bären
 
Erster Teil: Freiheit und Gleichheit
1. Von der Sklaverei
2. Zynische Freiheit, ohnmächtige Gleichheit
3. Freie Kooperation
 
 
Zweiter Teil: Politik und Anti-Politik
1. Politische Utopie jenseits der Utopien
2. Der methodische Charakter der Freien Kooperation
3. Utopie und Geltung
 
Dritter Teil: Grundrisse einer Politik der Freien Kooperation
1. Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten - Machtfragen stellen
2. Politik der Beziehungen - alternative Vergesellschaftung
3. Entfaltung sozialer Fähigkeiten - subjektive Aneignung
4. Praktische Demokratiekritik - emanzipative Demokratisierung
5. Organisierung
Die Uhr von Lund
 
Anmerkungen
 

Einleitung: Die drei Bären

Und welcher Art sollten die Ketten der Abhängigkeit unter Menschen sein, die nichts besitzen? Wenn man mich von einem Baum wegjagt, so steht es mir frei, zu einem anderen zu gehen; wenn man mich an dem einen Ort misshandelt, wer will mich hindern, anderswohin zu gehen?
Jean-Jacques Roussau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

In einer Hütte lebten drei Bären, zwei große und ein kleiner. Die großen Bären haben alles im Griff und wissen, wo es langgeht; aber der kleine Bär ist uneinsichtig und eigensinnig. Die großen Bären nennen ihn das "Prinzchen". Wenn die großen Bären ihn rufen, sagt der kleine Bär "Nein" und kommt, sobald es ihm passt. Er will keine Suppe essen, obwohl die gesund ist und gut schmeckt, sondern lieber Schinken. Später, wenn die Suppe längst kalt ist, isst er sie dann plötzlich. Zum Schlafen will er keinen Schlafanzug anziehen und möchte, dass das Licht brennt. Die großen Bären lassen dem kleinen seinen Willen, aber sie sind nicht zufrieden. Sie finden das nicht in Ordnung.
Die großen Bären gehen sich beim Bärentherapeuten Rat holen. (Ohne den kleinen Bär, versteht sich.) Der Therapiebär sagt: "Na, kein Wunder! Ich will euch mal ein Bild malen." Dann malt er ein Bild, auf dem der kleine Bär eine Krone trägt und die großen Bären vor ihm auf den Knieen liegen. "Genauso seid ihr", sagt der Therapiebär. "Hängt das Bild zu Hause auf, und es wird euch helfen."
Die großen Bären hängen das Bild zuhause auf. Als der kleine Bär das nächste Mal sagt: "Ich will jetzt nicht essen kommen!" sieht der eine große Bär das Bild an und sagt mit fester Stimme: "Prinzchen, du kommst sofort her, oder du gehst ins Bett!" Das schockt den kleinen Bär. Der andere Bär will den kleinen Bär schon fragen, ob er lieber was anderes essen will, da sieht er das Bild an der Wand und sagt: "Basta. Wenn dir das hier nicht schmeckt - ab ins Bett." Im Bett heult der kleine Bär, weil er das Licht anhaben will. Aber niemand kümmert sich drum. Nach einer Weile bettelt der kleine Bär, dass er wenigstens einen Gutenachtkuss haben will, sonst gar nichts. Den kriegt er dann. Die großen Bären sind jetzt wieder sehr zärtlich und freundlich.
Die großen Bären sehen auf das Bild an der Wand, und sie sehen, wie sich das magische Bild des Therapiebärs langsam verändert: Die Krone des kleinen Bären verschwindet, und die großen Bären richten sich auf. Es sieht fast so aus, als ob der kleine Bär lächelt.
So ist es gut!

Diese Geschichte, entnommen dem Kindermagazin "Hoppla" des Weltbild Verlags (1), ist ein typisches Stück demokratischer Propaganda. Sie zeigt alle Muster und das ganze Grauen dieser Propaganda, wie sie heute auf allen Gebieten üblich ist.

Typisch sind, erstens, die Fragen, die nicht gestellt werden: Woher nehmen die alten Bären das Recht, dem kleinen Bären zu sagen, wann er ins Bett zu gehen hat und ob er dabei Licht braucht? Wieso werden sie dadurch zu seinen Untertanen, dass er beim Essen persönliche Geschmacksvorlieben hat? Wem schadet er, weil er seine Suppe nicht essen will und wieso freuen sie sich nicht, wenn er sie später doch essen will? Wer stellt mehr Zumutungen an den anderen: der kleine Bär, dessen Zumutungen immer auffallen, oder die alten Bären und ihre Welt, die unzählige Regeln, Forderungen, Normen umfasst und eine einzige, gewaltige, polypenhafte Zumutung an den kleinen Bären ausspricht: sich einzufügen und sie zu akzeptieren, wie sie ist? Wieso wird ein Unterschied zwischen diesen Zumutungen gemacht, je nachdem, in welche Richtung sie gestellt werden; womit wird dieser Unterschied begründet oder gerechtfertigt? Wer hat eigentlich wirklich die Macht : der kleine Bär, der in eine Welt nachkommt, die ihm von anderen vorgesetzt wird, oder die alten Bären, denen diese Welt gehört, die darüber verfügen, die sich selber Essen machen können und die keine Angst im Dunkeln haben? Was bedeutet das für die Situation des Konflikts?

Typisch ist, zweitens, dass soziale Kooperation nur als eine Form vorstellbar ist, wo jemand das Sagen hat. Irgendwer muss das Sagen haben und jemand anders nicht; das gilt als "Klarheit" und schafft "Ordnung" und "Orientierung" für alle. Irgendwer hat immer die Krone auf, entweder der kleine Bär, wo man sie sehen kann, oder die großen Bären, wo man sie nicht sehen kann, denn die großen Bären haben ja einfach recht. Konflikt ist schlecht, Streit ist schlecht, Nicht-zur-Entscheidung-Kommen ist schlecht: es gilt als Indiz dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Natürlich haben gemäß der demokratischen Propaganda nicht Personen das Sagen, sondern Prinzipien. Regeln. Diskurse. Formen der Entscheidungsfindung. Aber wer keine solchen Entscheidungen über sich "finden" lassen will, ist der Feind.

Typisch sind, drittens, die Formen der Denunziation: der Feind, der Aufmüpfige, der Regelverletzer, der Uneinsichtige und mit Gewalt zur Ordnung zur Rufende wird als Monarch dargestellt. Seine fehlende Unterordnung wird als Willkürherrschaft eines absolutistischen Fürsten porträtiert. Seine Weigerung, nach den für ihn vorgesehenen Normen zu arbeiten, zu leisten, zu funktionieren, wird als Schmarotzertum, Faulheit, Verweichlichung, Luxussucht gebrandmarkt - alles Vorwürfe, die wir mit der Lebenshaltung von Adeligen und Fürsten assoziieren. Dies ist die normale Form der Denunziation im demokratischen Zeitalter, egal, ob es um die Ansprüche von Kindern, von Sozialhilfe beziehenden Müttern, von armen Nationen oder wem auch immer geht. Die in der sozialen Hierarchie Untenstehenden werden als hochnäsige Müßiggänger im Hermelinpelz gezeichnet, als die eigentlich Dominanten, die heimlichen Fürsten.

Typisch ist, viertens, was als selbstverständlich vorausgesetzt wird: dass Macht, wenn sie in Übereinstimmung mit den herrschenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ausgeübt wird, auch Recht ist, und gleichzeitig, dass sie gar keine Macht ist. Dies klingt absurd, ist jedoch gang und gäbe und Herzstück demokratischer Propaganda. Eigentum, Verfügungsgewalt, physische und strukturelle Gewalt, Zugang zu den Ebenen, auf denen die Normen gesetzt und die Regeln verhandelt werden, alles, was einen alten, dicken Bär von einem kleinen Bär unterscheidet: es ist so selbstverständlich, dass es unsichtbar wird.

Wieso gehört den alten Bären das Haus? Weil sie darin geboren sind? Weil sie es gebaut oder gekauft haben, als der kleine Bär noch gar keine Chance hatte, ein Haus zu bauen oder zu kaufen? Wieso entscheiden sie, wann das Essen gegessen wird? Weil sie es gekocht haben? Müssten dann nicht die darüber entscheiden, die die Nahrungsmittel dafür angebaut haben? Oder die, von denen diese wiederum den Samen dafür gekauft haben? Oder die, die diese Säcke mit Samen zu ihnen hingeschleppt haben? Oder die, die den Sackschleppern ihr Essen gekocht haben? Was unterscheidet die einen in der Kette von den anderen? Wieso dürfen die alten Bären den kleinen Bär zu etwas zwingen? Wer gibt ihnen das Recht, zu wissen, was für den kleinen Bären gut ist? Ist es nicht ein Skandal, dass sie ihm gegenüber derart im Vorsprung sind?

Wenn jemand danach fragt, heißt es, es gibt Formen der demokratischen Entscheidungsfindung, die setzen das so fest, wer was darf. Wenn jemand weiter fragt, heißt es, gut, natürlich wird nicht über alles so entschieden, und es kann nicht jede Entscheidung dabei herauskommen. Es gibt auch noch die Vernunft, das Recht, den Schutz, die Notwendigkeit, das Herkommen, den normalen Menschenverstand, und so weiter; und hinten jeden dieser Begriffe ließe sich in Klammern einsetzen: "derjenigen, die Macht haben". Wenn jemand darüber klagt, über diese Macht, heißt es: es ist keine. Wir halten uns nicht weiter mit der Absurdität unserer Haltung auf. Wir haben unsere Therapiebären dafür, die das schmutzige Geschäft des ideologischen Reinwaschens für uns erledigen: Philosophieprofessoren, Politikwissenschaftler, Lehrer, Nachbarn, Stammtischpolitiker, Männerfreundschaften, Illustrierte. Alle Arten von Therapiebären, die wir bezahlen und beauftragen oder die sich aus innerem Antrieb berufen fühlen. Die Therapiebären helfen uns dabei, uns gegen die Ansprüche anderer emotional abzuschotten und das miese Gefühl niederzukämpfen, wenn wir Gewalt anwenden, um andere Bären hungrig im Dunkeln schlafen zu lassen.

Demokratische Propaganda heißt, Herrschaftspropaganda im demokratischen Zeitalter. Im demokratischen Zeitalter, unserem Zeitalter, das in etwa mit den revolutionären Erschütterungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis heute andauert, verliert Herrschaft im vordemokratischen Stil ihre Akzeptanz. In früheren Zeiten untermauerten herrschende Gruppen ihren Anspruch, das Kommando zu haben, gerade mit ihrer Andersartigkeit, ihrer Ungleichheit mit den Beherrschten. Die herrschenden Gruppen behaupteten, sie seien von Natur aus zum Herrschen bestellt. Sie seien von Natur aus dazu befähigt, Gott näher, der Vernunft näher, der Zivilisation näher oder wem auch immer. Sie seien der Kopf, die andern die Organe. Mit solchen Argumenten rechtfertigte sich in vordemokratischen Zeiten die Herrschaft von Königen und Adel über das Volk, von Männern über Frauen, von Weißen über Nicht-Weiße, von Reichen über Arme, von Wirtschaftseliten über die, welche nur ihre Arbeitskraft besaßen. Im demokratischen Zeitalter ändert sich das. Rechtfertigungen dieses Stils werden auf Dauer nicht mehr hingenommen. Damit verschwindet Herrschaft nicht, aber sie verändert sich; und sie stellt sich auch anders dar. Im demokratischen Zeitalter betonen Herrschende und Privilegierte unermüdlich, wie gleich sie den andern seien: kein gottgleicher Über-Bär, sondern Bär unter Bären. Sie prahlen nicht mehr mit ihrer Herrschaft, sondern behaupten, es gebe keine mehr. Und wenn die großen, alten Bären die kleinen zurechtstutzen, dann herrschen sie nicht, sondern setzen nur die Regeln durch, die für alle gelten. Eigentlich handeln sie in Notwehr; sie sind es, die sich gegen die Regelverletzer zur Wehr setzen müssen.

Wir leben in einer Welt, die von alten Bären gemacht und beherrscht wird. Die Geschichte von den drei Bären hätte so in West und Ost erzählt werden können, im demokratischen Kapitalismus wie im realexistierenden Sozialismus. Sie wird erzählt in Schulen und Parlamenten, in Fabriken und Büros, in Familien und Beziehungen; sie rechtfertigt Dominanz zwischen Geschlechtern, ethnischen Gruppen, sozialen und ökonomischen Gruppen, und zwischen Nationalgesellschaften. Man erzählt sie, bevor man ein Land militärisch angreift, bevor man Sozialleistungen streicht, bevor man jemand ein blaues Auge schlägt. Es steht heute ein großes Repertoire an Variantenbären zur Verfügung. Selbstgefällige Bären, frustrierte Bären, schulmeisternde Bären, locker scherzende Bären. Heiße und kalte. Aber das Muster bleibt gleich. Nein, wir nehmen uns nicht mehr heraus als die anderen, Gott behüte. Wir verhelfen nur den Regeln zur Geltung, die für alle gelten.

Zukünftige ArchäologInnen, die unsere Zivilisation ausgraben, wären erstaunt über die unglaubliche Menge an Artefakten, die diese Zivilisation des demokratischen Zeitalters hervorgebracht hat: Raumfahrtzentren und Endlagerstätten, Kraftwerke und Fabrikhallen, Börsen und Konzertsäle, Business-Center und Paläste des privaten Luxus. Die ArchäologInnen der Zukunft würden dieselbe Schlussfolgerung ziehen wie wir, wenn wir die Pyramiden von Gizeh, die Tempel von Angkor Wat oder die Große Chinesische Mauer betrachten: dass diese Artefakte das Werk von Sklavenarbeit gewesen sein müssen, sehr wahrscheinlich Kriegsgefangene oder gewaltsam Verschleppte, und deren Kinder und Kindeskinder. Damit wären sie nicht weit weg von der Wahrheit.
Die Artefakte des demokratischen Zeitalters sind in der Tat Sklavenarbeit. Sie sind die Arbeit von Sklaven und Sklavinnen der heutigen Weltordnung; von Kriegsgefangenen in einem allgemeinen Wirtschaftskrieg der Reichen gegen die Armen; von Verschleppten durch die Gewalt der Not oder fehlender Alternativen. Man drehe die Gegenstände auf dem Tisch um, sehe nach wo sie gemacht werden, frage warum sie dort gemacht werden: weil Arbeit dort billig und verfügbar ist. Man gehe der Frage nach, bei welchen Arbeiten in letzter Instanz alles endet oder anfängt, frage nach ihrer Stellung, Wertschätzung, ihren Bedingungen: man findet preiswerte Hausarbeit und Kinderbetreuung durch Frauen; Billigstarbeit von MigrantInnen und WanderarbeiterInnen auf Baustellen und beim Müllsortieren; häufig illegale, ungeschützte Arbeit derer, die ohne dieses Zubrot nicht existieren können, bei allen Arten von Bedienen, Saubermachen, Transport; Billigstarbeit in Ländern des Südens beim Rohstoffabbau, beim Nahrungsmittelanbau, bei der Fertigung in Freien Produktionszonen, in der Sexarbeit.
Man stelle die Frage, was von den Artefakten zustandekommen würde, wenn diejenigen, deren Arbeit darin gerinnt, aus freien Stücken übereinkommen müssten, sie zu bauen oder zu ihnen beizutragen. Wenn sie aus eigener Motivation dafür Zeit und Kraft bereitstellen müssten, und nicht aus dem Zwang heraus, sich in der einen oder anderen Form dafür zu verdingen. Es wären wenige der Artefakte, die übrigblieben.
Die alten Bären behaupten, wir seien gleich und frei. Nichts davon ist wahr. Wir sind weder gleich noch frei. Wir sperren unsere Kinder in Räume, die sie nicht verlassen dürfen, wo wir sie dem Kommando von Leuten ausliefern, die sie sich nicht aussuchen und denen sie sich nicht verweigern können. Wir nennen das Schule, und es setzt sich fort in Lehrstellen, Universitäten, Betrieben. Wir sagen Menschen, die über kein für ihre Existenz ausreichendes Einkommen verfügen, was sie zum Leben benötigen; wir ermitteln das anhand von Warenkörben, in die wir seit Jahrzehnten Fürst-Pickler-Eis legen, weil das nicht im Preis steigt. Wir bestimmen, ob sie umziehen dürfen, wann ihre Waschmaschine kaputt ist und gegen wen sie klagen müssen. Wir erklären denen, die von anderswo flüchten, dass die Welt leider schon verteilt ist, zufällig zu unseren Gunsten. Wir sagen ihnen, was sie legitimerweise woanders aushalten müssen und welches materielle Lebensniveau dort für sie normal ist. Wenn wir sie bei der Deportation im Flugzeug umbringen, weil sie am Knebel ersticken, gilt das als nicht so schlimm. Sie waren ja keiner von uns, sie wollten es erst werden. Wir erklären denen, die die Regeln unserer Gesellschaft für scheusslich halten, dass wir dann leider keinen Platz für sie im Leben haben. Viele nehmen das wörtlich. Verantwortlich fühlen wir uns dann nicht; wir denken darüber nach, wo sich schon früher Anzeichen für ihre Schwäche und Labilität gezeigt haben.
Es ist nicht nur die Arbeit von Sklaven, was die Artefakte unserer Zivilisation schafft. Es ist auch die Haltung von Sklaven: Was geschieht, geschehen zu lassen. Die Regeln zu befolgen, die andere gemacht haben. Zu akzeptieren, dass man Regeln vielleicht auf kompliziertem Wege ändern kann, bis dahin aber unter allen Umständen befolgt. Wir trainieren das. Wir lassen es alle lernen und scheiden die aus, die es nicht lernen. Wir schützen die nicht, die Regeln brechen. Wir schützen die Regeln.
Wir erzwingen die Sklavenhaltung genauso wie die Sklavenarbeit. Der Reiche lebt nicht nur von der Arbeit derer, die für ihn schwitzen, sondern auch von der Ohnmacht der Besitzlosen, ihn zu bestehlen. Er lebt auch von der Struktur, die ihm Land, Kapital, Wissen zuwirft und anderen nicht. Sein Kommando erstreckt sich nicht nur darauf, dass Menschen etwas für ihn tun, sondern auch darauf, dass Menschen etwas gegen ihn unterlassen.
Man stelle wiederum die Frage, was von den Artefakten übrig bleiben würde, wenn diejenigen, deren Anteil an der Welt und an der Geschichte darin verplant, verbaut, vernutzt wird, ihren Anteil daraus zurückfordern könnten. Wenn sie entscheiden könnten, welche Strebe sie, aus Zustimmung zum Projekt, zum jeweiligen Artefakt, dort belassen wollen und welche sie lieber zu Brennholz verarbeiten oder für etwas eintauschen, was ihnen für sie selbst nützlicher erscheint. Nicht alle Artefakte würde verschwinden, aber viele. Ihr Bau würde sich verlangsamen, ihre Planung vorsichtiger gestalten. Ihr Nutzen würde eindeutiger und unmittelbarer. Sie würden schrumpfen auf das, was man nicht umsonst ein "menschliches Maß" nennt - im Gegensatz zu den Ausmaßen und der Anhäufung von Artefakten, welche den ArchäologInnen zu Recht als Indiz für eine Sklavenhaltergesellschaft gilt.

Wir werden in der heutigen Welt kaum eine Gesellschaft finden, in der Freiheit oder Gleichheit auch nur annähernd verwirklicht sind, ja in der sie überhaupt als grundlegender politischer oder sozialer Wert angesehen werden - es sei denn, wir akzeptieren die kümmerlichen Definitionen von Freiheit und Gleichheit, die uns vorgesetzt werden. Die heutige Ordnung ist eine Ordnung der Herrschaft wie die meisten vor ihr, nur anderer Herrschaft oder anders konstruierter. Die Gewalt, mit der die Gesellschaft oder konkrete Einzelne und Gruppen in dieser Ordnung in das Leben und Schicksal von anderen Gruppen und Individuen eingreifen, ist teilweise kompliziert, teilweise nach wie vor simpel und primitiv, auf jeden Fall weitgehend.
Es ist die Erbsünde der demokratischen Moderne, diese Gewalt nicht prinzipiell bekämpft zu haben, sondern sich vorrangig damit zu beschäftigen, wie sie legitimiert und verregelt sein soll und wer darauf welchen Einfluss erhält. Herrschaft, die demokratisch legitimiert und ausgeübt ist, ist keine Herrschaft, so lautet das Credo (wobei es unterschiedliche Definitionen gibt, was "demokratisch legitimiert und ausgeübt" heißt). Das ist die mächtige historische Haupttendenz der demokratischen Moderne, mit der sie das Erbe älterer Herrschaftsformen antritt, wenngleich in gewandelter Form. Es gab und gibt daneben eine andere Tendenz in dieser Moderne, eine Tendenz, die Macht begrenzen will, die Herrschaft kritisiert und zurückzudrängen versucht. In dieser Tendenz ist ein Gefühl für die ungeheure Gewalt, mit der die Gesellschaft Einzelnen und Gruppen gegenübertritt, noch erhalten, und auch für die extreme Illegitimität dieser Gewalt. Die demokratische Moderne ist jedoch weniger eine Auseinandersetzung zwischen Kräften, die sich klar diesen beiden Strömungen zuordnen ließen, als vielmehr die Geschichte einer wechselseitigen Durchdringung beider Strömungen in der Praxis von Bewegungen und Organisationen, sowie in den Ideen und Utopien einzelner und ganzer Gruppen.

Das Werk Rousseaus ist von Aufeinanderprall dieser beiden Tendenzen bestimmt, aber es ist auch förmlich zerrissen zwischen ihnen. Wenn die Stiftung sich auf die Spuren der Akademie von Dijon begibt und nach Antworten sucht, die in der Tradition von Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen stehen, so sucht sie nach jenen raren Momenten, wo der Schleier über den Verhältnissen reißt und jene Gewalt und ihre Illegitimität sichtbar gemacht wird. Rousseaus Abhandlung rechnet schonungslos mit jener Gewalt ab, mit den Zumutungen der demokratischen Moderne, wie sie sich zu jenem Zeitpunkt gerade erst anschicken, die volle Macht zu übernehmen. Diese Zumutungen gehen heute weiter, als Rousseau es sich jemals vorstellen konnte - sie schreiben sich den Menschen politisch, sozial, psychologisch, technisch, ja biologisch ein. Auch die Verschleierung dieser Zumutungen, ihre Verselbständlichung, ihre scheinbar freiwillige Akzeptanz, ja Einforderung durch die Menschen selbst, geht viel weiter, als dies 1755 vorstellbar war.

Rousseau hat jedoch mit beiden Händen ausgeteilt (2), auf beiden Seiten gespielt. Er hat mit dem Contrat Social später eine Aufforderung verfasst, sich der ersten Haupttendenz der Moderne, ihrer Erbsünde, mit Haut und Haaren zu verschreiben, getrieben von der Idee, eine Herrschaft, die auf die richtige Weise formal verfasst und demokratisch legitimiert sei, sei keine Herrschaft mehr und demzufolge in der Reichweite ihrer Gewalt unbeschränkt und unbeschränkt rechtens. Rousseau hat getan, was viele nach ihm getan haben: Er hat den "Sprung" vollzogen aus den Aporien und Frustrationen der zweiten Tendenz in die Sicherheit und vermeintliche Gestaltungsmacht der ersten Tendenz. Er hat sich, um es mit Star Wars zu sagen, der dunklen Seite der Macht verschrieben. (Es ist deshalb eine scheinbare Macht, die man erringt, weil es daran nichts zu gestalten gibt. Man bildet sich ein, im Verbund mit dieser Tendenz endlich wirklich eingreifen und verändern zu können; unterm Strich unterschreibt man einfach.)

Der "Sprung" ist vergleichbar mit dem "Sprung", den Camus am Leben und Werk vieler Literaten analysiert hat, die als Atheisten beginnen und als Katholiken enden (in Der Mythos von Sisyphos).(3) Zwischen ihrer anfänglichen Überzeugung, dass es in der Moderne keine allgemein begründbaren Werte und Orientierungen mehr gibt, und ihrer späteren Überzeugung, dass diese verpflichtenden Werte und Orientierungen sich aus dem Christentum entnehmen ließen, gibt es keinen logischen Übergang, keine Herleitung. Sie "springen" einfach. Die einzige Verbindung ist die Radikalität ihrer jeweiligen Überzeugung, ihre Fixierung auf die Frage, deren Antwort sie wechseln. Man "springt", weil man es dort nicht mehr aushält, wo man sich hingestellt hat; und wenn man an diesen Punkt gekommen ist, dann springt man auch richtig. Alle literarischen Konvertiten, von denen Camus berichtet, wurden katholisch.

Es ist der Stiftung natürlich bekannt, dass Rousseau "mit beiden Händen ausgeteilt" hat, auch wenn sie in der Ausschreibung nicht davon spricht. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Rousseau sprach den Mitgliedern der neuen Gesellschaft im Contrat Social ohne weiteres auch das Recht zu, einander bei Regelverletzung zu töten, und er sah keinen Widerspruch zu seinem Anspruch, der Mensch solle unter den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags "so frei und gleich bleiben, wie vorher".) Und es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass hier Parallelen bestehen zum Schicksal der sozialistischen Bewegung und der marxistischen Theorie, die im 20. Jahrhundert auf beiden Seiten gespielt hat, auf der Seite der Kritik an der Gewalt und den Zumutungen der demokratischen Moderne und auf der Seite der Rechtfertigung dieser Gewalt und der Unterwerfung unter diese Zumutungen. Wenn die Stiftung die Frage ausschreibt, unter welchen Bedingungen sich Freiheit und Gleichheit vereinbaren lassen, hält sie daran fest, dass diese Aufgabe ungelöst ist. Indem sie zu Rousseaus zweiter Abhandlung zurückgeht, sucht sie nach einer alternativen Zukunft für die vergangene Kritik, so wie sie im Zurückgehen auf Rosa Luxemburg nach einer alternativen Zukunft für die Sache der sozialistischen Kritik sucht.

Die Frage der Stiftung zielt auf das Herz der Ordnung, in der wir leben. Es ist ein kaltes, zur Gewalt bereites Herz, das Herz einer aufgeklärten Sklavenhaltergesellschaft und das Herz alter Bären; in vielen Fällen auch "gesprungener" Bären. Es gehen von der Frage allerdings einige falsche Fährten aus. Die Stiftung ergreift eine Frage der Zeit und macht sie zum Thema; und als eine Frage der Zeit ist sie unweigerlich von Konnotationen begleitet, von mitgedachten Vorannahmen, die selbst in Frage zu ziehen sind. Anders gesagt, die Frage kann in der gestellten Form bestimmte Vorstellungen nahelegen, die nicht geeignet sind, eine befreiende Antwort zu finden. Die wichtigsten sind:

Diese Vorstellungen, die man in die Ausschreibung zumindest hineinlesen könnte, werden in dieser Abhandlung jedenfalls nicht geteilt. Hier wird vertreten, dass Freiheit und Gleichheit zusammenfallen in der Idee der freien Kooperation; dass die Modelle der "zynischen Freiheit" und der "ohnmächtigen Gleichheit", wie sie im demokratischen Kapitalismus und im Realsozialismus propagiert und realisiert wurden, weder mit Freiheit noch mit Gleichheit viel zu tun haben; dass die Antwort auf die Frage nicht in einem gesellschaftlichen Ordnungssystem liegt, sondern in einer Politik; dass die verschiedenen Orte und Kooperationen einer Gesellschaft in Form der Selbstähnlichkeit miteinander verbunden sind, und dass eine kritische Utopie und eine ihr verpflichtete Politik nicht die Struktur einer Rahmensetzung haben, sondern ebenfalls ein selbstähnliches Programm für verschiedenste Bereiche und Kooperationen entfalten müssen; dass die Qualität politischer Theorie daraus resultiert, dass sie sich der tatsächlichen Praxis emanzipatorischer Versuche eng anlegt (wie das Kleid, von dem Danton bei Büchner spricht)(4) und für diese und andere Versuche nutzbar ist, während die Qualität von politischer Theorie und von Wissenschaft allgemein ganz sicher nicht daraus resultiert, sich von den Normen des akademischen Systems für ihre denksportlichen Höchstleistungen auf die Schulter klopfen zu lassen.

Die Frage wird also durch die Antwort eine Rekonstruktion erfahren. Dies kann auch nicht anders sein; weil eine Antwort, die Neues wagt, wie die Stiftung dies ausdrücklich einfordert, nicht schon in der logischen Form der Frage enthalten sein kann, so dass sie gewissermaßen nur daraus abgeleitet zu werden brauchte. Die Antwort muss in der Wirklichkeit wildern und den Teppich der Frage schmutzig machen, anders ist sie keine.

Die Antwort, die hier gegeben wird, lautet: Frei und gleich sind Menschen im Rahmen einer freien Kooperation. Freie Kooperation hat drei Bestimmungen: Freie Kooperation beruht darauf, dass die vorgefundenen Regeln und die vorgefundene Verteilung von Verfügung und Besitz ein veränderbarer Fakt sind und ihnen keinerlei höheres, objektivierbares Recht zukommt. Freie Kooperation besteht darin, dass alle Beteiligten dieser Kooperation sie aufgeben, ihre Kooperationsleistung einschränken oder unter Bedingungen stellen können, um auf die Regeln der Kooperation in ihrem Sinne einzuwirken, und zwar zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis, und dass sie dies individuell und kollektiv auch wirklich tun. Freie Kooperation bedarf einer Politik, die sie immer wieder aufs Neue realisiert, indem sie die Grenzen der Freiheit und die Realität der Gleichheit praktisch erprobt und indem sie die äußeren und inneren Voraussetzungen des "vergleichbaren und vertretbaren Preises" durchsetzt. (Dies ist gleichzeitig die Definition von "linker" Politik im Gegensatz zu "rechter".) Hierfür lassen sich, im Sinne einer Politik "mittlerer Reichweite", die wesentlichen Elemente bzw. Kriterien angeben, die sich auf alle Bereiche gesellschaftlicher Kooperation anwenden lassen.

Diskussion dazu bitte vorwiegend im weiteren Textverlauf bei der ausführlichen Argumentation

Die Antwort knüpft an bei Rousseaus zitierter Passage über die Ketten der Abhängigkeit. Wir sind daran gewöhnt, dass über die Ordnung unter den Bäumen diskutiert wird, wie sie möglichst frei und gleich würde, was als Misshandlung gelte und wie sie zu verhindern sei. Dabei übersehen wir, dass in den theoretischen Überlegungen und in der politischen Praxis des demokratischen Zeitalters die Menschen unter dem Baum festgehalten werden. Sie sind das theoretische und praktische Objekt der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung. In dieser Rolle können wir jedoch niemals frei und gleich werden. Wenn jemand den einen Baum verlassen und zu einem anderen gehen möchte, macht es keinen Sinn, zu sagen: Er (oder sie) irrt sich. Wir können den Fakt, dass jemand mit dieser Kooperation, wie sie unter jenem Baum stattfindet, nicht zufrieden ist, nur zur Kenntnis nehmen: ob es sich nun um eine Beziehung handelt, eine Gruppe, ein Projekt, oder eine Gesellschaftsform. Ob jemand eine Kooperation für sich weiter erstrebenswert findet oder nicht, ist eine Tatsache, die wir nicht theoretisierend oder durch eine preskriptive Praxis, also durch Vorschriften, hinterschreiten können. Es ist der realexistierende Zynismus demokratischer Herrschaftspraxis, Menschen unter einen Baum zwingen und ihnen beweisen zu wollen: Euch geht's doch gut!

Umgekehrt wird jedoch ein Konzept daraus. Wenn Menschen nach Freiheit und Gleichheit streben, so tun sie das in aller Regel dadurch, dass sie ihren Baum verlassen; oder dass sie auf die Ordnung unter ihrem Baum Einfluss gewinnen, weil sie ihn sonst verlassen oder das Spiel unter dem jeweiligen Baum nicht mehr wie bisher mitspielen. Dies ist die allgemeinste Form emanzipativer Praxis. Linke Politik - eine Politik, die Herrschaft ablehnt und tatsächliche Freiheit und Gleichheit befürwortet - kann diese konkrete emanzipative Praxis weder theoretisch vorwegnehmen noch praktisch überflüssig machen. Inhalt linker Politik ist es, dafür einzustehen, dass diese emanzipative Praxis stattfinden kann - und zwar für alle und zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis. Es gibt keinen "großen Wurf", keine "gesellschaftliche Ordnung" im traditionellen Sinne, die konkrete Emanzipation und linke Politik entbehrlich machen könnte. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den Rousseau an der zitierten Stelle erweckt, gibt es keinen gesellschaftlichen Zustand, wo die Menschen "nichts besitzen" würden. Es gibt immer Formen der Verfügung, wenn auch vielfältige, und sie sind immer dafür offen, in Herrschaft zu münden. Und selbst die Wegnahme von herrschaftsförmigen Zugriffen, die Abschaffung von Zwang, sagt uns noch nichts darüber, wie wir leben möchten.

Der Titel der Abhandlung ist doppelsinnig. "Gleicher als andere" ist Orwells Formulierung. In Animal Farm stellen die Tiere eines Tages fest, dass das erste Gesetz "Alle Tiere sind gleich" von den Schweinen ergänzt wurde: "aber einige Tiere sind gleicher als andere".(5) Es ist ein Bild dafür, wie Herrschaftsordnungen des demokratischen Zeitalters Freiheit und Gleichheit proklamieren, den Sinn jedoch so verdrehen, dass sie hinterrücks Unfreiheit und Ungleichheit schaffen und legitimieren. So sind im demokratischen Kapitalismus immer schon einige Tiere freier als andere gewesen, und im Realsozialismus einige Tiere gleicher als andere - was mit Freiheit und Gleichheit dann eben wenig zu tun hat.

In dieser Abhandlung wird jedoch auch vertreten, dass Freiheit und Gleichheit nicht durch eine Rahmensetzung von oben gewährt oder verwirklicht werden können. Freiheit und Gleichheit oder, wie sie hier zusammengefasst werden, freie Kooperation, ist die Leistung von Menschen, das Ergebnis einer Politik im weitesten Sinne, und sie ist eine Eigenschaft von Kollektiven - eben von Kooperationen, egal ob es sich um Gesellschaften, Gruppen, Beziehungen, ökonomische Kollektive oder Kollektive von Gesellschaften handelt. In diesem Sinne gibt es sehr wohl Kooperationen, die freier und gleicher sind als andere. Das Selbstbewusstsein einer zukünftigen linken Politik wird sich nicht daraus speisen, "die Probleme gelöst" und "Freiheit und Gleichheit durchgesetzt" zu haben, weil dies nie ein für alle Mal der Fall sein kann. Es wird sich darauf stützen, freier und gleicher als andere zu sein und auf allen Ebenen dafür zu wirken. Und es wird sich darauf stützen, sich nicht zu verneigen - nicht vor angeblichen Errungenschaften, nicht vor angeblichen Notwendigkeiten, und nicht vor der aktuellen Tageswährung von Freiheit und Gleichheit, wie sie an den Börsen herrschaftlicher Selbstdarstellung gerade gehandelt wird.(6)


Erster Teil: Freiheit und Gleichheit
 

Morpheus: What is the Matrix? It is the world that has been pulled over your eyes to blind you from the truth.
Neo: What truth?
Morpheus: That you are a slave, Neo. Like everybody else, you were born into bondage ... kept inside a prison that you cannot smell, taste, or touch. A prison for your mind.

Andy und Larry und Wachowski, The Matrix

Das Putzfrauen-Dilemma

Der heutige bürgerliche Mittelstand ist vertraut mit einem Problem, das als "Putzfrauen-Dilemma" bekannt ist. Es geht etwa so: Nach dem ersten Kind geht die Frau wieder arbeiten. Da sie in konventioneller Weise für den Bereich der familiären Reproduktion verantwortlich ist, kauft sie fremde Dienstleistungen ein, um sich die Zeit zu verschaffen, in der sie arbeiten geht: Sie beschäftigt eine Putzfrau. Die Putzfrau kostet Geld. Nun arbeitet aber die Frau, die die Putzfrau anstellt, selbst in der Regel Teilzeit. Sie wird aufgrund von Babypause, Qualifikationsverlust und allgemeiner patriarchaler Lohnpolitik vergleichsweise schlecht bezahlt. Da überdies die staatliche Steuerpolitik sie benachteiligt bzw. den männlichen "Alleinernährer" besonders fördert, stellt sich heraus: Es lohnt sich nicht. Der Mehrverdienst geht für das drauf, was die Putzfrau kriegt, ja womöglich zahlt man noch drauf, und wenn die Putzfrau dann noch Sozialabgaben kriegen soll, du lieber Himmel. Ohne Putzfrau kann die Frau nicht wieder arbeiten gehen; mit Putzfrau aber auch nicht. Das ist das Putzfrauen-Dilemma.

Das Putzfrauen-Dilemma betrifft verschiedenste Dienstleistungen und Lebensformen. Seine Ökonomie lässt sich in Kategorien von Geld oder von Zeit beschreiben. Was kostet die Tagesmutter? Wieviel Zeit kostet es, die Kinder zur Kita zu schaffen, wieder abzuholen, an Elternabenden teilzunehmen, unter Umständen alle paar Wochen für alle zu kochen usw.? Wieviel Ärger bereitet die Putzfrau, die ständig alles falsch macht? Der stöhnende Ausruf, dass es "sich nicht lohnt", wird von traditionellen patriarchalen Kleinfamilien ebenso erhoben wie von homosexuellen Lebensgemeinschaften oder alternativen WGs, die alle ihre Putzfrau haben wollen. Er wird auch von karriereorientierten Singles ausgestoßen, die feststellen, dass ihre aktuelle Beziehung soviel Beziehungsarbeit oder soviel Geld kostet, dass die emotionalen, zeitlichen und finanziellen Kosten den Gewinn für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft überwiegen. Im Prinzip folgt auch das unternehmerische Jammern über die hohen Lohnnebenkosten und dass Arbeit "zu teuer" ist, dem Muster des Putzfrauen-Dilemmas. "Ohne" geht es nicht, "mit" aber lohnt es sich auch nicht.
Natürlich haben alle ihre Putzfrau. Natürlich lohnt es sich anscheinend doch.

Worum geht es also? Es geht um Ideologie; es geht um die Verteidigung eines Anspruchs; es geht um eine Politik, diesen Anspruch durchzusetzen. Dieser Anspruch lautet: Du musst weniger kosten als ich. Und: Du musst akzeptieren, dass ich den Preis festsetze, so dass du weniger kostest als ich. Und zwar deutlich weniger.
Dies ist das Putzfrauen-Prinzip. Wo immer über das Putzfrauen-Dilemma lamentiert wird, geht es im Kern um die Durchsetzung des Putzfrauen-Prinzips: des Anspruchs, dass jemand anders weniger kosten muss als wir und dass wir die Bedingungen der Kooperation möglichst einseitig diktieren.

Kooperationen

Es ist ein äußerst merkwürdiger Anspruch. Unter Menschen, die sich als halbwegs gleich betrachten, wird er nicht erhoben. Nimmst du meine Kinder, nehm ich deine Kinder; leihst du mir eine Stunde dein Ohr, leih ich dir meins; trägst du meinen Umzugskarton, trag ich deinen; trage ich das meine zu unserer Kooperation bei, trägst du etwas anderes bei. All dies können wir (nicht in jedem Fall, aber grundsätzlich) als gewinnbringende Kooperation betrachten; wir erwarten dabei nicht, dass wir etwas geschenkt bekommen. Wir würden es als diskriminierend empfinden, wenn jemand sagt: Hör mal, du kannst doch meine Kinder etwas öfter mit vom Kindergarten nach Hause nehmen als ich deine, meine Arbeitszeit ist nämlich teurer bezahlt als deine! (Was nicht heißt, dass so etwas nicht hin und wieder tatsächlich gesagt wird.)
Das ist genau der Punkt: Zwischen Menschen, die sich als gleich betrachten, sind wir äußerst empfindlich gegenüber dem Ansinnen, die eigene Zeit, Kraft, Leistung, Person sei fühlbar weniger wert als die des anderen. Und wir sind äußerst empfindlich, wenn wir den Eindruck gewinnen, dass sich die konkrete Kooperation für den anderen deutlich mehr lohnt als für uns selbst. Wir erwarten aber nicht (jedenfalls nicht bewusst), dass sie sich für uns deutlich mehr lohnen muss als für den anderen. Unter Gleichen definieren wir "es lohnt sich" als: "Diese Kooperation ist besser für mich, als wenn ich sie nicht hätte." Wir definieren "es lohnt sich" nicht als: "Diese Kooperation lohnt sich, weil ich dir weniger gebe als du mir."

Der Jammer über das Putzfrauen-Dilemma bezieht seine emotionale Kraft und seine scheinbare Plausibilität also daraus, dass wir legitimerweise empfindlich sind gegenüber einer Kooperation, die sich für andere mehr lohnt als für uns, und dass diejenigen, die da jammern, oft sowieso den Verdacht haben, in anderen Kooperationen ausgenommen zu werden (was ja z.B. im Fall der patriarchalen Kleinfamilie oft auch zutrifft für die Kooperation mit dem männlichen "Hauptarbeiter"). Ein Argument und eine Haltung, die unter (dem Anspruch nach) Gleichen gerechtfertigt sein könnten, werden dazu verwendet, eine Struktur der Ungleichheit zu rechtfertigen und einzufordern. Wir merken dies schon daran, dass wir diese Position gar nicht erst einer konkreten Verhandlung aussetzen würden. Jedenfalls hört man selten Gespräche wie: "Hör zu, ich verdiene netto und nach Abzug aller Kosten und Nachteile 1.500 für 100 Stunden im Monat, wenn ich wieder arbeiten gehe. Wenn ich dir pro Woche 25 Mark die Stunde gebe für acht Stunden, sind das 800 Mark im Monat. Du verdienst also mehr dran, dass ich arbeiten gehe, als ich, und kriegst fast doppelt soviel Stundenlohn. Wenn ich dann noch den Kindergarten abziehe, arbeite ich praktisch für umsonst!" - "Ja, aber dir geht es doch gar nicht nur ums Geld. Du willst diese Lösung, weil du wieder deine Arbeit machen willst, weil du deinen Wert auf dem Markt wiederherstellen willst, oder weil du deine Stellung gegenüber deinem Mann behaupten willst. In jedem Fall tauschst du eine Arbeit, die du gerne machst und die dich weiterbringt, gegen eine Arbeit, die du nicht gerne machst und die dich nicht weiterbringt, nämlich Putzen. Es wird dich vielleicht überraschen, aber mich bringt Putzen auch nicht weiter, und ich kann mir auch interessantere und angenehmere Arbeiten vorstellen. Und dass du den Kindergarten geistig von deinem Job abziehst und nicht von dem von deinem Typen, ist nicht mein Bier; willst du die Kinder ewig in deinem Wohnzimmer stapeln? Wenn ichs mir recht überlege, fände ich 30 Mark eigentlich angemessen."
Wir möchten uns so etwas gar nicht anhören. Wenn wir über das Putzfrauen-Dilemma jammern, wollen wir nicht verhandeln. Wir hängen der Vision an, die Bedingungen setzen zu können, nicht verhandeln zu müssen, einfach verfügen zu können. Der Vision von Herrschaft mithin. Wir beschweren uns darüber, dass wir in einem bestimmten Bereich, in einer bestimmten Beziehung, nicht genügend herrschen.

Was ist Herrschaft?

Was ist Herrschaft? Herrschaft besteht darin, über andere verfügen zu können: ihre Arbeit, ihren Körper, ihre Person. Es spielt dafür keine Rolle, ob das in guter Absicht geschieht, oder unwillkürlich, ob es für die Beherrschten in dieser oder jener Hinsicht vielleicht "nützlich" ist. Es spielt keine Rolle, wer uns dazu ermächtigt hat, ob uns diese Herrschaft zugefallen ist, ob wir hart dafür gearbeitet haben oder ob wir sie einfach beansprucht haben. Es spielt auch keine Rolle, ob sie uns jemand durch demokratische Verfahren zugeteilt hat, ob sie durch Verträge zustandekommt, ob wir sie erkauft haben, ob die Beherrschten sie uns freiwillig geben. All dies sind wichtige Unterschiede, es ist nicht egal für das, was abläuft. Aber all dies ändert nichts daran, dass hier Herrschaft vorliegt.

Von den verschiedenen TheoretikerInnen der verschiedenen sozialen Bewegungen sind unterschiedliche Aspekte von Herrschaft betont worden, oder genauer gesagt, die Betrachtung von Herrschaft wird von unterschiedlichen "Urbildern" geprägt. Die marxistische Theorie geht vom Urbild des Arbeiters aus, dessen Leben darin besteht, dass er für den Mehrwert des Unternehmers verschlissen wird; die feministische Theorie geht vom Urbild der Frau aus, die unbezahlte Reproduktionsarbeit in der Familie leistet und sexueller Gewalt ausgesetzt ist; TheoretikerInnen der schwarzen Emanzipation gehen vom Urbild des Sklaven oder der Sklavin aus, die als Ding gehandelt werden, grundsätzlich völlig schutzlos sind und gewaltsam aus ihrer Welt in eine andere verfrachtet wurden. Schwul-lesbische Theorie geht aus vom Urbild des Menschen, der für seine Sexualität zum Monstrum gemacht wird, um die herrschende Form der familiären Reproduktion und der geschlechtlichen Sozialisation allgemein zu erzwingen; Theorien der antikolonialen Befreiung vom Urbild einer Gesellschaft, die von außen überfallen und zerstört und deren eigene Entwicklung ausgeschaltet wird.

Die Aufzählung ist weder vollständig, noch die Urbilder verpflichtend. Je nach Urbild geraten die einen Aspekte und Formen von Herrschaft schärfer in den Blick und andere weniger. Je schärfer eine Theorie der Befreiung den Fokus auf das eine oder andere Urbild einstellt, je wuchtiger ihre Argumentation die jeweilige Form der Unterdrückung und die entsprechende Notwendigkeit der Befreiung zum Ausdruck bringt, desto unschärfer werden die anderen Formen. Das kann sie nicht nur in Gegensatz zu anderen Befreiungskämpfen bringen, es kann sie auch von der nachfolgenden Generation entfremden, deren Erfahrung durch das bisherige Bemühen um Befreiung bereits verändert ist: sowohl ihre Erfahrung von Herrschaft, als auch ihre Notwendigkeiten von Befreiung sind andere geworden und finden im Urbild nicht mehr ihren adäquaten Ausdruck. Eine Weiterentwicklung der Theorie, weg vom Urbild, wird unumgänglich.

Die Entfernung vom Urbild birgt jedoch ebenfalls Gefahren. Eine allgemeine Theorie von Herrschaft, die sich nicht mehr auf die historischen Urbilder bezieht, wird zu einer leidenschaftslosen Abstraktion, der aus dem Blick gerät, dass hier von Herrschaft die Rede ist und nicht von einer unpersönlichen Fehlentwicklung. Eine solche Haltung ist heute durchaus Mode. Es wird dann etwa leicht hingesagt, "der Kapitalismus kann die Probleme der Welt nicht lösen", wie wenn es sich um eine fehlerhafte Rechenaufgabe handle und nicht um die Vergewaltigung von Menschen durch Menschen. Entsprechend zu kurz greifen dann die Vorstellungen, wie eine solche Situation zu ändern sei.

Die Suche nach einem verallgemeinerten Begriff von Herrschaft rechtfertigt sich aus der Notwendigkeit der Weiterentwicklung und aus der Notwendigkeit von Bündnissen quer zu den verschiedenen Befreiungsbewegungen. Sie muss sich der Gefahr bewusst sein, stets zu kurz zu greifen. Auf den ersten Blick scheint Herrschaft zum Beispiel in zwei Aspekte zu zerfallen: den Aspekt der Ausbeutung, der Aneignung fremder Arbeit und Natur zu eigenem Nutzen, und den Aspekt der Dominanz, der Bestimmungsgewalt über andere. Wenn wir jedoch fragen: "Gibt es ein objektives Kriterium für den Nutzen, den jemand aus fremder Arbeit und Natur zieht, ein quantifizierbares Kriterium für Ausbeutung?" und wenn wir diese Frage verneinen, dann fließen beide Aspekte wieder in Eins zusammen. Herrschaft richtet die Welt so und so ein. Sie schafft eine Welt, wie sie der Herrschende sich erträumt, indem er über den Beherrschten verfügt.

Die Rede ist hier also von einem verallgemeinerten Begriff von Herrschaft, der aus der Konfrontation konkreter Erfahrungen gewonnen wird, nicht von einem allgemeinen, abstrakt hergeleiteten. Wir kommen auch bei der Suche nach einem verallgemeinerten Begriff nicht ohne Urbilder aus, ob wir sie beschreiben oder nur mitklingen lassen, weil allgemeine Begriffe von Herrschaft immer eine Abstraktion bleiben, die ihren Nutzen für konkrete Unterdrückungsverhältnisse beweisen müssen.

Wenn wir uns also auf dem dünnen Eis eines verallgemeinerten Begriffs von Herrschaft bewegen wollen, dann können wir sagen: Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat.

Die zeitgenössische Sklavenhaltergesellschaft versucht, Herrschaft die Nähe zu den erwähnten Urbildern zu nehmen. Matrix stellt ein anderes Urbild vor, um die postmoderne Realität von Herrschaft sichtbar zu machen. Wir bekommen eine Gesellschaft gezeigt, in der all die hässlichen klassischen Urbilder an den Rand gedrängt sind und wir uns augenscheinlich frei und gleich bewegen. Nur ist das nicht die Wirklichkeit, sondern eine virtuelle Inszenierung. In Wahrheit ist die Struktur der Verfügung und erzwungenen Kooperation total. Wir sehen das aber normalerweise nicht, obwohl es Hinweise gibt und ein unbestimmtes Gefühl.(7) Wir sind Opfer der "Matrix", der Welt, die uns über die Augen gezogen wird: der Selbstinszenierung einer demokratischen Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie gegen die klassischen Urbilder kämpft und dass sie selbst nicht herrschaftsförmig ist. Dieses virtuelle Welt macht uns blind gegenüber der Realität: dass wir Sklaven sind. Verfügbar. Regeln und Kontrollen unterworfen, denen wir uns nicht entziehen und über die wir nicht bestimmen können. Den ganzen Tag, mit all unseren Empfindungen und Fähigkeiten; bis ans Ende unserer Tage und bis in die siebte Generation. Sehen können wir das, wenn wir die oben genannte Definition von Herrschaft anwenden. Fast alles ist erzwungene Kooperation. Auf die Frage "Was ist die Matrix?" lautet die Antwort: die Matrix ist die Inszenierung des Sozialen, aus der die Idee der freien Kooperation vollständig ausgetrieben ist. Dadurch bewirkt sie, dass wir die Stäbe unseres Gefängnisses weder riechen, noch schmecken, noch berühren können. Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns.

Unserer Putzfrau würden wir auch gerne eine "Matrix" überziehen, eine Betrachtungsweise die ausblendet, dass wir in diesem Verhältnis auf der herrschenden Seite stehen. Was blenden wir dabei aus? All das, was unsere Putzfrau hindert, frei zu verhandeln oder etwas anderes zu machen. Indem wir der Frage nachgehen: "Warum machen Putzfrauen das?" gewinnen wir einen Eindruck, wodurch erzwungene Kooperation erzwungen wird.

Man kann, um es in der Art Tucholskys zu sagen, einen Menschen (oder eine Gruppe von Menschen) auf vielerlei Art versklaven. Es ist nichts darunter, was in unserer heutigen Gesellschaft oder unserer heutigen Weltordnung nicht zur Anwendung käme. Es gibt keine abschließende Beschreibung der Methoden und Instrumente, mit denen Herrschaft ausgeübt, d.h. Ausbeutung und Dominanz erzwungen wird. Für einen pragmatischen Überblick, auf den in der Folge zurückzukommen sein wird, lässt sich folgende Einteilung vornehmen:

  1. Die Ausübung oder Androhung direkter, physischer Gewalt - die "militärische" Ebene von Herrschaft.
  2. Strukturelle Unterordnung, d.h. die Errichtung oder Aufrechterhaltung von Regeln und Verteilungen in einer sozialen Kooperation, die zu einer systematisch unterschiedlichen Anhäufung von Macht führen - die "ökonomische" Ebene von Herrschaft.
  3. Diskriminierung, d.h. ausschließende Solidarität einer Gruppe gegen den "Rest" - die "soziale" Ebene von Herrschaft.
  4. Kontrolle der Öffentlichkeit, d.h. der maßgebliche Einfluss darauf, wie in einer Kooperation geredet und gedacht wird, welche Interpretationen und Normen die vorherrschenden sind - die "institutionelle" Ebene von Herrschaft.
  5. Abhängigkeit, d.h. die Ausschaltung von Alternativen für die jeweils andere Seite in der Kooperation, so dass diese Kooperation für die Gegenseite möglichst alternativlos wird - die "existentielle" Ebene von Herrschaft.

Die Trennschärfe dieser Einteilung ist begrenzt. Es geht hauptsächlich darum, eine Vorstellung zu gewinnen, was in einer Kooperation alles an Herrschaftsinstrumenten zum Einsatz kommt oder kommen kann; wir vergessen leicht ganze Ebenen dabei. Die Spannweite der Instrumente, die auf diesen fünf Ebenen verwendet wird, ist groß. Die "militärische" Ebene, die der direkten Zwangsgewalt, reicht von den Fäusten des Nachbarsjungen, der uns auf dem Schulhof verprügelt um regelmäßig an unser Pausenbrot zu kommen, bis zu militärischen High-Tech-Systemen, mit denen wir fremde Länder überfallen. Strukturelle Unterordnung hat meistens mit Arbeitsteilung zu tun, aber ebenso mit den "terms of trade", den Bedingungen zu denen gehandelt wird. Abhängigkeit kann materiell bewirkt sein, aber auch technisch, psychologisch oder emotional. Die Instrumente reichen von so modernen Instrumenten wie der angestrebten gentechnischen Revolution in der Landwirtschaft bis zu äußerst traditionellen, wie der sozialen Isolierung der Frau in der patriarchalen Gesellschaft.

Herrschaftsbeziehungen "sprechen" auf allen Ebenen. Es ist wichtig für Herrschaft, die einzelnen Ebenen ineinander "übersetzen" zu können - aus militärischer Überlegenheit ökonomische Unterordnung zu machen und umgekehrt, Abhängigkeit in Kontrolle der Öffentlichkeit umsetzen zu können und umgekehrt, usw. Wir unterschätzen meist, wie komplex und weitreichend die Instrumente sind, die in ganz konkreten Beziehungen zum Einsatz kommen oder "im Hintergrund" genutzt werden. Als einzelne Person wenden wir meist keine unmittelbare Gewalt gegen unsere Putzfrau an, um sie zur Arbeit zu zwingen. Dass sie aus Bosnien geflüchtet ist, vor militärischer Gewalt, oder aus Osteuropa eingewandert, auf der Flucht vor den Folgen struktureller Unterordnung, spielt für unser Verhältnis jedoch eine große Rolle; es beeinflusst die Alternativen, die sie hat. Wir diskriminieren die Gruppe unserer eingewanderten Putzfrauen gemeinsam, indem wir z.B. ihre Ausbildung und Abschlüsse nicht anerkennen und dadurch ihre Arbeit verbilligen bzw. auf den Putzsektor hin dirigieren. Dass Putzfrauen schlecht organisiert sind und dadurch wenig Kontrolle der Öffentlichkeit haben, nehmen wir dankend als Vorteil an.

Aufgrund der Komplexität von Herrschaftsinstrumenten ist das Gewaltmonopol übergeordneter Strukturen keine Lösung; es dient denen, die auf den anderen Ebenen (denen außer der "militärischen") Vorteile haben und zur Anwendung bringen. Auch auf den anderen Ebenen von Herrschaftsinstrumenten bringt eine Politik, die der des Gewaltmonopols entspricht, keine Lösung - wir wissen heute, dass die Verstaatlichung von produktivem Eigentum und ökonomischer Verfügung an sich keineswegs bewirkt, dass strukturelle Unterordnung verschwindet. Die Politik der "Zivilisierung", typisch für das demokratische Zeitalter, ist entsprechend ambivalent: sie mag positive Elemente einer Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten enthalten, zumeist wirkt sie jedoch negativ im Sinne einer Entwaffnung der Beherrschten, um sie desto reibungsloser den anderen Instrumenten und Ebenen von Herrschaft auszuliefern.

Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten bildet daher einen wesentlichen Bereich linker Politik, einer, die auf das Ziel von Freiheit und Gleichheit abzielt bzw. auf das Ziel freier Kooperation. Dies kann bereits festgehalten werden, auch wenn Abwicklung keineswegs ausreicht.

2. Zynische Freiheit, ohnmächtige Gleichheit

Freiheit schafft Ungleichheit. Gibt man zwei Menschen Freiheit, wird immer einer erfinderischer und produktiver sein als der andere.
Themba Sono, südafrikanischer Ökonom

Realsozialismus und demokratischer Kapitalismus

Wenn wir dem Anschein nachgehen, es handle sich beim demokratischen Kapitalismus und beim Realsozialismus um zwei Systeme, von denen das eine politische Freiheit auf Kosten von sozialer Gleichheit, das andere soziale Gleichheit auf Kosten von politischer Freiheit verwirklicht hätte, dann begehen wir damit die Ruinen eines politischen Anspruchs. Wir besichtigen die dürftigen Reste, die übriggeblieben sind. Und wenn wir sie antippen, fallen sie um und stürzen zu Staub.

Es ist der Erinnerung wert, dass beide Systeme ursprünglich auf den politischen Anspruch zurückgehen, sowohl Freiheit als auch Gleichheit zu realisieren. Die amerikanische Unabhängigkeitsverfassung enthält nicht umsonst den Passus, wonach die Menschen frei und gleich geboren wären und deshalb unverbrüchliche und unveräußerliche Rechte hätten.(8) (Was weder die Vernichtungskriege gegen die Indianer noch die Versklavung der Schwarzen im Süden verhinderte.) Die realsozialistische Gesellschaft interpretierte sich an ihrem Ausgangspunkt als Form der Befreiung, als Schritt auf dem Weg, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", wie es bei Marx heißt.(9) (Was weder Massenhinrichtungen noch Zwangsarbeit verhinderte, die nicht erst unter Stalin, sondern bereits in den ersten Jahren der Sowjetunion an der Tagesordnung waren.) Gemessen an diesen Ansprüchen, betrachten wir heute eine Welt des doppelten Scheiterns. Erst in der Ära des Neoliberalismus, also ab den frühen Siebziger Jahren, und parallel dazu in der Ära Breschnew, engte sich die Selbstdarstellung der Systeme ein: der demokratische Kapitalismus stand zunehmend offen zur sozialen Ungleichheit und argumentierte für sich, wenigstens politisch "freier" zu sein; der realexistierende Sozialismus versuchte immer weniger, die politische Unfreiheit zu kaschieren, sondern verteidigte sich damit, wenigstens sozial "gleicher" zu sein. Gemeint war damit im einen Falle das System juristisch verbriefter "Freiheitsrechte" (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit usw.), im anderen Fall die geringere Schere bei den Einkommen.

Einen solchen Begriff von Freiheit und Gleichheit als reduziert zu bezeichnen, wäre unverdiente Milde. Was ist "frei" an einem Individuum, das sich politisch frei betätigen darf, der strukturellen Unterordnung und der Kontrolle der Öffentlichkeit durch Kapital und große gesellschaftliche Machtblöcke jedoch unverändert ausgesetzt ist? Was ist "gleich" an einem Individuum, dessen Einkommen im Verhältnis zu anderen nicht geringer als ein Drittel oder ein Viertel ausfällt, dessen persönliche Gestaltungsspielräume oder politische Einflussnahme im Verhältnis zur oberen Funktionärsklasse und der ökonomischen Elite jedoch gegen Null gehen? Wir können dem demokratischen Kapitalismus bestenfalls ein Modell der zynischen Freiheit attestieren. Der Mensch ist darin geringeren Beschränkungen ausgesetzt, wenn es ihm gelingt, eine privilegierte ökonomische Stellung zu erreichen; er hat durch die warenförmige Verfügbarkeit von Arbeit und Natur eine gewisse Chance, sich diese ökonomisch privilegierte Stellung auf Kosten anderer zu verschaffen; und er kann sich als politisch frei betrachten, wenn es ihm nichts ausmacht, dass er mit all seinen verbrieften Rechten praktisch nichts verändern kann. Dem realexistierenden Sozialismus können wir entsprechend ein Modell der ohnmächtigen Gleichheit bescheinigen. Der Mensch ist darin in geringerem Maße von vollständiger Armut bedroht, soweit er sich den gesellschaftlichen Konventionen gemäß verhält; er hat über die Möglichkeit affirmativer politischer Betätigung eine gewisse Chance, auf Kosten anderer sozial aufwärts mobil zu sein; und er kann sich als sozial gleich betrachten, wenn er die Tatsache ignoriert, dass sein Einfluss auf die gesellschaftlichen Entscheidungen (politische, ökonomische, soziale) minimal ist.

Viel ist das nicht. Im späten Realsozialismus wie auch im heutigen demokratischen Kapitalismus finden wir die Tendenz, auch noch die verbliebenen Ruinen zu schleifen, sich von sozialer Gleichheit oder von der Unveräußerlichkeit bestimmter Freiheitsrechte ebenfalls zu verabschieden. In gewisser Weise ist das konsequent. Wer erst ein Gärtchen ausweist, innerhalb dessen die Freiheit oder die Gleichheit ein bisschen grasen darf, sofern sie außerhalb dieser speziellen Sphäre nichts anrichtet, der kann irgendwann auch dieses Gärtchen planieren und Freiheit und Gleichheit gleich im Museum ausstellen.

Oder wie sollen wir es nennen, wenn Einzelne sich ganze Stiftungen kaufen können, sich vollelektronische Häuser bauen und mehrere Tausend Mark im Monat nur vertelefonieren, während wir der Sozialhilfeempfängerin für die Woche Kur ihren Leistungsbezug streichen, weil sie dort ja schon zu Essen bekommt? Ist das ein Mangel an Freiheit? An Gleichheit? Wenn Arbeiter, denen ihr Staat angeblich gehört, monatelang keinen Lohn bekommen, während die Manager des militärisch-industriellen Komplexes, bei dem sie arbeiten, auf den internationalen High-Tech-Märkten shoppen gehen, Streik aber als systemfeindlich verboten ist? Fehlende Freiheit? Fehlende Gleichheit? Freiheit und Gleichheit ist es jedenfalls nicht. Es ist, ob in Ost oder West, bestenfalls die Freiheit zu gehorchen und die Gleichheit der optimalen Verwertung. Es ist, schlicht und ergreifend, Herrschaft.

Wenn wir einfache, konkrete Fragen stellen wie: Wie groß ist der Anteil am gesellschaftlichen Leben und am gesellschaftlichen Reichtum, den ich gestalten kann? Welche alten Bären können in mein Leben hineinreden, ohne dass ich sie daran hindern kann? Von welchen hierarchisch übergeordneten Personen, gegen die ich mich nicht wirklich wehren kann, werden schicksalhafte Entscheidungen über mein Leben getroffen? Wieviele Arschlöcher muss ich überzeugen, um eine gute Idee verwirklichen zu können? Wie ist die tatsächliche tägliche Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern verteilt? Welchen Preis muss eine Frau, welchen ein Mann für den Luxus bezahlen, Kinder zu haben? Gibt es eine Gruppe von Menschen, die hauptsächlich schwere, körperliche Arbeit oder gesundheitlich belastende Arbeit leistet? Wer ist es? Werden die unangenehmen, monotonen oder schmutzigen Arbeiten am besten bezahlt und erfahren die meiste Anerkennung? Wenn das nicht der Fall ist, wie wird dann erreicht, dass sie jemand macht? Gibt es Schmürze? (10) Wenn ja, wer sind sie? Welches Maß an tatsächlicher Anerkennung und Gleichstellung erhalten Menschen, die aus anderen Ländern stammen oder die aus der Peripherie des eigenen Landes kommen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis oder in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen zu werden? Welchen Preis muss ich bezahlen, wenn ich den Wertvorstellungen und Leitbildern meiner Gesellschaft in der Praxis widerspreche? Zu welchem Leben kann ich von der Gesellschaft schlimmstenfalls gezwungen werden? Kann ich mich gesellen, mit wem ich will? Kann ich hingehen, wohin ich will, und was kostet mich das? Sind die zentralen gesellschaftlichen Entscheidungen und langfristigen Weichenstellungen für mich irgendwie erreichbar, beeinflussbar? - dann werden zwar Unterschiede deutlich, aber auch viele Ähnlichkeiten zwischen der Praxis der beiden großen politischen Systeme des demokratischen Zeitalters. Die Antworten hängen durchweg wesentlich stärker von der Position ab, die jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie einnimmt, als von der Frage, ob man in Ost oder West lebte.

Es gibt keinen Grund, warum die liberale oder die marxistische Tradition nicht in der Lage sein sollten, einen radikalen Begriff von Freiheit und Gleichheit vorzustellen und zu verfolgen. Sie tun es bloß nicht, von Ausnahmen abgesehen. Gedanken lassen sich in jeder Theoriesprache ausdrücken, wenn auch unterschiedlich gut. Die Gefangenschaft in bestimmten Grundannahmen und Axiomen einer Theoriesprache ist keine zwangsläufige, sondern eine freiwillige, eine Wahl. Aber es ist die Wahl, die vom überwiegenden Mainstream getroffen wurde und heute nach wie vor getroffen wird. Es ist die Wahl einer begrifflichen Einhegung von Freiheit und Gleichheit, eines Entzahnen und Entklauens, einer Domestikation hin zu einem Freiheits- und Gleichheitsbegriff alter Bären.

Was ist Freiheit?

Der marxistische Mainstream bestimmt Freiheit ausschließlich aus dem Verhältnis des Menschen zur objektiven Notwendigkeit; Freiheit ist Ausdruck für den Grad der Erkenntnis und praktischen Beherrschung der äußeren (und inneren) Natur. Engels berühmt-berüchtigte Formulierung aus dem Anti-Dühring, die dabei zustimmend zitiert wird, lautet: "Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein. ... Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten begründeten, Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur."(11) Auch Marx lokalisiert im Kapital das "Reich der Freiheit ... erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion."(12) Es gehört zur Schwäche des vorherrschenden Marxismus, dass er über keine Konflikttheorie verfügt.(13) Konflikte und der Umgang damit sind nicht vorgesehen. Konflikte sind immer objektiv entscheidbar, oder sie verschwinden im zukünftigen Kommunismus. Sie können daher nicht Gegenstand einer Politik des Sozialen sein, die auf Freiheit und Gleichheit Bezug nimmt.

Für den liberalen Mainstream ist Freiheit ebenfalls nicht im Bereich der sozialen Interaktion verortet. Freiheit meint hier weitestmögliche Abwesenheit von Einmischungen durch den Staat. Für alle konkreten Kooperationen zielt der liberale Freiheitsbegriff gerade auf die Befreiung von Beschränkungen, die sich aus sozialer Interaktion und Verhandlungen ergeben könnten. Im Prinzip orientiert man sich an der Formulierung aus der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1791: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet."(14) Nun müssen Menschen einander aber unter Druck setzen und mitunter schaden, um die Verhältnisse untereinander zu verändern, Herrschaftsverhältnisse zu transformieren, sich zu befreien. Die Freiheit, die niemand anderen kratzt, niemand anders wehtut, ist stattdessen eine "Freiheit", die die gesellschaftlichen Verhältnisse einbalsamiert, konserviert wie sie sind - was das Gegenteil von Freiheit ist. Der feine Unterschied zu einem radikalen Begriff von Freiheit und Gleichheit liegt denn auch darin, dass das Putzfrauen-Prinzip selbstverständlich vorausgesetzt wird, so wie dies Themba Sono in der eingangs zitierten Passage tut: dass die anderen "liefern", ihre Arbeit und Natur nämlich, gilt als ausgemacht. Das Bestreben, dies unter Bedingungen zu stellen, erscheint dann als Beschränkung der Freiheit, weil der "Erfinderischere und Produktivere" (in der Praxis wohl eher der Reichere und Privilegierte) irgendwie nicht so frei schalten und walten kann, wie er das möchte. So wird der liberale Begriff von Freiheit zu einem, der Unfreiheit sanktioniert, ja geradezu einfordert.

Das Verhältnis beider Traditionslinien zur Gleichheit ist im Grunde höchst ähnlich. Für Rawls als Vertreter eines modernen, aufgeklärten Liberalismus, ist soziale Ungleichheit jederzeit gerechtfertigt, sofern sie ökonomisch nützlich ist - so nützlich jedenfalls, dass sie auch den Benachteiligten eine Besserung ihrer Stellung bringen kann.(15) Die ganze Idee der Gleichheit wird weggeworfen für einen diffusen Wechsel auf die Zukunft. Denselben ideologischen Mechanismus finden wir auch in der marxistischen Tradition, die das "Leistungsprinzip" verteidigt und sich reale Gleichheit erst in einer fernen Zukunft kommunistischen Überflusses vorstellen kann.(16) Der ganze Unterschied der Systeme schnurrt an diesem Punkt darauf zusammen, dass wir heute unter der Herrschaft des demokratischen Kapitalismus jungen Leuten, die fragen, wie sie denn frei und gleich werden könnten, sagen: "Werdet reich!", während die klassische Antwort im realexistierenden Sozialismus lautete: "Wartet ab!"

Wie kommen wir zu einem tatsächlichen Begriff von Freiheit und Gleichheit? Einem, der nicht auf eine eng definierte Sphäre "zulässiger politischer Betätigung" oder der "maßvollen Einkommensungleichheit innerhalb einer größeren Gruppe der Bevölkerung" eingehegt ist?

Wir kennen nur eine Wirklichkeit, die des Sozialen. Aus ihr beziehen wir all unsere Maßstäbe, sie macht unser Leben aus. Alles menschliche Leben ist Interaktion, Beziehung, Kooperation. Dies ist auch der Ort, wo Freiheit und Gleichheit stattfinden. Sie finden nicht später statt, sondern hier und jetzt.

Jede menschliche Tätigkeit beruht auf der Kollektivität und Historizität von Arbeit und Natur. Was immer wir tun, wir nutzen dabei die Arbeit und Natur anderer. Wenn Freiheit bedeuten sollte, dass wir das möglichst ungehemmt und ohne Beschränkungen tun sollten, dann wäre Freiheit immer nur auf Kosten der Unfreiheit anderer möglich. Eine Freiheit aber, deren Grenzen von einer übergeordneten Instanz "erkannt" und gesetzt würden, wäre totale Unfreiheit dieser Instanz gegenüber. Beides wären überdies blinde, monadische Begriffe von Freiheit, die der lebendigen Auseinandersetzung mit anderen keinen Platz und keinen Wert zuweisen; ich bliebe auf mich zurückgeworfen, die Grenzen meiner Sichtweise wären auch die Grenzen meiner Welt, was auch nichts anderes als eine Form der Gefangenschaft ist.

Ein radikaler Begriff von Freiheit kann daher nur einer sein, der von Freiheit in der Kooperation handelt: frei bin ich, wenn ich in meiner Verhandlung mit anderen frei bin, d.h. von keiner Instanz behindert und von niemand durch Zwang beschränkt. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ich anderen in der Kooperation gleich bin: dass meine Kooperation keine erzwungene ist, sondern dass ich darüber mit anderen auf gleicher Ebene verhandeln kann, und dass dabei auch niemand über mir ist, dessen Regeln und Kontrolle ich unterworfen bin. Ein radikaler Begriff von Freiheit und von Gleichheit fallen zusammen.(17)

Freie Kooperation, wie sie hier definiert wird, hat drei Bestimmungen. Freie Kooperation liegt vor, wenn

Vereinfacht gesagt: In einer freien Kooperation kann über alles verhandelt werden; es dürfen alle verhandeln; und es können auch alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise leisten können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.

Die Freiheit zu verhandeln schließt die Freiheit ein, Verhandlungen scheitern zu lassen und zu gehen - "den Baum zu wechseln", um es mit Rousseau zu sagen. Die Gleichheit der Beteiligten schließt dabei ein, dass sie nicht mit leeren Händen gehen, sondern einen Anteil an den bisherigen Früchten der Kooperation aus dieser herauslösen und in ihre eigene Verfügung zurückführen können. Auch dieser Anteil bemisst sich nicht mathematisch, sondern nach dem Prinzip der Gleichheit: Es soll für die einen nicht wesentlich schlimmer sein, die Kooperation zu verlassen oder sie scheitern zu lassen, als für die anderen.

Die Definition gibt keine formalisierten Verfahren des Verhandelns oder der Entscheidungsfindung vor. Für solche Verfahren gilt dasselbe wie für alle anderen Regeln auch: Sie genießen kein höheres Recht, sie sind der Verhandlung nicht entzogen. Verhandeln meint hier den realen Prozess, auf den alles immer wieder zurückgeht: "Nein, wenn nicht ..."

Machen wir uns noch einmal den Unterschied klar zwischen einem solchen Begriff von Freiheit und Gleichheit, und dem liberalen und marxistischen Mainstream. Der liberale Freiheitsbegriff impliziert die freie Verfügung über fremde Natur und Arbeit. Er definiert Freiheitsrechte, die vor allem in der Abwesenheit von Beschränkungen liegen; zu diesen Freiheitsrechten gehört dabei aber gleichzeitig, dass die überkommene Verteilung von Eigentum ein unantastbares Recht der Besitzenden darstellt und nicht verhandelt werden kann, sondern "Schutz" genießt. Diese Freiheit ist mit freier Kooperation definitiv nicht gemeint. Die Individuen sind darin frei, jedwede Verteilung zur Disposition zu stellen, und sie sind frei, ihre Kooperation unter Bedingungen zu stellen, sowohl individuell als auch kollektiv. Es gibt keine Freiheit von diesem Anspruch und auch keinen Schutz dagegen. Allerdings steht es auch jedem frei, die Bedingungen der Kooperation abzulehnen und "sein eigenes Ding zu machen". Das Individuum kann also tatsächlich gern "erfinderischer und produktiver" sein als andere, wie Sono das nennt, es leitet sich daraus aber kein privilegierter Zugriff auf die Arbeit und Natur anderer ab. Die Freiheit der anderen, über die Regeln und Bedingungen jedweder Kooperation zu verhandeln, bleibt unberührt.

Der marxistische Freiheitsbegriff impliziert die objektive Erkennbarkeit der Welt und bindet sich an die "optimale Entfaltung" der allgemeinen Produktivkräfte, von der letztendlich die Freiheit des Einzelnen (und aller) sich herleitet. Auch dieser Freiheitsbegriff beinhaltet die freie Verfügung über fremde Arbeit und Natur. Es ist keine individuelle Verfügung im Sinne der "wirtschaftlichen Freiheit" des Einzelnen, wie in der liberalen Tradition, es eine kollektive Verfügung, als berechtigter Zugriff der Gesellschaft auf die Arbeit und Natur des Einzelnen, um das Ziel der Entwicklung zu erreichen. Auch dieser Freiheitsbegriff ist mit freier Kooperation definitiv nicht gemeint. Das Recht der Individuen (und Gruppen), Einfluss auf die Regeln zu nehmen, ihre Kooperationsleistung unter Bedingungen zu stellen, oder Kooperationen abzulehnen, die ihnen nicht zusagen, kann durch keine objektivierende Betrachtung oder angebliche Entwicklungsnotwendigkeit außer Kraft gesetzt werden, zu keinem Zeitpunkt. Ein Mechanismus "jetzt kann nicht verhandelt werden, aber später werdet ihr frei sein" steht in vollständigem Gegensatz zum Konzept der freien Kooperation.

Während in der liberalen und in der marxistischen Tradition der Gleichheitsbegriff schwach betont und eher negativ besetzt ist, kommt Gleichheit im Konzept der freien Kooperation zentrale Bedeutung zu. Der liberale Begriff ist der einer formalen Gleichheit, d.h. der abstrakten Gleichbehandlung der Individuen unabhängig von ihrer tatsächlichen sozialen Situation, oder bestenfalls ein Begriff der "Chancengleichheit". Die Gleichheit liegt dann darin, dass man auch Glück haben kann - Monopoly plus Lotto sozusagen. Eine tatsächliche Gleichheit der Individuen an sozialer Macht, Verfügung, Eigentum, die immer wieder neu hergestellt werden müsste, gilt als Unfreiheit, weil das findige Individuum nicht "frei" ist, die angeblichen Früchte seiner Arbeit zu behalten. Dieser Einwand wird von der Konzeption der freien Kooperation nicht geteilt. Freie Kooperation maßt sich allerdings nicht an, die Individuen (oder Gruppen) anhand irgendwelcher Parameter vollständig "gleich" zu machen oder die Verhältnisse zwischen ihnen "gerecht" zu regeln; ihr Kriterium von sozialer Gleichheit ist die gleiche Verhandlungsmacht. Den Rest regeln die Individuen (oder Gruppen) in ihrer Kooperation selbst. Wenn sie dabei Druck ausüben und Umverteilungen erstreiten, ist das ein Ausdruck ihrer Freiheit und kein Mangel an Freiheit.

Der marxistische Begriff von Gleichheit ist noch negativer, er sieht in der Gleichheit eine kleinbürgerliche Idee der Gleichmacherei, einen falschen Unmittelbarkeitsanspruch, der nicht den angeblich notwendigen Weg über die proletarische Revolution und die sozialistische Gesellschaft akzeptiert. Tatsächlich "gleich" sind die Menschen bestenfalls im Kommunismus, wo der allgemeine Überfluss Fragen von Verteilung und Verhandlung buchstäblich überflüssig macht.(17) Das Konzept der freien Kooperation beharrt jedoch darauf, dass die Individuen real gleich sein sollen in ihrer Macht, Einfluss auf die Regeln zu nehmen und ihre Kooperation aufzukündigen oder unter Bedingungen zu stellen, und zwar jederzeit. Freie Kooperation beinhaltet nicht, dass die Beteiligten einer Kooperation homogen oder identisch sind. Sie beinhaltet aber, dass die Beteiligten einander in einer sozialen Position der Gleichheit gegenübertreten. Die Kooperation ist nur frei, wenn sie gleich ist; und die Individuen können nur frei sein in einer Kooperation, wo sie gleich sind. Die beiden Begriffe bezeichnen denselben Sachverhalt.

Trotz der beschriebenen Unterschiede zur heutigen liberalen und marxistischen Traditionslinie weist die Idee der freien Kooperation allerdings eine gewisse Verwandtschaft zu Vorstellungen auf, mit denen in der Frühzeit der liberalen und marxistischen Tradition ein radikalerer Begriff von Freiheit und Gleichheit begründet wurde. Es besteht eine Verwandtschaft zu der liberalen Idee, dass niemand einem vorschreiben kann, welche Wertvorstellungen man zu haben hat und wie man glücklich wird (nur gilt dies im Konzept der freien Kooperation für alle und nicht nur für eine Elite der wirtschaftlich "Freien"). Dass das Individuum Schutz braucht vor staatlichem Zugriff und gesellschaftlichem Zwang (allerdings nicht nur das männlich-weiße Besitzindividuum, sondern jedes). Dass es keine transzendenten Grundlagen des Staates und der Gesellschaft gibt, die für alle verpflichtend wären, so dass die Menschen frei sind, sich jedwede gesellschaftliche Ordnung zu geben, ohne Einschränkung (die Theorie der freien Kooperation sagt nur, was Voraussetzungen für Freiheit und Gleichheit sind, und verteidigt das Recht aller, für ihre Freiheit und Gleichheit einzutreten und sich gegen erzwungene Kooperation zu wehren, notfalls mit Gewalt). Auch die freie Kooperation bejaht die liberale Idee, dass die Menschen frei sind, ihre Verhältnisse untereinander vollständig selbst zu regeln; nur geschieht dies nicht in Form einklagbarer Verträge, sondern in Form von Vereinbarungen, die jederzeit zur Disposition gestellt werden können.

Eine Verwandtschaft besteht auch zur marxistischen Anschauung, dass es im Grunde nur eine einzige, unteilbare Freiheit gibt, die nicht in kodifizierbaren Freiheitsrechten aufgeht. Allerdings wird diese grundlegende, unteilbare Freiheit in der Theorie der freien Kooperation anders definiert: nicht als Freiheit zur optimalen Entfaltung des geschichtlich möglichen Grades an Naturbeherrschung und gesellschaftlicher Rationalität, sondern als die Freiheit, sich seine sozialen Kooperationen zu wählen und sie selbst zu gestalten - die Freiheit, nicht in erzwungenen Kooperationen zu leben. Ganz offensichtlich besteht eine Verwandtschaft zur marxistischen Anschauung, dass den historisch überkommenen Verteilungen von Eigentum keine höheren Weihen zukommen und sie in der Regel auf Diebstahl durch Regeln beruhen (oft auch auf direktem Raub). Die Konzeption der freien Konzeption lehnt es jedoch ab, dass diese Anschauung zu irgendeinem Zeitpunkt oder in irgendeiner gesellschaftlichen Ordnung aufgegeben werden sollte, weil die Zustände jetzt angeblich die richtigen sind und Verfügungsgewalt und Regeln jetzt angeblich dem guten Zweck dienen. Und schließlich besteht eine Verwandtschaft zur marxistischen Auffassung, dass Individuum und Gesellschaft keine für sich bestehenden Einheiten sind (wie in der liberalen Auffassung). Die Gesellschaft ist nichts anderes als die gesellschaftliche Praxis der gesellschaftlichen Individuen. Befreiung heißt nicht, Modelle zu entwerfen, sondern diese gesellschaftliche Praxis zu verändern.

Warum gibt es keine Alternative zu diesem Begriff von Freiheit und Gleichheit in der Kooperation, vom Zusammenfallen beider in der Idee der freien Kooperation? Weil die fünf großen Revisionen im Nachdenken über Emanzipation, die von den sozialen Bewegungen der letzten dreißig Jahre eingefordert und vorgenommen wurden, uns keine andere Wahl lassen. Die Revisionen betreffen das Verhältnis zu Macht/Staat, Fortschritt/Entwicklung, Objektivität/Homogenität, Demokratie, sowie zu Vergesellschaftung/rationaler Bedürfnisbefriedigung.

Kritisiert und verworfen wurde die Idee, durch Übernahme der zentralen Staatsmacht ließe sich die Gesellschaft von oben neu einrichten, was gleichzeitig eine Entmachtung aller Individuen und aller gesellschaftlicher Kooperationen bedeuten würde (und tatsächlich bedeutet hat). Kritisiert wurde die Auffassung, es gebe in der Menschheitsgeschichte eine lineare Entwicklung, die zwangsläufig und für alle Gesellschaften verpflichtend sei (wer anders lebt, als ein leitender Angestellter in Toronto oder Stockholm, erscheint in einer solchen Auffassung einfach als rückschrittlich - "er ist noch nicht soweit"). Abgelehnt wurde die Vorstellung, man könne für andere "objektiv" urteilen, was sie brauchen, wollen, wann ihre Kooperationen gut oder gerecht sind (was nichts anderes heißt, als dass man ihre angeblichen "objektiven Interessen" gegen ihre tatsächlichen Forderungen ausspielt und dass man alle einem vorgegebenen Bild angleichen will, die Menschen zur sozialen Homogenität zwingt).

Demokratie und "Demokratisierung"

Einer kritischen Revision unterzogen wurde auch das Ideal von Demokratie und "Demokratisierung". Wenn fünf Leute einen sechsten verprügeln, wird die Sache dadurch nicht besser, dass sie vorher mit 5:1 eine demokratische Abstimmung durchgeführt haben. Demokratisierung bedeutet meistens, dass die soziale Eingriffstiefe herrschender Strategien vorangetrieben wird - Partizipation begrenzt hier nicht Macht, sondern wird ihr Transmissionsriemen nach unten, zu den einzelnen Menschen, zum Alltag, zur konkreten "Mikropolitik". Demokratie verbürgt also keineswegs Emanzipation, und Emanzipation im demokratischen Zeitalter bedeutet immer auch Schutz vor "Demokratisierung", d.h. vor dem Anspruch anderer, im eigenen Leben herumzupfuschen. Einer kritischen Revision unterzogen wurde schließlich auch das Ideal von Vergesellschaftung, gesellschaftlicher Rationalität und rational geplanter Bedürfnisbefriedigung. Eine komplette Vergesellschaftung von Reproduktion z.B. ist weder möglich noch wünschenswert; sie wäre genauso wie die gesellschaftlich geplante Bedürfnisbefriedigung eine massive Entmachtung der Individuen (bzw. konkreten Kooperationen). Die Kritik geht also über den Punkt, dass Verstaatlichung der Produktionsmittel allein noch keine Vergesellschaftung bedeutet, weit hinaus und zieht das dahinterliegende Ideal einer rational geordneten, von allen Partikularinteressen gereinigten, wundervoll funktionierenden gesellschaftlichen Maschine selbst in Frage.

Keine Auslieferung, keine "Gerechtigkeit"; keine Vertagung, keine Rechtfertigung von "entwicklungsbedingter" Gewalt; keine Objektivierbarkeit, kein Zwang zur Homogenität; keine "demokratische" Unterwerfung und Kontrolle; keine verordnete Befreiung nach männlich-weißem Vorbild: das sind die Kriterien, die eine zeitgenössische emanzipatorische Utopie, ein zeitgemäßer Begriff von Freiheit und Gleichheit, erfüllen muss. Sonos Zitat zeigt an allen diesen Punkten, wie man es nicht macht.

3. Freie Kooperation oder To Be Someone

And I
got a feeling that I belonged
I
got a feeling that I
could be someone,
be someone.

Tracy Chapman, Fast Car

Freiheit und Gleichheit werden verwirklicht (und sind vereinbar, ja identisch) in der Freien Kooperation. In einer freien Kooperation werden keine überkommenen Rechte und Regeln anerkannt (außer als vorläufiger Ausgangspunkt). In einer freien Kooperation sind die Beteiligten frei, sich der Kooperation zu entziehen, d.h. sie zu verlassen; sie sind frei, ihre Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, um dadurch Einfluss auf die Regeln zu nehmen. Freie Kooperation hat zur Voraussetzung, dass alle Beteiligten diese Form der Einflussnahme (oder der Aufkündigung) auch praktizieren können, und zwar zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis. Diese Voraussetzung muss immer wieder neu hergestellt und durchgesetzt werden; dies ist der Inhalt linker Politik.

Zum Beispiel: Feministische Erfahrungen

Diese Definition ist keine theoretische Kopfgeburt. Sie lehnt sich an die reale Praxis von Emanzipation an; sie erwächst aus der sozialen Praxis und den Diskussionen der sozialen Bewegungen. Die feministische Bewegung beispielsweise hat die Realität der gemischtgeschlechtlichen Partnerbeziehung nachhaltig verändert. Sie hat dies jedoch nicht dadurch getan, dass sie Regeln für eine solche partnerschaftliche Kooperation aufstellte oder versucht hätte zu beschreiben, wie sie auszusehen hätte - "wie es richtig ist". Sie hat die Realität der Partnerbeziehung dadurch verändert, dass sie die Voraussetzungen dafür durchgesetzt hat, dass Frauen diese Beziehungen zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis verlassen können, bzw. ihre Kooperationsleistung einschränken. Durch ein verändertes Scheidungsrecht; durch eine verbesserte soziale Absicherung; durch die Kriminalisierung von Gewalt in der Ehe; durch eine umfassende Praxis, die das "Nein, wenn nicht ..." auch emotional, psychologisch, sozial möglich gemacht hat; durch alles, was die eigenständige Definition von Frauen durch sich selbst, ihre Selbstvergesellschaftung untereinander, ihre Organisierung als Frauen, gefördert und gestärkt hat. "Feministische Bewegung" meint dabei sowohl die politischen Organisationen, als auch die kollektive soziale Praxis, als auch das konkrete Agieren der Individuen in ihren Kooperationen. Es ist bekannt, dass die Voraussetzungen sich nicht so weit verändert haben, dass heterosexuelle Partnerbeziehungen heute wirklich freie Kooperationen sein könnten. Es ist auch richtig, dass die Veränderung der heterosexuellen Beziehung nicht das zentrale Anliegen der feministischen Bewegung war, oder auch nur ein allgemein geteiltes Anliegen gewesen wäre. Aber die Veränderung ist eingetreten. Sie demonstriert den Mechanismus; sie zeigt, wie ein Schritt aussieht auf dem Weg von der erzwungenen Kooperation zu einer freien Kooperation.

"Humanisierung der Arbeitswelt"

>Die meisten Fortschritte bei der "Humanisierung der Arbeitswelt" werden nicht in den Phasen erzielt, wo es besonders viele Gesetze dazu gibt, sondern zu den Zeiten, wo die Verhandlungsgrundlage der Arbeitenden besser ist. Weil es annähernd Vollbeschäftigung gibt; weil die soziale Absicherung bei Erwerbslosigkeit gut ist; weil es konkret möglich und persönlich vertretbar ist, seine Arbeitskooperation zu verlassen, wenn sie einem nicht zusagt. Die großen Emanzipationsbewegungen der letzten 30, 40 Jahre - die feministische, die schwarze, die trikontinentale usw. - sind alle auf ihre Art zu Diskussionen gelangt, in denen die Position zumindest Raum gewinnt, dass eine preskriptive Politik überholt ist. Dass sie nicht definieren können und dürfen, wie man zu leben hat, wenn man dieser Bewegung folgt; wie man auszusehen hat, wie man sich zu verhalten hat, wie die Kooperationen auszusehen haben, in denen man lebt; auch nicht, dass man Kooperationen aufzugeben hat, wenn sie bestimmten Grundprizipien dieser Bewegung widersprechen. Was die Individuen (oder Gruppen) wollen, was sie für ihre konkrete Emanzipation brauchen, welche Kompromisse sie machen, darüber kann man reden und Meinungen austauschen, aber man kann es nicht vorschreiben. Was man hingegen kann, ist, gemeinsam bessere Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man in den verschiedensten Kooperationen frei und gleich wird.(18) Und diese Voraussetzung zu verbessern, heißt immer wieder: den Preis zu verändern, zu dem man gehen oder einschränken kann.

Emanzipation bedeutet, sich aus erzwungenen Kooperationen zu befreien und freie Kooperationen aufzubauen. Beides ist notwendig. Der Wegfall des Alten verbürgt nicht automatisch das Neue. Emanzipationskämpfe finden in der Situation statt, wo der Preis nicht vergleichbar ist. Sie verlaufen darüber, dass man es hart auf hart kommen lässt: Kooperationen verlässt oder Kooperationsleistungen einschränkt, obwohl der Preis dafür unter Umständen höher ist als für die Gegenseite - weil man entschlossen ist, genau diese Situation zu verändern. Linke Politik bedeutet, andere Emanzipationskämpfe zu erkennen und anzuerkennen und sich dabei gegenseitig zu unterstützen, um das Prinzip der freien Kooperation zu stärken und seinen Einfluss zu vergrößern.

Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Auch aus der Situation einer freien Kooperation heraus sind Herrschaftsstrategien möglich; um so leichter, als freie Kooperation immer ein Näherungswert ist, ein dynamischer Prozess, kein für alle Zeiten konservierbares Gleichgewicht. Deshalb wird es immer Emanzipationskämpfe geben, und deshalb wird nie der Zustand erreicht, wo eine linke Politik nicht mehr nötig wäre.

Wie aber sieht eine linke Politik aus; eine Politik, die der freien Kooperation verpflichtet ist? Was sind ihre Bestandteile, ihre Elemente? Gibt es überhaupt ein gemeinsames Muster?

Für die Beschreibung einer solchen Politik ist das Schema nützlich, mit dem im ersten Kapitel (des ersten Teils) skizziert wurde, welche Ebenen von Herrschaftsinstrumenten es gibt. Es handelt sich auch bei der schematischen Einteilung und Strukturierung einer "Politik der freien Kooperation" mehr um eine Anschauungshilfe, mit der Muster der sozialen Praxis sichtbar gemacht werden, als um eine logische Deduktion, aber irgendwie müssen wir die Dinge strukturieren - obwohl immer alles mit allem zusammenhängt. "Politik" wird hier grundsätzlich im Sinne eines erweiterten Politikbegriffs verstanden, der kulturelle Formen ebenso einbezieht wie traditionell "politische", die Mikropolitik des Alltags ebenso wie Aktionen im Raum der traditionellen "politischen" Öffentlichkeit. Träger dieser Politik können Einzelne genauso sein wie soziale und kulturelle Bewegungen, Gruppen und Kollektive; auch Institutionen und Parteien können durchaus Träger einer solchen Politik sein (wenn auch nicht isoliert).

Im ersten Kapitel wurden fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumenten unterteilt: direkte Gewalt (die "militärische" Ebene); strukturelle Unterordnung (die "ökonomische" Ebene); Diskriminierung (die "soziale" Ebene); Kontrolle der Öffentlichkeit (die "institutionelle" Ebene); Abhängigkeit (die "existentielle" Ebene). Eine Politik der freien Kooperation besteht aus fünf verschiedenen "Politiken". Jede dieser "Politiken" für sich nimmt auf alle fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumenten Bezug; gleichzeitig korrespondiert auch die Einteilung in fünf "Politiken" den fünf Ebenen von Herrschaft.

Konkret wird das klarer. Wenn erzwungene Kooperation durch eine Fülle von Herrschaftsinstrumenten aufrechterhalten wird, dann ist es für eine Politik der freien Kooperation notwendig, diese Instrumente abzuwickeln. "Abwicklung" bedeutet, dass diese Instrumente nicht für "etwas Besseres" eingesetzt werden können, sondern heruntergefahren; dass dies ein Prozess ist und keine einmalige Aktion; dass ein "Ausknipsen über Nacht" nicht möglich und in vielen Fällen auch nicht wünschenswert ist, das Ziel aber klar sein muss. Nichts anderes kann man sich heute darunter vorstellen, was es heißt, Machtfragen zu stellen: Herrschaft sichtbar zu machen und ihre Instrumente in der Praxis zurückzuweisen, und zwar an allen Orten der Gesellschaft und in jeder Kooperation.

Damit ist aber keineswegs klar, wie Kooperation sich stattdessen gestalten soll. Jenseits der abstrakten Bestimmung, wie sie das Prinzip der freien Kooperation gibt, bedarf es einer konkreten Politik, die auf bestimmten Lernerfahrungen von Emanzipationsbewegungen beruht und Alternativen zur herrschaftsförmigen Kooperation praktisch vorstellbar macht. Am weitestgehenden sind solche Überlegungen im italienischen Feminismus unter dem Begriff einer Politik der Beziehungen ausgearbeitet worden.(19) Für alle Arten von Kooperation weitergedacht, ist das nichts anderes als die Frage, was man sich unter einer alternativen Vergesellschaftung in der Praxis vorzustellen hat.

Der Vorteil von Herrschaft ist, dass sie bequem ist und funktioniert. Eine Politik der freien Kooperation kommt nicht umhin, eine Entfaltung sozialer Fähigkeiten zu betreiben, mit der sich die Individuen (und Gruppen) dabei unterstützen, die Entscheidung über sich tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen. Aufgrund des Kahlschlags, den Herrschaft im demokratischen Zeitalter in diesem Bereich betrieben hat, sind wir ganz oft nicht fähig, unsere Kooperation selbst zu regeln - auch dies gilt wieder für alle Orte der Gesellschaft und alle ihre Kooperationen. Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist nichts anderes als das, was subjektive Aneignung heute meinen kann: sich die gesellschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten individuell und kollektiv verfügbar zu machen.

Eine Politik der freien Kooperation muss, viertens, in der Praxis Stellung beziehen zum Doppelcharakter von Demokratie und Demokratisierung im demokratischen Zeitalter: dass die real existierenden Formen institutioneller demokratischer Systeme zur Ausübung und zum Ausbau von Herrschaft dienen können, dass es aber kein Fortschritt für Freiheit und Gleichheit wäre, sie zugunsten vordemokratischer Formen abzuschaffen. Da es kein Modell institutioneller Demokratie gibt, das von diesem Doppelcharakter frei wäre, kann die Lösung nicht darin liegen, ein konkretes Modell vorzuschlagen, das diese Probleme angeblich nicht hätte. Es gibt keine "herrschaftssichere" Form institutioneller Demokratie. Eine Politik der praktischen Demokratiekritik - oder, um es anders auszudrücken, eine Politik der emanzipativen Demokratisierung - ist daher nicht an eine bestimmte institutionelle Form gebunden, sondern fasst Elemente zusammen, die aus der Praxis sozialer Bewegungen hervorgegangen sind und quer zur konventionellen Demokratievorstellung liegen, wie Dezentralisierung, affirmative action usw.

Schließlich umfasst eine Politik der freien Kooperation auch eine Politik der Organisierung. Organisierung bedeutet, sich mit Gleichgesinnten (oder besser gesagt: in bestimmten Punkten Ähnlichgesinnten) gemeinsam für bestimmte Ziele einzusetzen und dabei gleichzeitig bereits eine alternative Praxis zu entfalten. Dies ist ein sehr breiter Begriff, der nicht unbedingt an feste Organisationen gebunden ist, sondern ebenso kulturelle Bewegungen, soziale Organisierung und Prozesse inhaltlicher Annäherung und praktischer Kooperation zwischen unterschiedlichen Emanzipationsbewegungen meint. Man muss nirgends eintreten, um sich zu organisieren (aber man kann), und es wird für eine Politik der freien Kooperation keinen Dachverband und kein Parteimonopol geben. Im Grunde gilt für Organisierung Ähnliches, wie für den Doppelcharakter der Demokratie: Organisierung kann zur Ausübung und zum Ausbau von Herrschaft dienen, aber es gibt keine Alternative zur Organisierung. Eine Politik der Organisierung, als Bestandteil einer Politik der freien Kooperation, schreibt daher keine formalen Organisationsmodelle vor, sondern umfasst praktische Elemente, in denen sich historische Erfahrungen niederschlagen, wie dem Herrschaftscharakter von Organisierung zu begegnen ist.

Eine nähere Beschreibung der Politik der freien Kooperation wird in Teil III gegeben, unter Angabe von Beispielen aus verschiedenen Praxisfeldern und gesellschaftlichen Bereichen sozialer Kooperation - von der WG bis zur internationalen Kooperation von Nationalgesellschaften. Jede der fünf "Politiken" wird dabei mit ihren wichtigsten Elementen hinsichtlich der fünf Ebenen von Herrschaftsinstrumtenten beschrieben (Was heißt "Abwicklung" hinsichtlich des direkten Zwangs, hinsichtlich der strukturellen Unterordnung, hinsichtlich Diskriminierung usw.), was eine Art Programmatik der freien Kooperation mit 5 x 5 zentralen Elementen ergibt. Dies ist der Grundriss einer Politik der freien Kooperation. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass dies eine Form der Veranschaulichung und Handhabbarmachung ist; die Welt ist nicht notwendig in Fünfergruppen organisiert. Im Sinne dieser Veranschaulichung und Handhabbarmachung lässt sich auch sagen, dass jede der fünf "Politiken" als Ganze einen besonderen Bezug zu einer der fünf Ebenen von Herrschaft hat. Abwicklung ist, so gesehen, die Antwort auf den direkten Zwang; die Politik der Beziehungen ist die Antwort auf (und die Alternative für) strukturelle Unterordnung; Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist die Antwort auf Diskriminierung; die Politik der praktischen Demokratiekritik ist die Antwort auf die Kontrolle der Öffentlichkeit; Organisierung ist die Antwort auf Abhängigkeit.

Welche Rekonstruktion der Frage steht am Ende des ersten Teils? Auf die Frage: "Unter welchem Modell gesellschaftlicher Ordnung sind Freiheit und Gleichheit vereinbar?" lautet die Antwort zunächst: Unter jedem; es kommt nur darauf an, was man unter Freiheit und Gleichheit versteht. Wenn wir daraufhin die Frage aufwerfen: "Was sollen wir denn unter Freiheit und Gleichheit verstehen?", lautet die Antwort: Frei und gleich sind wir in der freien Kooperation. Auf die Frage: "Welche gesellschaftliche Ordnung (im Sinne von institutionellem Regelsystem oder Verfassung) gewährleistet Freiheit und Gleichheit?" lautet die Antwort: keine bestimmte. Wenn wir daraufhin fragen, "Wie werden wir aber frei und gleich?" lautet die Antwort: durch die Politik der freien Kooperation, die wir in jeder vorgefundenen Form gesellschaftlicher Ordnung anwenden können, um diese Ordnung zu transformieren - ohne Modell, mit offenem Ende. Diese Antwort ist es, die in Teil III ausführlicher beschrieben ist.

Im Teil II wird zunächst der methodische Charakter der freien Kooperation näher geklärt und auf einige Einwände eingegangen, die gegen sie erhoben werden können. Ein Einwand soll allerdings hier schon aufgegriffen werden. Er lautet: Ist das nicht alles etwas dürftig? Ist freie Kooperation nicht ein etwas farbloses Versprechen? Wieder nur Konflikte, wieder kein fester Boden einer herrschaftssicheren Ordnung, wieder keine glückliche Einheit ohne Gegensätze und schmerzhafte Missverständnisse? Keine Formel "So müssen wir die Wohnung einrichten, dann klappts auch mit dem Nachbarn"?

Das ist natürlich eine Geschmacksfrage. Aber freie Kooperation ist nichts anderes als das, wovon die eingangs zitierten Zeilen von Tracy Chapman handeln. In der erzwungenen Kooperation sind wir ein Nichts. In der freien Kooperation "sind wir jemand". Nur dort. Nur so. Nirgends anders. Und das ist nichts Farbloses. (20)

Weiter mit Zweiter Teil


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