Auch die Generationen, die nach dem Krieg geboren sind, wissen, dass die Jahre
der Naziherrschaft ein nie auslöschbarer Teil der deutschen Geschichte sind. Sie
selbst haben keine Schuld auf sich geladen. Aber sie wissen, dass sie
Verantwortung tragen für die Bewahrung der Erinnerung und die Gestaltung der
Zukunft.
(Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset in Jerusalem, 2.Februar 2005)
Antifaschismus ist auch sechzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus die
wichtigste Investition in die Zukunft.
(Antifa KOK, Aufruf zur Demonstration „Gegen Faschismus und Krieg“ am 8.Mai
2005, Düsseldorf)
Der achte Mai 2005 wird voraussichtlich das größte nationale Spektakel seit den
Wiedervereinigungsfeiern. Unzählige Veranstaltungen, Diskussionsbeiträge und
Gedenkfeiern sind von links bis rechts angekündigt. Die Antifagruppen, die etwas
auf sich halten feiern die Befreiung ihres Provinznestes oder ihres Kiezes und
offenbaren sich damit als die verkappten Lokalpatrioten, die Antifas nun mal
sind. Allein die Vielzahl der „Liberation-Parties“ in Berlin könnte einen
vermuten lassen, es wäre sechzig Jahre danach mehr los, als am achten Mai 1945.
Vor lauter Befreiungsbesoffenheit gerät die Beschaffenheit und die Funktion des
deutschen Spektakels „achter Mai“ außer Blick.
Die schon vor Monaten in Zeitungssonderbeilagen, TV-Themensendungen,
Veranstaltungsreihen und vielem mehr angelaufene Debatte um den Jahrestag der
Befreiung kulminiert im sogenannten „Tag für Demokratie“ vor dem Brandenburger
Tor. Quer durch die Gesellschaft reicht das Bekenntnis zum geläuterten
Deutschland: alle gängigen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände,
Kirchen und Sozialverbände und unzählige Funktionsträger und Einzelpersonen,
also das, was in Deutschland Zivilgesellschaft simuliert, unterzeichneten
bislang den Aufruf zum „Tag für Demokratie“, dessen zentraler Satz ein Zitat
Richard von Weizsäckers ist, in dem es heißt »Der 8. Mai war ein Tag der
Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«. Befreit wurden also „wir alle“, d.h.
auch die Deutschen, die dem Nationalsozialismus bereitwillig zur Macht verholfen
hatten und ihn bis zuletzt stützten. Die Frechheit der im Aufruf aufgestellten
Behauptung, die Hoffnung der Menschen, die im Mai 1945 von der deutschen
Herrschaft befreit wurden, hätte sich auf ein „vereinigte[s] Deutschland“
gerichtet, fällt kaum auf, ist sie doch geschickt mit der salbungsvollen Vision
eines „friedlichen, zusammenwachsenden Europa“ verknüpft. Das Leiden der
Deutschen findet selbstverständlich auch seine Erwähnung, allerdings nicht als
Gleichsetzung mit den Opfern des nationalsozialistischen Wahns, sondern als
Kriegsfolge, soviel hat man aus den Debatten der vergangenen Jahre gelernt:
Knopp'sche oral history kann das Bekenntnis zu den Ursachen nicht ersetzen. Das
soll sie auch nicht, Schuld impliziert neuerdings schließlich die
„Verantwortung“, aus der sich soviel moralische Haltung und politisches
Handlungspotential schöpfen lässt.
Die Nachkriegsdeutschen hatten es schon nicht einfach mit ihrer Nation: ein
bruchloser Bezug auf nationale Kontinuitäten kam nicht in Frage, die berühmten
„dunklen 12 Jahre“ auszusparen bot keine Glaubwürdigkeit, folgerichtig
entwickelte sich parallel zum Friedensschluß der sogenannten 68er mit der
Tätergeneration ein geschickter Dreischritt aus Schuldeingeständnis,
Verantwortungsübernahme und Identität durch Erfahrung. Das ganze Gedenkjahr
2005, das im achten Mai seinen vorläufigen Höhepunkt findet, hat nun zum Ziel
die ideologischen Ungleichzeitigkeiten in der deutschen Bevölkerung aufzulösen.
Anachronistische Haltungen zur Niederlage Deutschlands werden durch das
anerkennende Zugeständnis des deutschen Leids in ein kollektives
Befreiungsgefühl transformiert: „wir alle“ wurden von Gewalt und Leid befreit.
„Wir alle“ haben Schreckliches durchgemacht, „wir“ haben daraus gelernt und
können deshalb besonders gut der Welt erklären, wie sie einzurichten sei. Das
mißmutige Beharren auf der Niederlage steht einem zukunftsfähigen Deutschland im
Wege. Nur so, nicht aus einem plötzlich erwachten kritischen Bewußtsein, ist
beispielsweise die Empörung über den CDU-Bezirksbürgermeister von
Steglitz-Zehlendorf zu erklären, dessen Unwille die Befreiung zu feiern eine
bundesweite mediale Kampagne auslöste. Wer die veröffentlichte Meinung
sogenannter linksliberaler Publizisten und Historiker als Merkmal einer genuin
bürgerlichen Gesellschaft mit der ganzen Bandbreite politischer Fragmentierung
ansieht, irrt, denn die sekundäre Volksgemeinschaft kennt keine kritische
öffentliche Debatte, sie kennt vor allem Deutsche.
Im Gedenkspektakel vermittelt sich dem einzelnen Subjekt die notwendige
Ideologie im Interesse des Souveräns. Das Schuldeingeständnis, das Sprechen von Aufarbeitung der
Vergangenheit und Bekämpfung des Neonazismus ist keine Heuchelei der
herrschenden Klasse, wie es von der Linken gerne kolportiert wird, sondern ist
Ideologie im Sinne des Begriffs: hinter dem Rücken der Akteure sich
konstituierendes, notwendig falsches Bewußtsein, das sich analog zum
politökonomischen Sachzwang auf nationaler Ebene fortentwickelt. Das neue
Selbstbild der Deutschen synthetisiert Schuld und Stolz und macht sich innen-
wie außenpolitisch nützlich: mit einem Patriotismus der den Nationalsozialismus
als tragischen Gründungsmythos verarbeitet hat, lässt sich zum Beispiel in der
aktuellen Debatte um den Umbau des Sozialwesens leichter an die nationale
Verantwortung von Kapital und Arbeit, bzw. an die Leidensfähigkeit der von
beidem Ausgeschlossenen appellieren, ohne eindeutige Reminiszenzen
heraufzubeschwören. Mit diesem Patriotismus kann auch das Existenzrecht Israels
beteuert und gleichzeitig mit der Appeasementpolitk gegenüber islamistischen und
arabisch-nationalistischen Regimes und Bewegungen in Frage gestellt werden.
Die Kritik der antifaschistischen Linken anlässlich des Gedenkspektakels geht
derweil am Gegenstand vorbei: mal werden historische Fakten aneinandergereiht
und versucht ins Bewußtsein zu rufen, wer Schuld an Vernichtung und Krieg hatte,
mal werden unaufgearbeitete Kontinuitäten deutscher Traditionspflege ans Licht
geholt. Ein löbliches Unterfangen, was angesichts des aktuellen
Schuldeingeständnisses dennoch ins Leere läuft. Ganz moralisch wird sich empört,
dass des Leidens der Deutschen gedacht wird, dabei ist das gar nicht die Frage:
natürlich haben Deutsche im Krieg gelitten und folgerichtig gedenken die
Betroffenen dieses Leidens ihrer Geschichte, auch im nationalen Rahmen. Dass dem
deutschen Herrschaftsprojekt nur mit Krieg zu begegnen war, versteht sich
allerdings von selbst. Die Frage, die über ein moralisches „Recht ist's euch
geschehen!“ hinausweisen würde, wäre die nach der kommunistischen Aufhebung der
Voraussetzungen des Wahns und der deutschen Unfähigkeit zu trauern, was zu
Gunsten diebischer Freude über britische bomber commands und aktionistischen
Schwenkens alliierter Fahnen aufgegeben wird.
Die sozialrevolutionären Linken aber, die glauben erkannt zu haben, wo die
Ursachen des Faschismus liegen und deshalb den Kapitalismus überwinden wollen,
haben sich durch ihren Pakt mit dem Volksmob, ihr interessiertes Verwechseln von
Klassenkampf mit konformer Revolte vor dem Hintergrund der Anti-Hartz-Proteste
längst selbst desavouiert.
Angesichts dieser Konstellation am achten Mai eine Praxis zu entwickeln, die
nicht als Ersatzhandlung auf der Repräsentationsebene verharrt, erscheint uns
kaum möglich. Mit den Linken die deutsche Avantgarde im Kampf gegen
anachronistische Störenfriede zu bilden widert uns an. Kommunistischer Kritik
bleibt in diesem Szenario nurmehr die Rolle beschieden, das Spektakel des achten
Mai und seine Akteure als das zu denunzieren, was sie sind: zutiefst
ideologisch, eben deutsch auf der Höhe der Zeit.
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