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Wed Dec  4 17:37:48 1996
 

Auslösung des Zugriffs


»Zielpersonen« dürfen die Unterführung nicht mehr verlassen


Um 15.13 Uhr verließen Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und der V-Mann Steinmetz gemeinsam das Billardcafé und gingen in Richtung Unterführung. Sowohl das Verlassen des Billardcafes als auch das Betreten des Treppenabgabgs zur Unterführung wurde von Observationskräften des BKA über Funk an alle Einsatzkräfte gemeldet.
Das Billardcafé ist für Reisende nur durch die Unterführung zu erreichen. Wenn man vom Billardcafe kommend über die Treppe in die Unterführung tritt, kann man entweder nach links zum cirka 20 Meter entferneten Treppenaufgang zu Bahnsteig 1/2 oder nach rechts zum cirka acht Meter entferneten Aufgang zu Bahnsteig 3/4 gehen. Wenn man den Aufgang zu Bahnsteig 3/4 passiert und geradeaus weitergeht, erreicht man nach weiteren 15 Metern die nach rechts abzweigende Treppe zum Bahnhofsvorplatz. Weitere Zugänge zur Unterführung gibt es nicht.

Positionierung der Zugriffs-SETs

Die einsatztaktische Vorgabe für die Zugriffs-SETs soll gewesen sein, daß die "Zielpersonen" die Unterführung nicht mehr verlassen dürfen. Nach offiziellen Angaben waren aber nur an den beiden Enden der Unterführung jeweils ein Zugriffs-SET der GSG 9 postiert: SET 1 am Treppenaufgang zum Bahnhofsvorplatz, und SET 2 als alternativer Zugriffs-SET am Aufgang zu Bahnsteig 1/2. Der dazwischenliegende und für die aus dem Billardcafe Kommenden näheste Aufgang, nämlich der zu Bahnsteig 3/4 war "frei".
Der Zugriffs-SET, der an der Treppe zum Bahnhofsvorplatz postiert war, bestand aus insgesamt neun Kräften. Diese GSG 9-Beamten bekamen später bei den Vernehmungen die Nummern 1 bis 8. Der Neunte war PK Newrzella. GSG 9 Nr. 4 gehörte ebenfalls diesem SET an, er wurde jedoch kurz vor dem Zugriff auf Bahnsteig 3/4 geordert. Demnach bestand der SET zum Zeitpunkt des Zugriffs noch aus 8 Kräften. Zwei von ihnen, Nr. 3 und Nr. 8, standen etwas oberhalb auf der Treppe, da sie den Funkkontakt zu GSG 9 Nr. 4 und dem Einsatzleiter aufrechterhielten. Ein Angehöriger dieses SETs, Nr. 6, stand wenige Meter von der Gruppe entfernt in der Unterführung mit Blickkontakt sowohl in die Unterführung als auch zum Zugriffs-SET. Er sollte zu gegebenem Zeitpunkt das verabredete Signal zum Losstürmen geben.
Schon über die personelle Stärke ihres Zugriffs-SETs machen die GSG 9-Beamten von SET 1 unterschiedliche Angaben. Sie schwanken zwischen zusammen mit fünf Kollegen bis acht bis neun oder neun Beamten.
Ein alternativer Zugriffs-SET - der im Zwischenbericht der Bundesregierung noch unterschlagen wird - war auf Bahnsteig 1/2 postiert. Laut Abschlußbericht der Bundesregierung soll dieser SET aus sieben Mann bestanden und nach Aussagen des Leiters für den Zugriff den rückwärtigen Ausgang des Bahnhofsgebäudes mit einem möglichen Ausgang zu Bahnsteig 1/2 als Zugriffsschwerpunkt gehabt haben. Laut Aussage des Zugriffsleiters haben zwei dieser sieben GSG 9-Beamten kurz vor dem Zugriff den Bahnsteig verlassen, um im Zug nach Lübeck eine verdächtige Person zu überprüfen. Allerdings sagen insgesamt sieben Kräfte aus, sich bei dem Schußwechsel im Tunnel oder auf der Treppe aufgehalten zu haben. Dieser Zugriffs-SET bestand also ursprünglich auch aus mindestens neun Beamten. Postiert waren sie, wie sie selbst angeben, auf dem Bahnsteig die gesamte Fensterfront des Billardcafés entlang bis hin zum Treppenabgang zur Bahnhofsunterführung. Entgegen den Aussagen dieser GSG 9-Beamten, sich bei Auslösung des Zugriffs auf dem Bahnsteig aufgehalten zu haben, fielen zwei Reisenden, die kurz vor dem Zugriff die Unterführung passierten, am Fuß des Treppenabgangs von Bahnsteig 1/2 mindestens vier junge Männer ohne Gepäck auf. Auch ein auf Bahnsteig 1/2 postierter BKA-Beamter gibt an, die GSG 9-Beamten hätten sich unmittelbar vor dem Zugriff auf der Treppe aufgehalten. Von diesem Punkt aus waren sie näher an den in die Unterführung kommenden "Zielpersonen" als der SET 1 vom Treppenaufgang zum Bahnhofsvorplatz. Zusätzlich standen sie im Rücken der Festzunehmenden, konnten von diesen also nicht sofort gesehen werden. Ihre Ausgangsposition für einen Zugriff im Tunnel war demnach insgesamt günstiger als die von SET 1.

Auslösung des Zugriffs

Birgit Hogefeld, Wolfgang Grams und der V-Mann Steinmetz gingen in der Unterführung Richtung Bahnhofsvorplatz. Birgit Hogefeld blieb nach einigen Metern an einem Fahrplan stehen. Wolfgang Grams und Steinmetz gingen weiter und warteten vor dem Podest zu den Treppenaufgängen zu Bahnsteig 3/4 (eine Plattform in der Unterführung, die von dort über vier Stufen erreichbar ist).
Aufgang zu Bahnsteig 3/4

Nach offiziellen Angaben soll nun GSG 9 Nr. 4 die Treppe von Bahnsteig 3/4 heruntergekommen sein, da er aufgrund eines zerstückelten Funkspruches dachte, der Zugriff sei schon ausgelöst. Der Bahnsteig 3/4 wäre damit vollkommen unbewacht gewesen.1 Er ging an Wolfgang Grams und Steinmetz vorbei und näherte sich Birgit Hogefeld. Als er in ihrer Höhe war, hörte er von Nr. 6 den Ruf: "Jetzt". Daraufhin zog er seine Pistole und überwältigte sie.
GSG 9 Nr. 4 behauptet, Birgit Hogefeld allein überwältigt und gesichert zu haben. Dem widerspricht aber die Aussage des auf Bahnsteig 1/2 postierten BKA-Beamten, daß er, nachdem er Geschrei und Schüsse gehört habe, in den Tunnel gegangen sei und gesehen habe, wie zwei Kollegen auf Birgit Hogefeld knieten. GSG 9 Nr. 2 gibt an, daß Birgit Hogefeld von mehreren Kollegen überwältigt worden sei.
Birgit Hogefeld schreibt dazu:
"Als wir kurz nach 15.00 Uhr aus der Kneipe raus und durch die Unterführung Richtung Ausgang gegangen sind, springt mich nach wenigen Schritten ein Typ an. Ich schaue in den Lauf einer Pistole und liege auf der Erde. Ich werde dann von 2-3 Typen in Schach gehalten, und mir war klar, daß ich keine falsche Bewegung machen darf, wenn ich am Leben bleiben will." 2


Auch die Angaben, wann GSG 9 Nr. 6 genau den Zugriff auslöste, sind widersprüchlich. In verschiedenen Vernehmungen gibt er an, das Zugriffszeichen ausgelöst zu haben, als ein Kollege begann, Birgit Hogefeld zu überwältigen. Gegenüber dem GBA sagt er aus, er habe das verabredete Signal gegeben, als der auf Bahnsteig 3/4 postierte Kollege im unteren Treppenbereich in sein Sichtfeld kam. In einer weiteren Vernehmung meint er allerdings, das Zugriffszeichen gegeben zu haben, weil er nicht wußte, ob GSG 9 Nr. 4 Birgit Hogefeld überhaupt habe festnehmen wollen. Er habe mit dem Zugriffszeichen und dem Ausruf "Jetzt" diesen dazu veranlassen wollen. Auf die Frage, wie weit er und die übrigen Kräfte von Wolfgang Grams entfernt waren, sagt er cirka vier Meter. Real beträgt die Entfernung von der Treppe, auf der sich das SET 1 angeblich befand und der Treppe zu Bahnsteig 3/4 jedoch 15 Meter.

Noch eine Bemerkung am Rande: Nr. 6 sagt, er hätte sich im Tunnel hinter einer Betonröhre versteckt, um von den Zielpersonen nicht gesehen zu werden. Eine Betonröhre ist aber nicht baulicher Betandteil der Unterführung! Normalerweise bietet er keinerlei Deckung.




  1. siehe dazu das Kapitel "Flucht in die Falle?"
  2. die tageszeitung, 2.7.1993