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Sun Jan 19 15:16:32 1997
 

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 9

Wiesbaden, Januar 1996


Prozeßbericht Dezember 1995

Anfang Dezember wurde wider Erwarten doch noch mit der "Beweisaufnahme" zum Komplex Bad Kleinen begonnen.

Geladen war der Lokführer Tannert zu seinen Beobachtungen im Bahnhof von Bad Kleinen.

Zuvor wurde ein älterer Antrag der Verteidigung aus dem Komplex Tietmeyer zurückgewiesen. Hierbei ging es um die Zeugin Chorfi (Autovermietung), die erst nach offenkundigen Manipulationen behauptete, Birgit Hogefeld sei die Automieterin gewesen, auf Bildern jedoch bis heute immer wieder eine andere Frau (Sigrid Sternebeck) ausgedeutet hatte.

Dann ordnete das Gericht an, Birgits Körpergröße feststellen zu lassen, weil die Ladung des Beamten aus Wismar, der diese Maßnahme am 27.6.93 vorgenommen hat, zu aufwendig sei. Stattdessen wird der Erkennungsdienst des Polizeipräsidiums in Frankfurt mit der Durchführung dieser Zwangsmaßnahme beauftragt. Begründet wird diese angeordnete Gewaltanwendung angesichts der wegen "Bad Kleinen" zahlreich erschienenen Presse damit, daß dies kostengünstiger sei, schließlich handele es sich ja um Steuergelder.

Der Termins- und Ladungsplan, dem Angeklagte und Verteidigung entnehmen können, daß "Bad Kleinen" vom Gericht auf die Tagesordnung gesetzt ist, war ihnen wie schon häufig sehr kurzfristig, nämlich mit nur einer Woche Vorlauf, zugegangen. D. h., die Verteidigung hat oft nur knapp eine Woche Zeit, sich auf einen Verhandlungstag vorzubereiten. Das sind genau 4 "Werktage", um sich mit Birgit abzusprechen, evtl. nachgelieferte Akten zu lesen, nicht zur Verfügung stehende Akten bei Gericht einzusehen, sich weitere Informationen zum Thema zu beschaffen, Anträge zu formulieren...usw. Das ist, wie Birgit ausführte, bei dem so komplexen Punkt Bad Kleinen viel zu kurzfristig, weswegen sie und ihre Verteidigung Zurückstellung der Beweisaufnahme beantragte.

Der Anklagepunkt "Mord und mehrfacher Mordversuch" in Bad Kleinen ist in zweifacher Hinsicht politisch brisant. Nicht nur die Dreistigkeit, Birgit trotz der unbezweifelten Tatsache, daß sie zu dem Zeitpunkt, als geschossen wurde, bereits Gefangene war und gefesselt und geknebelt in der Unterführung lag, anzuklagen wegen des bei der Schiesserei umgekommenen GSG-9-Beamten Newrzella und wegen der Möglichkeit, daß weitere GSG-9-Beamte hätten getötet werden können (Mordversuch).

Die politische Brisanz liegt auch darin, daß die Anklage davon ausgeht, daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten erschossen habe, was aus der Faktenlage keineswegs eindeutig hervorgeht. Hier soll die allein durch Staatsräson durchgesetzte, keineswegs bewiesene offizielle Version der Ereignisse in Bad Kleinen festgeklopft werden, nämlich daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten und anschließend sich selbst erschossen habe.

Birgits Anwalt Kieseritzky, der auch mit der Vertretung von Wolfgangs Eltern befasst ist, brachte einen weiteren Grund ein, der der Verhandlung des Komplexes Bad Kleinen zum jetzigen Zeitpunkt entgegensteht. Er war, zusammen mit Rechtsanwalt Groß, während der Ausarbeitung des Antrages zur Klageerzwingung wegen Mordes an Wolfgang Grams aus einer der Anwaltspraxis gegenüberliegenden Wohnung akustisch und optisch überwacht worden. Diese Ausspähung mittels Videokamera, Richtmikrofon, Fotoapparat und Telefonanzapfung ist, jedenfalls nach derzeit noch geltendem Recht, illegal und damit ein Verfahrenshindernis, weil dadurch das Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist.

Der vorsitzende Richter Schieferstein versuchte angesichts der anwesenden Presse, RA Kieseritzky an der Verlesung seines Antrages zu hindern, er wollte dessen nicht-öffentliche Einführung im "Selbstleseverfahren" durchsetzen. Das heißt wohl, daß mit solchen Versuchen, die öffentliche Verlesung von Anträgen der Verteidigung, die politisch brisante Punkte behandeln - derer es ja gerade im Komplex Bad Kleinen viele gibt - noch öfter zu rechnen ist. Richter Klein unterbrach, als Kieseritzky anstelle des gängigen "man" geschlechtsneutral mensch benutzte. Das sei unseriös. Denen ist aber auch nichts peinlich.

Ein weiterer Antrag zur Zurückstellung des Anklagepunktes Bad Kleinen betraf die schon oft festgestellte Unvollständigkeit der Akten. So existieren beispielsweise von dem Zeugen Tannert weitere Vernehmungsprotokolle, die nicht in den Prozeßakten sind. Aus der Akte der Staatsanwaltschaft Schwerin zu Bad Kleinen geht hervor, daß nicht, wie behauptet, nur eine Sorte Munition durch die GSG-9 eingesetzt war, sondern noch vier weitere Munitionstypen. Die Beiziehung der schweriner Bad Kleinen- Akte war bereits im Dezember 1994 beantragt worden, bis heute liegt keine Entscheidung des Gerichts dazu vor, was bezeichnend für dessen Ignoranz gegenüber der Angeklagten und ihrer Verteidigung sei, stellte Rechtsanwältin Seifert fest.

Bundesanwalt Hemberger beantragte die Zurückweisung aller Anträge, die BAW habe keine weiteren Akten und zu der Ausspähung der Anwälte Kieseritzky und Groß könne er nur sagen, daß keine deutsche Staatsanwaltschaft oder Bundesanwaltschaft illegale Maßnahmen tätige, was er nochmals wiederholte, weil er befürchtete, es könnte wegen des Lachens im ZuschauerInnenraum untergegangen sein

Alle Anträge wurden durch das Gericht zurückgewiesen, es gehe hier nur um den Anklagepunkt der "Mittötung" Newrzellas und diesbezüglich sei das alles irrelevant.

Die in dem ganzen Komplex Bad Kleinen von Anfang an angelegte Vertuschung und Verwirrung nimmt also vor diesem Gericht ihren weiteren Verlauf.

Der Zeuge Tannert schilderte, daß er sich zu Beginn der Schießerei, die er erst für "Remmidemmi" hielt, mit einer Kollegin auf dem Bahnsteig 3 / 4 vom Lokfenster aus unterhielt. Als die Kollegin von einem Streifschuß am Arm verletzt wurde, gingen sie hinter der Lok in Deckung. Schüsse und Rufe hatte er gehört, bevor er Personen aus der Unterführung die Treppe hochkommen sah. Nur bei einer Person hat er einen "Ja, soll ich nun sagen, Pistole oder pistolenähnlichen Gegenstand" gesehen. Daß diese Person einen Rucksack trug, wurde von ihm nach Vorhalt bestätigt. Dieser Rucksack nahm als Identifizierungsmerkmal von Wolfgang Grams in der Befragung durch die Richterbank einen breiten Raum ein.

Bei den Verfolgern hat er keine Waffen gesehen, was sich die BAW durch nochmaliges Nachfragen bestätigen liess. Völlig unklar, was sie mit der absurden Vorstellung, ihre Elite-Truppe der "Terrorismusbekämpfung" GSG-9 ginge ohne Waffen zum Einsatz, anfangen können - in die Berichterstattung der Presse floß dieses Bild allerdings ein.

Nachdem die Schießerei beendet war, hatte der Lokführer nochmals aus dem Fenster geschaut. Er schilderte, daß viele Leute herumstanden, zwei Personen lagen auf dem Bahnsteig bzw im Gleis. Zuerst hatte er nur von einer liegenden Person (Newrzella) gesprochen, die BAW fragte aber nach der im Gleis liegenden Person, also Wolfgang Grams, ob bei ihr jemand etwas aufgehoben habe. Hier unterbrach Richter Klein, weil diese zweite Person nicht Newrzella sei und nur um den ginge es hier. Die BAW begründete, daß es um die Waffe von Wolfgang Grams ginge, die Frage wurde zugelassen und von dem Zeugen prompt mit "Ja, Pistole, silbergrau" beantwortet. Ob denn da noch mehr Leute waren bei der Person im Gleis und was die getan hätten, fragte die BAW weiter. Das wußte der Zeuge nicht mehr und die BAW hielt ihm aus seiner damaligen Aussage vor, nach der eine Person mit beiden Händen eine Waffe auf den Oberkörper des Liegenden gerichtet hielt. Hier unterbrach das Gericht erneut, diesmal Kern. Es ginge immer noch um die Waffe, sagte BAW Hemberger. In dem folgenden Hin und Her zeichnete sich ab, daß diese Frage, da sie zu nah an der Frage ist, wer Wolfgang Grams erschossen hat, vom Gericht nicht zugelassen wird. Der Vorsitzende Richter machte nochmals klar, daß es hier nicht um die Aufklärung des Todes von Wilfgang Grams ginge, sondern um die der Angeklagten angelasteten Anklagepunkte. Dann wurde die Mittagspause eingelegt - nachmittags war die Presse nur noch in der üblich dünnen Besetzung vertreten.

Nachdem die letzte Frage der BAW endgültig abgelehnt war, war die Verteidigung mit der Zeugenbefragung dran. Hier kam die vom Gericht eingeleitete Marschrichtung voll zum Tragen, kaum eine Frage der Verteidigung wurde zugelassen. Nicht nur weitere Fragen, z. Bsp. nach dem Rucksack, wurden abgeblockt, sondern auch solche, deren Beantwortung möglicherweise die fragwürdige Version, Wolfgang Grams habe Newrzella erschossen, noch durchsichtiger machen könnten. Auch wurde damit die zeitliche Einordnung der jeweiligen Beobachtungen des Zeugen verhindert. Chronologisch weiter: Der Zeuge wurde befragt, ob er sich erinnern könne, ob er folgendes bei seiner ersten, zweiten oder dritten Vernehmung gesagt habe: "Ich sah einen Mann im Gleiskörper liegen, in etwa 1 m Abstand war ein anderer Mann, dieser zielte mit einer Waffe auf den Oberkörper des im Gleis liegenden." Das Gericht lehnte auch diese Frage ab, obwohl der Anwalt deutlich machte, daß es um die Erinnerungsfähigkeit des Zeugen geht und daß es absurd ist, die beobachteten Vorgänge in Sekunden zu zerstückeln.

Fragen wie die, ob der Zeuge bei den Vernehmungen belehrt wurde, ob der Zeuge Erfahrungen mit Schußwaffen (Wehrdienst, Schützenverein) habe, gingen unbeanstandet durch.

Dann fragte die Verteidigung, ob denn die erste Person schon eine Waffe in der Hand hielt, als sie die Treppe hochkam. Nein, erst später, sagte der Zeuge, nämlich als er schon oben war. Gleichzeitig wurden bereits Schüsse aus Richtung Treppenaufgang abgegeben. In der weiteren befragung tauchten auch noch weitere von dem Zeugen wahrgenommene Waffen auf, auch "längere Waffen" bei vermummten GSG-Beamten, die "von allen Seiten" kamen, auch in (seinem) Zug waren. Hubschrauber hat er auch wahrgenommen, und zwar grüne, aus Richtung Schwerin kommend - das Gericht unterbrach die Befragung, das täte nichts zur Sache. Der Anwalt begründete, daß die Schußverletzung bei Newrzella schräg von oben nach unten verlief und assoziert Pressebilder von GSG-9-Männern, die auf Hubschrauberkufen stehend Schießübungen abhalten. Weitere Fragen zu den Hubschraubern werden nicht zugelassen.

Dann ging wieder eine Frage durch, es wurde nochmals deutlich, daß der Zeuge Schußgeräusche wahrgenommen hat, bevor Leute aus dem Tunnel auf den Bahnsteig 3 / 4 kamen. Der Anwalt kam nochmal auf den Rucksack, dem ja auch das Gericht schon ein großes Gewicht beigemessen hatte, wer diesen unter den Kopf des im Gleis liegenden gelegt habe. Ob es zivil gekleidete oder Sanitäter waren, wußte der Zeuge nicht mehr. Zu welchem Zeitpunkt, ob da noch der Mann mit der auf den Liegenden gerichteten Waffe stand - das Gericht beanstandete die Frage, sie wurde nicht zugelassen. Die Verletzungen des im Gleis Liegenden hat der Zeuge nicht gesehen, die Liegeposition - - das Gericht unterbricht, frsage abgelehnt. Ob er sich erinnern könne, wie die Person lag - auch diese Frage wird abgelehnt. Ob die liegende Person etwas in den Händen hatte zum Zeitpunkt, als der Rucksack unter dessen Kopf lag - Nein. In welcher Stellung lag die Person zu diesem Zeitpunkt - Frage vom Gericht abgelehnt. Von wo aus wurde der Rucksack unter den Kopf geschoben - Frage abgelehnt....

Es ist, wie die Anwälte mehrmals deutlich machten, schon juristisch absurd, ein Geschehen von einigen Minuten in Sekunden zu zerstückeln, die Beobachtungen eines Augenzeugen von diesem nur in bruchstückhaften, zeitlich nicht zu ordnenden Schlaglichtern schildern zu lassen und zu würdigen und sowas auch noch als Beweisaufnahme zu verstehen. Erstrecht wo, wie in diesem Fall, so viele Unklarheiten über die tatsächlichen Abläufe bestehen.

Nach diesem ersten Verhandlungstag wird deutlich, daß es nicht nur nicht um die Aufklärung der Todesumstände von Wolfgang Grams geht, wie der Vorsitzende Richter mehrmals betonte, sondern auch, daß es im Grunde garnicht um die Aufklärung der tatsächlichen Abläufe am 27.6.93 im Bahnhof von Bad Kleinen geht. Es soll auch keine Beweisaufnahme zu den Todesumständen des GSG-9-Beamten zugelassen werden. Auch dies war, wie die Vertuschung und Beweismittelvernichtung bezüglich des Mordes an Wolfgang Grams, die Praxis der gegen sich selbst ermitelnden Behörden von Anfang an, in die sich dieses Gericht, was nicht anders zu erwarten war, nahtlos einfügt. Der Leichnam des GSG-9-Beamten wurde erstaunlich schnell beerdigt, die ihm entnommenen Projektile waren nach der Obduktion "verschwunden", um einige Tage später wieder aufzutauchen, die Schußverletzungen werden, obwohl sie aus verschiedenen Winkeln und Höhen auftrafen, alle Wolfgang Grams zugeordnet, Begründungsnotstände notdürftig mit unbewiesenen und teils absurden Hypothesen überbrückt, die dadurch, daß sie von einem Sachverständigen mit Doktortitel vorgetragen werden, nicht weniger absurd werden.

Am 12.12. war Dr. med. Wegner, Leiter eines rechtsmedizinischen Instituts in Schwerin, als Zeuge und Sachverständiger da. Er hatte die Obduktion von Newrzella durchgeführt und trug sein Ergebnis vor.

In aller Kürze: 4 Schußverletzungen, davon eine im Oberkörper, von oben nach unten abfallend, die anderen im Beinbereich, horizontal verlaufend. Er hat dem Körper zwei Projektile entnommen, das aus dem Oberkörper war zweifelsfrei die Todesursache. Die Projektile hat er einer BKA-Beamtin übergeben, den Namen weiß er nicht mehr. Zum Ablauf: Er hatte in den Nachrichten von "den Vorfällen" in Bad Kleinen gehört und damit gerechnet, wie üblich sofort hinzugezogen zu werden. Üblich wäre auch, daß er bzw. der diensttuende Rechtmediziner zusammen mit der Mordkommission eine Leichenschau am Ort des Geschehens durchführe, in diesem Fall wurde er jedoch erst am nächsten Tag einbezogen. Vor der Obduktion fand eine Besprechung mit dem BKA statt, "wie es jetzt weitergeht", was er als "sehr angenehm" empfand, da er "die Verantwortung nicht alleine tragen" wollte.Die BKA'ler machten die Befunddokumentation, sie hatten dazu ihre eigenen Köfferchen mitgebracht. Erkennungsdienstliche und kriminaltechnische Untersuchungen liefen z. T. während, z. T. nach der Obduktion. Die Projektile waren nicht fotografiert worden und wie schon gesagt, waren sie anschließend "verschwunden".

Rechtsanwältin Seifert fragte, wie genau er sich die Projektile angeschaut habe und ob er sie noch beschreiben könne. Er beschrieb sie als stark verformt, inhomogen, aufgepelzt usw. .Zu Metallsplittern, die er dem Körper Newrzellas entnommen hatte, sagte er, er könne nicht sagen, ob diese aus dem Kern oder der Ummantelung des Geschoßes stammen; ob sie asserviert wurden, daran konnte er sich nicht erinnern.

Die Bekleidung des Newrzella lag ihm nicht vor. Diese hätte, wie er auf Befragung angab, die Bestimmung der Schußrichtung erleichtert und die Bestimmung der Schußentfernung ermöglicht.

Der Gutachter war darauf vorbereitet, zu ihm bekannten Widersprüchen und Lücken Hypothesen vorzutragen. So führte er die Hypothese von dem weit vorgebeugt rennenden Newrzella von sich aus ein, als eine mögliche Erklärung für den von oben nach unten verlaufenden Schußkanal. Zur Überbrückung der Dokumentationslücke bezüglich der Projektile hatte er ein Fachbuch mitgebracht.

Am 21.12. ging es nochmal um Weiterstadt. Mehrere Zeugen hatten ausgesagt, daß bei dem Kommando Katharina Hammerschmidt eine Frau dabei war, die gesprochen bzw. "Befehle erteilt" habe. Das BKA hat sich eine Stimmprobe von Birgit "beschafft" und daraus eine Kasette mit mehreren Vergleichsstimmen aus der Region Karlsruhe produziert, da einer der Zeugen aus der ehemaligen DDR von süddeutschem Dialekt gesprochen hatte. Der Zeuge hat zwar auf der Kasette nicht Birgits Stimme identifiziert, sondern eine der Vergleichspersonen als ähnlich bezeichnet, dennoch ist der manipulativen Charakter dieser Kasette zu erwähnen. Birgits Stimme ist die einzigste, die den Text flüssig spricht, außerdem sticht sie dadurch hervor, daß sie keinen karlsruher Dialekt redet. Da von Hamburg aus das Rhein-Main-Gebiet jenseits des "Weißwurstäquators" liegt, ist süddeutscher Dialekt ein sehr vager Anhaltspunkt, zumal dies nur von einem der Zeugen gesagt wurde - die anderen sprachen von Hochdeutsch/kein Dialekt bzw. hessisch. Sollte die Kasette weiteren Zeugen vorgespielt werden, wäre ihr manipulativer Charakter - wie in so vielen Fällen in diesem Verfahren - offensichtlich.

Im Januar wird es weiter um Bad Kleinen gehen.

 


 

Besen, Besen, seid's gewesen...

- Zu Birgits Brief an das Info - (Info 8, Seite 4)

Die InfoAG ist keine homogene Gruppe und wollte das auch nicht werden. Es stimmt allerdings, daß sich dies im Info nicht ausdrückt. Wir haben mehr oder weniger versucht, unsere Unterschieden und Differenzen so zu berücksichtigen, daß alle mit dem Info halbwegs einverstanden sind.

Dieser Umgang hieß aber auch, unsere Differenzen untereinander zum Teil nicht auszutragen. Da spielt der Zeitfaktor eine Rolle, aber auch, daß es dafür keine gemeinsame Entscheidung gibt. So erscheinen wir im Info als homogene Gruppe, Widersprüche hinterlassen ihre Spur zwischen den Zeilen oder als schiefe Kompromisse, die wenig fruchtbar sind. Oder anders, was wir fordern, praktizieren wir auch untereinander nicht. So spiegelt es sich im Info wieder. Die Auseinandersetzuhngen, die wir, auch untereinander, in unterschiedlicher Intensität führen, werden aus dem Produktionsprozeß des Infos ausgelagert. Die Frage, ob das anders geht und ob wir das ändern wollen, bzw ob eine solche Auseinandersetzung überhaupt notwendig oder sinnvoll ist, würde von jeder/m von uns verschieden beantwortet.

In dem Text in Info 5 sind Gedanken aus unseren Diskussionen zusammengerührt, wir haben Wahrnehmungen, Erfahrungen, Beobachtungen und unseren Ärger darüber zusammengballt und nach außen projeziert. Richtig zufrieden war mit dem veröffentlichten Text niemand von uns, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. So wurde aus unseren - im einzelnen sinnvollen - Fragestellungen ein Rundumschlag, eine Gewitterwolke. Jetzt gehts uns wie dem Zauberlehrling mit den Geistern, die er rief.

Eine aus unserem Kreis hat im letzten Info geschrieben, wir hätten einen großen Diskussionsbedarf mit anderen - dazu sind die Vorstellungen unter uns aber unterschiedlich. Sie hat geschrieben, daß wir die Gemeinsamkeit haben, daß wir die Ausgrenzung von anderen Menschen und deren Meinungen nicht praktizieren wollen, ich gehe davon aus, daß das so für jede/n von uns stimmt. Wir müssen uns aber auch selbstkritisch damit auseinandersetzen, wo und warum das dennoch "passiert". Und wenn Birgit oder andere aufgrund dessen, was sich im Info ausdrückt, zu dem Eindruck kommen, wir wollten nicht mit anderen reden, reicht es nicht, dies mit ehrlicher Empörung zurückzuweisen. Wie ein solcher Eindruck zustande kommt, warum sich in unserer Produktion offensichtlich nicht wiederspiegelt, was eine aus unserem Kreis über uns und unser Wollen geschrieben hat - diese Fragen sind so nicht zu beantworten.

Unser Umgehen mit Birgits Brief in Info 8 wurde von LeserInnen als Eiertanz charakterisiert. Wir haben sowohl zum Inhalt des Briefes als auch zum Umgang mit der Auseinandersetzung darum unterschiedliche Auffassungen, die Methode Eiertanz finde ich aber auf Dauer zu anstrengend.

Ich halte es für sinnvoll, die Auseinandersetzung um die von Birgit an uns aufgeworfenen Fragen auch im Info zu führen. Es sind darin Fragestellungen aufgeworfen, die nicht auf Umgangsformen, Diskussionsstile, sozialpsychologische Kategorien zu reduzieren sind.

Die Fragen nach dem Verhältnis zu Anderen sind - bezogen auf Herrschaftsverhältnisse, insbesondere Rassismus - herrschaftskritisch.

Die Analyse des Patriarchats hat ergeben, daß jeder Mann ein potenieller Vergewaltiger ist und daß weiße Männer und Frauen potentielle rassistische Täter sind. Dies unbesehen auf die Individuen herunterzubrechen, bringt bloß Hilflosigkeit und resignierte Wut hervor. Ebenso falsch war es, berechtigte Kritik an Kirche als Herrschaftsinstitution und berechtigtes Mißtrauen gegenüber deren Herrschaftsinteressen auf die ProzeßbeobachterInnen aus kirchlichen Zusammenhängen herunterzubrechen und sie persönlich zu diffamieren.

Die Auseinandersetzung um Herrschaftsverhältnisse, und die damit zusammenhängende Frage nach linker Geschichts- und Verantwortungslosigkeit, ist in unserem Papier in eine völlige Schieflage geraten. Diese Fragen genau auch auf sich selbst zu beziehen, ist kein Hinweis auf einen engen Denkrahmen, aber in unserem Papier wurde dieser Bezug unscharf, "Schärfe" oder eher Schroffheit drückt sich dafür in der Beurteilung der "Kirchenleute" aus. Damit reproduziert das Papier - in dem einzelne sinnvolle Gedankenstränge enthalten sind - als Ganzes genau die Verhaltensweisen der Abgrenzung und Auseinandersetzungsvermeidung, die darin kritisiert werden. Die gerade auch in dieser Frage unter uns vorhandenen Differenzen sind verschleiert, dafür die "Differenz" zu den "Kirchenleuten" umso schroffer ausgedrückt.

Der Zauberlehrling wird zu guter Letzt vom Zaubermeister von seinen Geistern erlöst. Uns wird eine solche Rettung vor unseren Produkten weder im Kleinen noch im Großen zuteil werden.

Noch eine aus der InfoAG

 


 

(zu Christian Geissler)

(das werkverzeichnis fehlt noch)

 

In Christian Geisslers Werk werden Prozesse transparent, die zwar nie die von wirklich vielen hier waren, aber auch nicht nur seine allein.

Seine Frage, wie die Verhältnisse zu ändern sind, durchzieht seine gesamte Arbeit. Jede seiner Veröffentlichungen greift schreibend ein - von der Auseinanderrsetzung mit der Nazi-Zeit ("Anfrage") bis "Dissonanzen einer Klärung" produziert er keine endgültigen Antworten, wird nicht schnell und schon garnicht leicht fertig mit der Frage.

Die Solidarität mit den politischen Gefangenen über zwanzig Jahre und die Auseinandersetzung mit den Anforderungen linker Politik und dem von der RAF vorgeschlagenen Weg spiegelt sich wieder, ohne in Apologetentum zu münden. Vielleicht könnte es so gesagt werden: er hat, was er darin gesehen hat, nicht bloß als Erzähler wiedergegeben, sondern es als seine Praxis, in seinen Schreibarbeiten, umgesetzt und mitgeformt.

Über sein derzeit einziges im Buchhandel erhältliches Buch "Prozeß im Bruch" schreibt er im Vorwort:

" von was ist die rede ?

es ist die rede von schreibarbeiten, die ich, zwischen februar `89 und februar `92, veröffentlicht habe aus öffentlichem anlaß. öffentlich war, vom hungerstreikende im mai `89 bis zum niederholen ach niedermachen der roten fahne in moskau an weihnachten `91 (...)

veröffentlicht habe ich eilig nach hier und da über bücher und blätter und blättchen zum thema rückwende deutsch und peter weiss und knast und esterwegen und raf und kommunistenarbeit. trauer und neugier und haß, spott und grauen und freude. (...) genossinnen und genossen haben gesagt, das ist von text zu text ein prozeß, den wollen wir übersichtlich, den möchten wir greifbar haben. hier ist er. mein prozeß im bruch. und ob der auf zusammenbruch läuft und abschied oder auf ankunft und aufbruch, das kann nun, wer lesen kann, klären."

(Inhaltsverzeichnis)

vorwort

wie einst die braut

fern will ich eine hütte

gegen zweifel

geschrei

schlachthausenmüd

blumen der wüste

unruhige wut

grüße an helmut pohl

wie auf dem wintertisch

im sturz

klassendeutsch

sie stellen stein in mein gesicht

brief an brigitte mohnhaupt

der schwere schritt

dissonanzen einer klärung

esterwegen

die frage nach uns selbst

peter weiss wäre nicht erstaunt

wir sind überall

brief im krieg

winterdeutsch

von kirsche zu kirsche

der schwarze hut

wir erklären die feindschaft

"blumen der wüste" ist ein Versuch, das Schweigen und die Unsicherheit nach dem ergebnislos abgebrochenen Hungerstreik 1989 zu durchbrechen. Daran knüpft "grüße an helmut pohl" an.

Der längere Text "dissonanzen einer klärung" ist ein offener Brief an die RAF, geschrieben im Januar 1990.

"die frage nach uns selbst" ist ein vorschlag zur Diskussion, der in "winterdeutsch" vertieft wird.

"brief im krieg" setzt sich mit einem Flugblatt zum Golfkrieg auseinander

In dem Text "peter weiss wäre nicht erstaunt" zieht Christian Geissler Verbindungslinien zwischen Peter Weiss' "Asthethik des Widerstands" und heute

"max hodann hat es gewußt

peter weiss wäre nicht erstaunt

(unsere arbeit geht weiter)

ohne zu lügen

es bleibt der schmerz"

 

Christian Geissler, Prozeß im Bruch, Edition Nautilus, Hamburg 1992

 


Diskussionsbeiträge aus der Veranstaltung zu Birgits Prozeß in Berlin am 14.11.95

 

Wir setzen uns im folgenden Text mit Passagen aus Birgits Prozeßerklärung vom 21.7. auseinander.

Birgit erklärt und reflektiert selbstkritisch eine ganze Phase der RAF und des antiimperialistischen Kampfes und entwickelt Gedanken der RAF zur Neubestimmung ihrer Politik und der damit verbundenen Aussetzung tödlicher Aktionen fort. Wir halten die Auseinandersetzung mit diesen Gedanken, die aus einem Prozeß einer Gruppe kommen, die sehr konsequent kämpft und die einen nicht unerheblichen Einfluß auf das politische Geschehen in der BRD hatte, für wichtig. Natürlich auch, weil wir aus Birgits Texten Anstöße für unsere Auseinandersetzung bekamen.

Die einzelnen Beiträge von unterschiedlichen Leuten aus unserer Gruppe haben wir trotz mancher Doppelungen so stehengelassen.

 

*

 

In unserer Diskussion gingen auch wir unter anderem der Frage nach, wie sich die RAF so weit von der gesellschaftlichen Realität entfernen konnte.

Gründe hierfür sehen wir vor allem in der Abkopplung zum System und zur Linken in der BRD, zum einen als Notwendigkeit, zum anderen als Isolierung. Genauer dazu: Für viele war es eine Notwendigkeit, um dem herrschenden System eine Gegenmacht entgegenzusetzen und die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der BRD und Westberlin wurde als richtig, möglich und gerechtfertigt gesehen. Karl-Heinz Roth bezeichnete diese Situation in Bezug auf die RAF als "Endzeitbewußtsein" - hier und jetzt kämpfen, nicht fragen "Warum", sondern "Wie" - gegen den Imperialismus, den Staat und das Kapital, gegen den Vietnamkrieg, der von der BRD aus strategisch-militärisch vorbereitet wurde, gegen die NATO, ihre Repräsentanten und Einrichtungen und in solidarischer Nähe zu den Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Afrika, Asien.

Doch ein Großteil der Linken in der BRD hatte sich nach 68 für einen anderen Weg entschieden. 1971 hieß es dazu in einem Text der RAF: "Der Schreck ist den Herrschenden in die Knochen gefahren, die schon geglaubt haben, diesen Staat und alle seine Einwohner und Klassen und Widersprüchen bis in den letzten Winkel im Griff zu haben; die Intellektuellen wieder auf ihre Zeitschriften reduziert, die Linken wieder in ihre Zirkel eingeschlossen, den Marxismus-Leninismus entwaffnet, den Internationalismus demoralisiert zu haben" (Konzept Stadtguerilla).

Die Linke in der BRD war gespalten - einige hatten sich auf den Marsch durch die Institutionen gemacht, andere gründeten kommunistische Gruppen oder organisierten sich in der Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, der Frauenbewegung oder in anderen Formen und Richtungen.

Der Schritt in die Illegalität, verbunden mit bewaffneten Aktionen, wurde als eine bewußte Abkopplung zu diesen Formen linken Widerstandes und dem nicht angemessenen Verhalten vieler Linker gesehen. Dieser linke Widerstand wurde als nicht ausreichend und zu schwach betrachtet, um eine politische Kraft zu entwickeln.

Die Abkopplung war gewollt und bezog sich nicht nur auf die Linke, sondern auch auf die BRD-Gesellschaft mit ihren Alt-Nazis, dem Konsumrausch, dem Spießertum. Die Trennung oder Abkopplung hätte Sinn gehabt, wenn es darüberhinaus aber immer noch einen Zusammenhang zwischen dieser und anderen Gruppen gegeben hätte, wie gemeinsame Diskussionen, Auseinandersetzungen und die Möglichkeit für die Suche nach gemeinsamen Wegen und Zielen.

Der Abkopplung fehlte die Rückkopplung, und diese Rückkopplung war es ja, die im Konzept Stadtguerilla als Verbindung von Stadtguerilla und Basisarbeit im Stadtteil, im Betrieb und in den politischen Gruppen beschrieben wurde: Daß sich beide Sachen nicht in einer Person verwirklichen lassen, sich die llegale Arbeit nicht mit der illegalen verbinden läßt, stellte die Gruppe schon 71 fest. Doch mit Rückkopplung meinen wir vor allem den Bezug zu und mit anderen Gruppen. So entwickelte sich die RAF in den Folgejahren mehr und mehr zu einer isoliert arbeitenden Gruppe, obwohl laut Umfrageergebnissen aus dem Jahre 1972 jeder fünfte Bundesbürger den Schutz der Gruppe vor Verfolgung und Verhaftung tolerierte, und jeder siebte für sich nicht ausschloß, RAF-Mitglieder über Nacht bei sich zu verstecken. 6% bezeichneten sich als potentielle Helfer. Nun mag man Statistiken glauben oder nicht, sichtbar ist, welchen Rückhalt, Sympathie und politische Nähe zu anderen die Gruppe hatte.

4 Jahre später, im Dezember 1976, formuliert eine Revolutionäre Zelle ihre Fragen in einem Offenen Brief an die RAF, verbunden mit der Notwendigkeit, sich über Vorstellungen, Aktionen, Veränderungen auseinanderzusetzen: "Genossen, wir haben ein ganz praktisches Problem mit Euch: Lange Zeit dachten wir, daß ihr unsere Genossen seid. Aber viele Genossen draußen haben nicht das Gefühl, daß sie auch Eure Genossen sind. Wir und die anderen wurden/werden benutzt/untergeordnet, für Eure Prozeßstrategie zum Beispiel. Auch für andere Mobilisierungskampagnen. Denn es gibt keine Möglichkeit, mit Euch gemeinsam eine Strategie zu entwickeln und zu diskutieren. Sicher, es ist ungeheuer schwer, so was über den Knast zu machen. Aber unserer Ansicht nach ist das nicht der einzige Grund. Vielmehr wart Ihr viel zu schnell in eurem Urteil über uns. Ihr habt zu oft gezeigt, daß Ihr nicht in unsere Kraft und die der anderen vertraut. In uns, die draußen sind. Die auch kämpfen wollen und müssen. Die aber den Anspruch haben, sich zu Entscheidungen hinzuentwickeln."

 

Doch trotzdem hatte die Existenz und Geschichte der RAF auch immer positive Auswirkungen auf viele. Gerade das ist ein Punkt, den wir an Birgits Erklärung bemängelten. Die RAF zeigte klar, daß Widerstand auch in militanter und illegaler Form in einem immer größer werdenden Sichheits- und Polizeistaat möglich war und ist, verbunden mit einer über 24-jährigen, kontinuierlichen Geschichte von bewaffnetem Kampf. Seit dieser Zeit gab es immer wieder Menschen, die sich zu diesem Weg entschieden haben, was also auch heißt, daß es zu jedem Zeitpunkt Gründe gegeben hat, in dieser Form zu kämpfen, und es nicht Hirngespinste oder Abenteurertum waren:

- die Existenz des Imperialismus und seine politische Analyse,

- die Erkenntnis, hier in der Metropole, im Herzen der Bestie, gegen die Verhältnisse zu kämpfen,

- die faschistische Struktur, die sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges in der BRD reorganisierte,

- die Repression, Verfolgung, Fahndung, Tötung von GenossInnen, angefangen von Benno Ohnesorg 1968 bis zu Wolfgang Grams 1993,

- die politischen Gefangenen in den Knästen, an denen der Vernichtungswille des Staates praktiziert wurde, der Tod von Holger Meins, die Toten von Stammheim, die wissenschaftlich-erforschte Isolationshaft, um nur einige Stichpunkte zu nennen.

Es lag in der Logik der aufgezählten Gründe, die gleichzeitig die Situation in den 70er Jahren in der BRD beschreiben, auch bewaffnet zu reagieren, um eine reelle Chance auf fundamentale Veränderungen zu haben. Ein Beispiel: 1970, nach der bewaffneten Befreiung von Andreas Baader in Berlin, schrieb ein an der Aktion Beteiligter an den Schriftsteller Heinrich Böll: "Der jetzt beginnende, bewaffnete Widerstand ist das praktizierte Dementi jener Lebenslüge aller sozialdemokratischen Intellektuellen, man könne nicht mehr tun, als immer wieder die Niedertracht zu analysieren, kritisieren und entlarven, solange bis sich jemand anders findet, der ihrer geschichtlichen Existenz den Garaus macht."

Gerade die Konsequenz und die Verweigerungshaltung, das entschlossene "Nein" gegenüber dem Staat, auch als Gefangene im Knast, sind Ursache dafür, daß sich auch noch heute Menschen, die noch gar nicht in dieser Zeit gelebt haben oder in einem anderen Land, mit dieser Geschichte beschäftigen und auseinandersetzen. Doch tun sollten es alle, auch diejenigen, die in dieser Geschichte ihren Platz hatten.

 

*

 

Die RAF war hier die erste Gruppe, die eine scharfe und genaue Analyse der BRD als Nachfolgestaat des Faschismus und Teil des imp. Systems erarbeitet hat. Sie machte die Gewaltverhältnisse, die du auf der Straße spürtest, offen.

Dieses, und daß die Gruppe offensichtlich nicht nur redete, sondern ihre Analysen auch konsequent in scharfe Aktionen umsetzte, und daß sie bereit war, die Machtfrage zu stellen, zog immer wieder Menschen an, die diesem System ablehnend gegenüberstanden. Das gab Anstöße zu eigenem politischen Denken und Handeln.

Aber die Machtfrage wurde nur militärisch gestellt, während wir heute denken, daß eine scharfe Systemanalyse nicht automatisch die Schärfe der eingesetzten Mittel hochtreiben muß. Es müßte vielmehr darum gehen, eine scharfe gesellschaftliche Situation zu erreichen und dies eher durch die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, ein soziales Gefüge und eine Vielfalt von Aktionen, die an konkreten Veränderungen orientiert sind.

 

In den 80ern hatte die RAF ihre Linie umrissen als "Strategie gegen ihre Strategie". Es ging ihr darum die weltweite Konfrontation dahin zurückzubringen, von wo sie ausgeht: in die Zentren, und genau dort auf dem Niveau dieser Konfrontation einzugreifen, die Herrschenden und Kriegstreiber zwingen, ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Aber dem System die Maske herunterzureißen und darüber Bewußtsein und Mobilisierung zu schaffen, ist zuwenig, und auch der stille Beifall von vielen, da es sich fast immer um hohe Repräsentanten des Systems handelte, brachte da nicht weiter. Eine einzelne Gruppe kann, auch mit den schärfsten Aktionen, niemals grundlegende Veränderungen, Befreiung für alle, erkämpfen, darin liegt ein Widerspruch in sich.

Birgit entwickelt dazu das Beispiel eines Szenarios, sie sagt: " Wenn es aufgrund des Zusammenwirkens der weltweiten Kräfte gegen imperialistische Herrschaft und für Befreiung tatsächlich zu systemsprengenden Kräfteverschiebungen gekommen wäre, dann wäre eine solche Entwicklung und Veränderung der Gesellschaftsrealität für die Mehrzahl der Menschen hier wieder von außen, also von einem anderen "von oben" gekommen... Es gibt heute die Erfahrung, daß alle Versuche aus einer eigenen Machtposition die Gesellschaft in eine positive, am Freiheitsgedanken orientierte Richtung umzugestalten, sich ins Gegenteil verkehrt haben."

 

Birgit kritisiert die Distanz zwischen der RAF und der Linken. In ihrer Anfangsphase begleiteten viele die RAF mit solidarischer Unterstützung. Aber spätestens ab Anfang 75 war die Kommunikation mit dem Teil der Linken, der noch solidarisch war, gestört. (Ein Beispiel: Ende 74 war ein langandauernder Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF, Holger Meins wurde in diesem Hungerstreik ermordet. Die Gefangenen brachen ihren Hungerstreik ab, setzten ihn aber kurz darauf wieder fort. Politische Gruppen, die den Hungerstreik aktiv unterstützt hatten - z.B. die Rote Hilfe -, sahen keinen Sinn darin. Sie forderten die Gefangenen auf, den Hungerstreik zu beenden. Die Gefangenen reagierten nicht. Dann forderte die RAF die Gefangenen dazu auf, und die Gefangenen hörten auf. Diese Ignoranz brachte damals viele auf.) Die Auseinandersetzung spitzte sich zu, und 77 während der Schleyer-Entführung kam es dann zu einer breiten und teilweise erschreckenden Entsolidarisierung. Die Linke war überhaupt nicht in der Lage, der hammerharten staatlichen Repression und breit angelegten Verfolgung etwas entgegenzusetzen.

Anderseits waren die Einflüsse oder Nichteinflüsse der Linken im besonderen von Zusammenhängen, die der RAF politisch nahestanden, auch mitverantwortlich für manche Verbohrtheit auf seiten der RAF und der RAF-Gefangenen. So wurden in antiimp. Zusammenhängen z.B. eher die Fremdwörterlexika zum Verständnis von Erklärungen gewälzt, als mal den GenossInnen zuzurufen: "Mensch schreibt doch auch mal für die Leute, die hier leben und die hier auch in vielen anderen Bereichen für fortschrittliche Veränderungen kämpfen." Die innere Struktur verhinderte einfach ein offenes Miteinanderumgehen.

 

Aus der Summe der Erfahrungen der letzten 20 Jahre sehen wir, daß der antiimp. Kampf in der BRD viele Fehler beinhaltete. Die Ausschließlichkeit, mit der an der Analyse der Apparate und Machtstrukturen des Systems gearbeitet wurde, war falsch, und der Blick auf die BRD-Gesellschaft und die Linke hier war reduziert und eng. Z.B. waren GenossInnen nur dann interessant, wenn sie auch bereit waren, die vorrangige Bedeutung der antiimp. Analyse und Herangehensweise zu akzeptieren. So entstanden Hierarchien und Dogmatismus und auf Seiten des Antiimp-Zusammenhangs das sichere Gefühl, Avantgarde zu sein, dazuzugehören zur revolutionären Seite der weltweiten Auseinandersetzung. Wie reduziert und eng wurde z.B. die Frage beantwortet, wer denn hier auf der richtigen und wer auf der falschen Seite der Barrikade steht. Es wurden keine Vorstellungen, Ideen und Fragen entwickelt, die mit Basis-Bewegungen und anderen fortschrittlichen Gruppen hätten ausgetauscht und diskutiert werden können. Über den antiimp. Zusammenhang hinaus gab es nur den Bezug auf die Befreiungsbewegungen und die Völker im Trikont. Natürlich geht es mit dieser Kritik nicht darum, internationale Solidarität als ein Grundpfeiler linker Politik in Frage zu stellen. Und es geht auch nicht um irgendeinen Einheitsbrei. Aber Austausch, Kritik und Auseinandersetzung hier und zwischen den verschiedenen Ansätzen und Initiativen sind wesentlich für die Struktur der Linken überhaupt.

 

Wir denken heute, linke Politik müßte so sein, daß sie die Analyse, das Bedürfnis etwas zu tun, die Emotionen und die Praxis und auch die spontanen Gefühlsausbrüche miteinander vereint.

Oft wird unter Politik nur Handeln zum Erreichen von Zielen verstanden, aber jedes Ziel verändert sich durch die Wege, durch die man zu ihm gelangt. Deshalb finden wir eine gemeinsame Auseinandersetzung über Ziele und Mittel richtig. Wege zu Protest und Widerstand sind nicht harmonisch. Es wird immer Gruppen und Zusammenhänge geben, die wieder einen Schritt weitergehen, als die Linke im allgemeinen gerade so denkt, handelt oder auch schläft. Jedoch es geht um Rückkoppelung, Kritik und Austausch, zumindest in der Linken, grundsätzlich aber auch darüber hinaus. Was meint "darüber hinaus"? Wie weit wollen wir uns hier auf die Gesellschaft einlassen? Auf eine Gesellschaft, die in großen Teilen einer rechten Gesinnung anhängt? Aber mit dieser Sicht auf Gesellschaft kommen wir leicht dazu, alle Menschen abzuschreiben, was heißen würde, die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben und zu verlieren. Das ist eine immer wiederkehrende Streitfrage.

Birgit sagt dazu: "Es muß um die Fragen und Probleme gehen, die sich für die Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen..., (um) Bestimmungen, die die soziale Realität hier zum Ausgangspunkt und den Aufbau emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe für systemsprengende Veränderungen zum Ziel haben müssen."

Birgit führt in ihrer Erklärung immer wieder Begriffe ein, die in der Linken noch nicht diskutiert sind. Das ist ein Problem. Wir haben überlegt, was heißt für uns Emanzipation in einer Bewegung. Wir erachten es heute als sehr notwendig, auf die innere Seite, die inneren Strukturen unserer Zusammenhänge, und darüber hinaus auch die der Linken insgesamt, besonders zu achten. Wir brauchen für uns Strukturen, die subjektive Befreiung und soziale Umsetzung gleichermaßen ermöglichen, und daß die entsprechenden Kriterien dazu entwickelt und verankert werden.

Wir haben darüber diskutiert, daß Strukturen entwickelt werden sollten, die:

1. einen sozialen Sinn / Wert haben,

2. eine politische Kraft aufbauen, und in denen

3. Kriterien für gleichberechtigte Beziehungen und menschliches und solidarisches Miteinanderumgehen gelten, also Kriterien, die auch bei einer Verschiebung der Machtverhältnisse, in der Linken wie auch gesamtgesellschaftlich, nicht neue Macht zur Macht über andere, anders Denkende, anders Lebende, werden lassen.

 

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Wir haben in der Diskusssion zur Vorbereitung dieser Veranstaltung versucht herauszufinden, was Kriterien für linke Politik sein können. Als Reaktion auf Birgits Prozeßerklärung vom 21.7. gab es unter anderem den Vorwurf, sie sei moralisch. Wir haben deshalb versucht, gerade den Begriff der Moral zu untersuchen.

Dieser Begriff vereinigt zwei Aspekte in sich: Erstens ist er eine Ideologie zur Herrschaftssicherung, im Sinne von Verhaltensanweisungen - tu dies, laß jenes sein, das ist gut, jenes ist böse. Gleichzeitig enthält jede Moral eine Vorstellung von Gerechtigkeit, und zwar im Anspruch, daß es allen Menschen gut gehen soll, wenn sie sich "gut" verhalten. (Beispiel für eine solche Zweiteilung ist das Moralsystem im Neuen Testament, in dem einerseits eine Obrigkeitshörigkeit genau vorgegeben ist, und das gleichzeitig Ungerechtigkeiten thematisiert. Einerseits: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist" - seid brav, zahlt Steuern, muckt nicht auf. Andererseits: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt" - es wird eine -allerdings sehr späte- ausgleichende Gerechtigkeit geben. Wie gesagt, das ist ein Beispiel.)

Ein grundsätzliches Problem ergibt sich daraus, daß wir in eine egalitäre Gesellschaft nur über eine ungleiche Behandlung der einzelnen kommen werden, wirkliche Gerechtigkeit läßt sich nur über solche ungleiche Behandlung der einzelnen Menschen herstellen. Das ergibt sich aus der ungleichen Verteilung von Wohlstand, Macht, Chancen etc., durch die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse. (Um es ganz banal zu sagen: Wer zuviel hat, wird nach einer egalitären Umverteilung weniger haben als gegenwärtig, wer zuwenig hat, wird mehr haben. - Den einen wird etwas weggenommen, was den anderen - eigentlich, aber nicht juristisch - gehört.)

Eine solche Umverteilung anzustreben, beinhaltet aber keinen Freifahrtschein nach dem Motto: Wir wollen Gerechtigkeit, also ist egal, wie wir sie erreichen. Die Bestimmung dessen, was legitim ist, richtet sich immer nach der gesellschaftlichen Situation. (Was allerdings nicht in erster Linie heißt: nach der Akzeptanz in einer abstrakten "Bevölkerung".) - In Birgits Beispiel: Kampfpraktiken aus der Zeit des Widerstandes in den von der Nazi-Wehrmacht besetzten Gebieten lassen sich heute nicht mit der gleichen Berechtigung gegen Bundeswehrkasernen anwenden. - Kann es also für solche Bestimmungen keine objektiven Kriterien geben, sind sie immer nur und ganz situativ? Anders als Birgit meinen wir, es gibt sie doch. Sie existieren jedoch nicht als Handlungsanweisung, sondern als Frage, als Problem, als Suche und in der Veranlassung, die jeweiligen Entscheidungen auch zu vertreten. Allerdings läßt sich zum einen festhalten, es geht darum, die Verhältnisse immer von unten zu betrachten (in dem Sinne ist der Trikont-Bezug der RAF richtig, wenn auch verschwommen, in dem Sinne ist auch Birgits Kritik an der Pimenthal-Erschießung richtig, weil ein einzelner Soldat eben nicht für das "System" genommen werden kann). Zum zweiten muß immer das Verhältnis von konkretem Ziel und eingesetztem Mittel analysiert werden (egal, ob GI oder General, man erschießt Leute nicht wegen einer ID-Card, und im selben Sinn wäre eine Kritik auch an anderen Aktionen der RAF angebracht).

Grundlage für viele Fehler ist eine Hierarchie der Mittel, in der diejenigen Mittel welche die Situation am stärksten eskalieren, als revolutionärste gelten und sich darüber natürlich automatisch eine hierarchische Kommunikationsstruktur aufbaut. Wir meinen, stattdessen muß es eine gleichberechtigte Kommunikation unterschiedlicher Ansätze und Eskalationsstufen geben.

Natürlich bleibt die Frage, welche Ansätze und Positionen sich in ein solches Projekt einreihen lassen. Ein radikaler Pazifismus, der uns aus seinen Zielvorstellungen nahestehen kann, aber ganz bestimmte Mittel vorgibt und andere ausschließt, wäre beispielsweise eine Tendenz, mit der eine Vermittlung schwierig wäre. Vielleicht jedoch nicht unmöglich. - Auf jeden Fall aber sind moralische Bestimmungen des Kampfes (moralisch im hier vorgeschlagenen Sinn: es geht um Gerechtigkeit, nicht abstrakt um "gut" und "böse") ein sehr wichtiges Feld in der Diskussion über die Erneuerung der Linken.