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Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 6

Wiesbaden, den 22. Juli 1995

 


Prozeßbericht Mitte Mai bis Mitte Juli

 

Am 30.5. präsentierte Schieferstein ein Schreiben "An die Justizbehörden Frankfurt" ohne Datum und Absender. Es war eine Sprengstoffattrappe in die Tiefgarage des Justizgebäudes gelegt worden, geht daraus hervor. Birgits Anwalt protestierte gegen die Einführung dieses obskuren Schreiben, da es mit dem Verfahren nichts zu tun habe und es sich bei der Verlesung um Stimmungsmache handele. Schieferstein bestand darauf, daß das Schreiben nicht obskur sei und sagte, die ZuschauerInnen "sollen von der Bedrohung in Kenntnis gesetzt werden".

 

Noch ZeugInnen zu Tietmeyer

 

Am 6.7. war die restliche Familie der Zeugin Walter-Chorfi (Auto-vermietung) da. Zur Erinnerung: Walter-Chorfi ist die einzige Belastungszeugin im Zusammenhang mit Tietmeyer. Sie hat Birgit erstmals bei einer versteckten Gegenüberstellung 1993 im Knast Preungesheim an angeblichen O-Beinen "erkannt"; Birgit hatte sich den Arm vors Gesicht gehalten, als sie merkte, was gespielt wird (siehe Info 3).

Nun war der Ehemann Herr Walter und die Mutter, Frau Chorfi, geladen. Diese beiden hatten an der Gegenüberstellung 1993 ebenfalls teilgenommen, jedoch Birgit nicht identifiziert.

Dennoch begann Frau Chorfi, zu der Autovermietung 1988 befragt, mit den Worten: "Also, da kam die Frau Hogefeld..."

Bei der Vernehmung dieser Zeugin wurde transparent, mit welchen Mitteln eine "Wiedererkennung", die sogar den eigenen Erinnerungen der Zeugin widerspricht, herbeigeführt werden kann. Die Zeugin Chorfi, überzeugt davon, daß sie Birgit Hogefeld identifizieren soll, bleibt bei ihrer Aussage von 1988, daß die Automieterin blaue Augen und einen hellen Teint gehabt habe. Mit Blick auf die Angeklagte, die ziemlich eindeutig keine blauen Augen hat, ergänzt sie, sie könnte ja gefärbte Kontaktlinsen getragen haben.

Befragt, seit wann sie denn "wisse", daß es sich bei der Automieterin 1988 um "Frau Hogefeld" gehandelt habe, sagt sie: Seit ihrer Vernehmung im Juni 1993. Und zwar nicht etwa, weil sie sie da wiedererkannt habe (sie hat bei dieser wie bei allen anderen Vernehmungen "die Falsche" ausgedeutet). Sie hatte die vernehmenden Beamten gefragt, um wen es denn ginge und ob sie "die Richtige" ausgesucht habe, woraufhin die ihr antworteten, daß sie ihr das nicht sagen dürften und daß sie um 22.00 Uhr Fernsehen gucken sollte, da käme es dann. Seitdem "weiß" sie, daß das "die Frau Hogefeld" war, die damals 1988 ein Auto geliehen und vor allem nicht zurückgebracht hat. Auch die Tochter hat an diesem Abend erfahren, "daß es Frau Hogefeld war".

Auch bei der Gegenüberstellung in Preungesheim hat sie "die Falsche" ausgesucht, wie sie dem Gericht schilderte. Vom Anwalt befragt, woher sie denn wußte, daß sie die Falsche ausgedeutet habe, erklärte sie, daß die drei ZeugInnen zusammen nach Wiesbaden zum BKA gebracht wurden, um dort nochmals befragt zu werden. Frau Chorfi sah im BKA die Frau, die sie bei der Gegenüberstellung identifiziert hatte, an einer Glastür vorbeilaufen und schloß messerscharf, daß das wohl nicht Frau Hogefeld sein könne, sondern eine BKA-Beamtin, die als Vergleichsperson aufgetreten war. Da wußte sie, daß sie auf dem Zettel, den die Beamten in Frankfurt schon eingesammelt hatten, "die Falsche" angegeben hatte.

 

Auch der Schwiegersohn Herr Walter hatte bei keiner Vernehmung bislang Birgit identifiziert.

Auch er fragte die Vernehmungsbeamten, ob er die "Richtige" ausgedeutet habe. Als der Zeuge aufgefordert wurde, sich im Gerichtssaal umzuschauen, ob er jemanden wiedererkenne, schaute er Birgit an, äußerte sich aber unklar. Schieferstein forderte ihn auf, doch näher ranzugehen, woraufhin er sich glotzend Birgit näherte. Das war derart widerlich und zudringlich, daß sich Birgit dem entzog. Auch nach einer Wiederholung dieser schmierigen Attacke hat der Zeuge Birgit nicht identifiziert.

 

Zum Komplex Tietmeyer gab es (am 22.6.) noch einen weiteren Zeugen, und zwar den 1934 geborenen Herrn Lohmer. Hier ging es um eine Frau, die dieser im September 1988 an seinem Geburtstag bei einem Auto mit Vermessungsgerätschaften gesehen hat. Er schildert die Frau schwärmerisch als "sehr schön", "sehr gepflegt", "fein", "graziös", "wie Nana Mouscouri" etc.

Er hatte bei früheren Lichtbildvorlagen kein Bild erkennen können, nur auf einem Ähnlichkeit festgestellt, aber die Frau, die er gesehen hatte, hatte ein viel feineres Gesicht gehabt, betonte er mehrmals. Er würde sie sicher wiedererkennen, wenn er sie sehe. Aufgefordert, sich im Gerichtssaal umzuschauen, ob er eine sehe, die Ähnlichkeit mit der Frau von damals hat, deutete er nach langem Zögern auf eine der uniformierten Wachtmeisterinnen; er schien beleidigt über diese Zumutung an seinen guten Geschmack, weil die Frau von damals eben "viel feiner" ausgesehen hat.

 

 

Weitere Zeugen zu Airbase

 

Am 13. und 29.6. ging es um zwei Autokäufe 1985, also zu Airbase. Dazu waren vier Zeugen geladen, die sich naturgemäß kaum noch erinnern konnten. Was sie noch wußten und was sich aus der Verlesung der Vernehmungsprotokolle ergab, wies eher nicht auf Birgit hin.

Unauffälligkeit war das einzigste Merkmal, an das sich der Zeuge Hendrix (GI) am 30.5. erinnert.

Hier ging es wieder um die Pimental-Begleiterin. Er hat bei Lichtbildvorlagen und bei der Vorführung des BKA-Videofilms keine Frau identifizieren können. Zu Fotos von Birgit, die er in der Zeitung auch gesehen hat, sah er keinen Zusammenhang mit der damaligen Pimental Begleiterin. Aber daß die Frau aus dem Western-Saloon große Augen gehabt habe, bestätigte er nach mehrmaligen Nachfragen seitens der Richterbank, na, wenigstens ein Häkchen für Herrn Klein.

Mehr Häkchen konnte er hingegen am 13.7. machen, da ging es wiederum um die Frau aus dem Western-Saloon. Der Zeuge White ist ähnlich überraschend wie der kurzsichtige GI Tui (siehe Info 5) nach der Verhaftung von Birgit 1993 und der Manipulation durch den BKA-Videofilm zu der "Erkenntnis" gekommen, daß es sich bei der Pimental-Begleiterin 1985 um Birgit gehandelt habe. Wie bei Tui war die Vorführung des BKA-Films im Gerichtssaal schon vorbereitet.

Der Zeuge White, früher Soldat, heute Aufsichtsbeamter beim Atommüll, hatte bei den ersten Vernehmungen zuerst kein Foto ausgedeutet, nach weiteren intensiven Lichtbildvorlagen benannte er eine Person, bei der er Ähnlichkeit feststellte. Beschrieben hatte er sie sehr allgemein: Dunkles kurzes Haar, sehr dünn, mittelgroß, große braune Augen. Es stellte sich heraus, daß er das Foto einer der Frauen aus der RAF ausgedeutet hatte, die schon 1980 in die DDR übergesiedelt waren.

In den erneuten Befragungen nach Bad Kleinen wurde ihm der BKA-Film vorgeführt und Fotos vorgelegt - die Lichtbilder der Aussteigerinnen befanden sich nicht mehr darunter. So mußte er sich neu orientieren, was anhand des Filmes leichtfiel. Von den 5 Frauen in dem Film sind 3 hellblond und vier kräftig, nur eine ist dunkelhaarig und schmal. Die vorbereitete Wiederholung dieser Farce im Gerichtssaal entlarvte sich vollends, als der Zeuge, von Birgits Anwalt befragt, ob er der Ansicht sei, daß alle Frauen in dem Video dunkelhaarig und dünn gewesen seien, ein wahrheitsgemäßes "Nein" sehr zögerlich hervorbrachte.

 


 

Prozeßerklärung vom 21.07.1995

 

I ch will heute einen Text vorlesen, in dem ich mich vor allem mit der RAF-Geschichte, unseren Erfahrungen und dem, was meiner Meinung daraus zu lernen ist, auseinandersetze. Daß ich gezwungen bin, für diesen Text einen Vorspann zu schreiben, hängt damit zusammen, daß es aus staatlicher Sicht eine solche Auseinandersetzung nie geben sollte und auch heute nicht geben soll. Die Liste der Maßnahmen, die darauf zielen, das zu verhindern, reicht von Bücherverboten, der Kriminalisierung unzähliger Menschen, einer Postzensur bei uns Gefangenen, die inhaltliche Auseinandersetzungen an bestimmten Fragen nicht zuläßt oder derart verschleppt, daß das Schreiben sinnlos wird; den Besuchsverboten ehemaliger RAF Gefangener bei Christian Klar bis dahin, daß Eva Haule allein aufgrund einer politischen Diskussion über Aktionen Mitte der 80-er Jahre ein lebenslänglich-Urteil bekommen hat. Eva's "wir" in diesen Diskussionspapieren sagt selbst laut BKA-Analysen nichts darüber aus, ob sie persönlich an den Aktionen, um die es darin geht, beteiligt war oder nicht; trotzdem hat dieser Staatsschutzsenat daraus eine "Tatbeteiligung" konstruiert und sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Das war das letzte Glied in einer Kette: RAF-Mitgliedschaft und die Tatsache, daß jemand zu seiner bzw. ihrer Geschichte steht und auch im Knast die inhaltliche Diskussion daran weiterführt, reicht für ein solches Urteil aus. Damit soll eine Auseinandersetzung mit unserer Politik und Geschichte sogar für uns selber verhindert werden und damit soll - was in der aktuellen Situation hier mindestens genauso wichtig ist- die Geschichtsschreibung über unsere Politik der 70-er und 80-er Jahre in die Hände der Bundesanwaltschaft gelegt werden. Mit Hilfe von Leuten wie Boock und den "DDR-Aussteigern", den späteren Kronzeugen, soll ein Bild gezeichnet werden, das unseren Aufbruch und Versuch, hier für die Umwälzung der Verhältnisse zu kämpfen, als unbegründet und sinnlos darstellt. Vor dem Hintergrund, daß von uns eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, unseren Erfahrungen und Fehlern weitgehend fehlt, ist das natürlich besonders leicht und so reichen oft ein paar selbstkritisch wirkende Sätzchen einer Silke Maier-Witt oder eines Werner Lotze oder die erstaunlichen Phantasiegeschichten eines Boock und schon ist das Bild über die RAF auch in den Köpfen vieler linker und fortschrittlich denkender Menschen festgeklopft.

 

Aber im Grunde ist das auch gar nicht verwunderlich - endlich redet jemand von denen, die die RAF von innen kennen, über Fehler und spricht Kritiken aus, die viele so oder ähnlich sehen. Ich selbst finde auch nicht jeden Satz und jede Kritik, die aus diesem Personenkreis kommt, falsch, aber das alles hat für mich nichts mit einer selbstkritischen Betrachtung des eigenen Lebenswegs zu tun - wenn es ihnen tatsächlich darum ginge, dann würden sie trotzdem zu ihrer Geschichte und auch zu dem, was sie im Nachhinein als Fehler ansehen, stehen, aber nicht auf Kosten anderer die eigene Haut retten. So ist das alles nur Mittel zum Zweck: das Bild, das sie über die RAF zeichnen, die selbstkritisch wirkenden Sätze und genauso die Aussagen über die, mit denen sie während ihrer Zeit in der RAF zusammen waren. Das ist der Preis, den die Bundesanwaltschaft festgesetzt hat und sie zahlen ihn.

 

 

Wir anderen dagegen sollen nicht öffentlich zu Wort kommen. Erst vor 3 Wochen hat dieser Senat wieder einen Beschluß verfaßt, in dem es heißt: "die Angeklagte ist von der Außenwelt streng getrennt zu halten", vorletzte Woche wurde der x-te Antrag eines Fernsehsenders auf ein Interview mit mir abgelehnt und dieser Prozeß gegen mich ist der einzige Ort, wo ich mich öffentlich äußern kann. Ich denke, wir müssen die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte endlich selbst anpacken - und das geht mit Sicherheit nicht, wenn immer noch ein Großteil von denen, die irgendwann in ihrem Leben in der RAF waren, entweder irritiert und kopfschüttelnd vor diesem Abschnitt ihres Lebens stehen oder im Gegensatz dazu keinerlei Kritik aushalten. Beides ist falsch, denn beides verhindert eine Auseinandersetzung und Begreifen, womit ich aber nicht blinde Zustimmung meine, sondern Verstehen. Ich denke, ohne die eigene Geschichte zu begreifen, kann niemand etwas neues anfangen, es sei denn, er oder sie schneidet alles hinter sich ab, was ja auch viele gemacht haben.

 

Auch wenn ich heute denke, daß wir viele Fehler gemacht haben - unser Aufbruch und Kampf für eine andere Welt war zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt und ein solcher Kampf muß konfrontativ geführt werden. Jetzt geht es darum, daß wir Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen ziehen, weil die für die Bestimmung zukünftiger Kämpfe wichtig sind und weil es auch nicht darum gehen kann, daß andere unsere Fehler wiederholen, weil wir nicht darüber reden.

 

Im folgenden Text geht es um die gesamte RAF-Geschichte, natürlich fehlt darin vieles - eine genaue inhaltliche Darstellung unserer Bestimmungen in ihrem jeweiligen Kontext habe ich beispielsweise weitgehend weggelassen, das hätte sonst den Rahmen gesprengt. Über all das ist sehr viel mehr zu sagen, schließen sich viele Fragen an usw. .Ich begreife den Text als einen Beitrag und konzentriere mich auf die Punkte und Fragen, die mir am wichtigsten erscheinen. Ich habe den gesamten Text da, wo es um die RAF geht, in 'wir'-Form abgefaßt - mein Lebensweg- ist jetzt seit 20 Jahren eng mit dieser Gruppe verbunden und deshalb denke ich, daß ich für die gesamte Geschichte Verantwortung trage.

 

 

Vor einiger Zeit hatte ich das im Zusammenhang mit der Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental angekündigt, denn meiner Meinung nach reicht es nicht aus, einzelne Aktionen kritisch zu hinterfragen und zu beleuchten, ohne sie in ihrer Entwicklung und ihrem Zusammenhang anzuschauen. Das würde nicht nur allem nicht gerecht werden, aus einer solch reduzierten Betrachtung wären auch keine Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen, zumindest nicht sehr weitreichende. Wie ich schon gesagt habe, halte ich die Erschießung des US-Soldaten für eine der schlimmsten Fehlentscheidungen in der RAF-Geschichte. Eine solche Aktion: 1985 hier einen einfachen GI der US-Armee zu erschießen, um an dessen Ausweis zu kommen, ist mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar. Ich denke, es ist falsch und ignorant, diese Aktion sozusagen als `politischen Unfall' abzutun, wie wir das damals gemacht haben, denn in Wirklichkeit spiegelt sich in ihr die Denklogik wieder, die unserem Politikverständnis und unseren Bestimmungen Mitte der 80-er Jahre entsprach.

 

Von heute aus betrachtet schließen sich für mich daran vor allem zwei Fragen an. Zum einen, wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernt haben, und außerdem, wie konnte eine Gruppe wie die RAF sich derart von der sozialen Realität im eigenen Land entfernen? Selbst zu großen Teilen der Linken hin hat diese Aktion eine tiefe Kluft geschaffen, Aber die Kluft ist nicht allein auf diese Aktion und die Tatsache, daß damals fast die gesamte Linke ungläubig bis fassungslos vor der Erschießung des GI stand, zurückzuführen. Ich denke, eine mindestens ebenso große Rolle spielt in dem Zusammenhang, daß wir uns damals jeder Kritik entzogen haben - und gerade aus dem Spektrum der radikalen Linken gab es Ansätze solidarischer Kritik und Versuche, eine Diskussion darüber in Gang in setzen. Und, bei vielen hat diese Erschießung Assoziationen und Parallelen zu 77 geweckt - den Soldaten wegen des Ausweises zu erschießen, drückt ein rein funktionales Verhältnis aus, degradiert diesen Menschen zum Objekt; ähnlich war es 77 bei der Entführung der Lufthansamaschine, auch da waren Menschen, Mallorca-Urlauber, zum Objekt gemacht worden. Aber 77 wurde in einer Zwangssituation gehandelt: Schleyer war entführt und die Bundesregierung lehnte die Freilassung der Gefangenen ab und setzte auf einen Fahndungserfolg. Das war der Rahmen, in dem damals die Entscheidung für die Flugzeugentführung getroffen worden war und bei aller Kritik an dieser Aktion, haben viele Linke die Umstände, unter denen es zu dieser Entscheidung, zu diesem Fehler gekommen war, gesehen. Eine ähnliche Zwangssituation hat es 1985, als der US-Soldat wegen des Ausweises erschossen wurde, nicht gegeben und auch deshalb kam danach von verschiedensten Menschen und Gruppen umfassende Kritik, verbunden mit der Aufforderung, die Diskussion daran öffentlich zu führen. Doch anstatt sich dieser Kritik zu stellen, wurden Kritikerinnen und Kritiker diffamiert, indem ihnen unterstellt wurde, die Konfrontation, die revolutionärer Kampf bedeutet, zu scheuen, und daß sie die Schärfe der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Befreiungskämpfen nicht sehen wollten. Diese Reaktion auf Kritik war durchaus nicht unüblich in unserem Verhältnis zur Linken - aber, um das auch mal zu sagen, sie gehörte und gehört auch bei anderen Gruppen und linken Zusammenhängen zur bewährten Abwehrstrategie gegen Kritik; ich sage das nicht, um unsere eigenen Fehler zu relativieren, sondern weil mit dieser Umgehensweise auch heute noch viele Diskussionen blockiert und verhindert werden und weil ich es für längst überfällig halte, damit zu brechen und eine neue Streitkultur zu entwickeln. Jedenfalls hat unsere Verweigerung einer öffentlichen Diskussion für die darauffolgende Zeit den Weg für eine gemeinsame Ausrichtung unserer Kämpfe und Initiativen mit anderen Gruppen versperrt - und das, obwohl 'zusammen kämpfen eine unserer zentralen Parolen war. Das wurde für uns damals aber nicht zum Wider spruch, weil wir die Gründe, die ein Zusammenkommen mit anderen Gruppen (über unser 'traditionelles politisches Umfeld' raus) verhindert haben, ausschließlich bei anderen und nie bei uns selber gesucht haben.

 

Heute denke ich, daß es bei uns Fehlentwicklungen gegeben hat, die ihren Ausgangspunkt schon sehr früh in den 70-ern hatten und zwar v.a. in unserer zunehmenden Abwendung von der gesellschaftlichen Realität, dem Zorn, dem Frust, dem Leiden vieler Menschen hier. Aus der 68-er Revolte entstanden, bezogen wir uns in unserer Aufbauphase sehr stark und direkt auf die Massenproteste dieser Zeit. Im ursprünglichen Organisationskonzept ging es noch um die unmittelbare Verbindung von Stadtguerilla und Basisarbeit, darum, daß alle gleichzeitig auch in Stadtteil- oder Betriebsgruppen mitmachen sollten. Daß diese Vorstellung schnell aufgegeben wurde, hatte zum Teil sicher die praktischen Gründe, von denen die GenossInnen aus dieser Zeit reden, nämlich daß der sofort hochgepuschte Apparat der politischen Polizei, der alle linken Gruppen und Zusammenhänge unter Observation nahm, diese Zweigleisigkeit unmöglich erscheinen ließ. Aber die sehr schnelle Isolierung selbst innerhalb des linken Spektrums ist allein daraus nicht zu erklären. Ich will hier nur kurz einige Stichpunkte nennen: die Diskussionen wurden von beiden Seiten aus zunehmend unsachlicher und dogmatischer; gegenseitige Unterstellungen wie Putschismus und Militarismus einerseits - Reformismus, Integrations- bzw. Karrierewille und Unterwerfung unter das System andererseits; auf jeden Fall waren sie nicht mehr geprägt vom Willen des gegenseitigen sich-zuhörens und verstehen-wollens und es ging von beiden Seiten aus nicht mehr darum, hier zusammen eine Befreiungsperspektive zu entwickeln.

 

Manifestiert wurde dieser Bruch nach der ersten großen Verhaftungswelle und der Tatsache, daß es angesichts des offensichtlichen Vernichtungswillens gegen politische Gefangene keine Kraft gab, die dem eine Grenze setzte. Aus Sicht der Gefangenen verweigerte ihnen der allergrößte Teil der Leute, mit denen sie der gemeinsame Aufbruch verband, an dieser fundamentalen Frage die Solidarität. Gleichzeitig war es aber auch so, daß damals, wie fast in der gesamten RAF-Geschichte, kritische Solidarität immer abgelehnt und diffamiert wurde - solidarisches Handeln an der Frage der Haftbedingungen bei gleichzeitiger Kritik oder Infragestellung unserer politischen Konzeption war nicht erwünscht. Was blieb und zum Teil in seinen Rückwirkungen bis heute zu spüren ist, sind Verbitterung, Verletztheiten und Distanz auf beiden Seiten.

 

Unser frühes Abwenden von der gesellschaftlichen Realität als Bezugspunkt unserer Politik und die damit einhergehende Isolierung sind zu kritisieren, weil so keine tatsächlich relevante politische Kraft aufzubauen war. Es ist aber auch wichtig zu verstehen, vor welchem Hintergrund es zu dieser Isolierung gekommen ist, denn die ist ja nicht einfach im luftleeren Raum entstanden, sondern hängt zusammen mit eigenen Erfahrungen und der gesellschaftlichen Situation, auf die wir getroffen sind. Ich denke, zur RAF sind zu jeder Zeit nur Menschen mit ganz bestimmten Erfahrungen, Weltbildern, Vorstellungen usw. gestoßen; für mich, genauso wie für alle anderen, hätten objektiv unzählige andere Lebenswege offengestanden. Daß wir uns für diesen entschieden haben, hat Gründe, die ganz sicher auch mit unseren persönlichen Lebensgeschichten zu sammenhängen, die - obwohl sie sehr unterschiedliche sind - für jede und jeden von uns zum im Kern ähnlichen Erfahrungen und dann Konsequenzen geführt haben. Daß das so ist, hat seine Gründe in der gesellschaftlichen Situation, aber auch in der Geschichte dieses Landes, in deren Schatten wir aufgewachsen sind. Deshalb war die RAF trotz unserer relativen Isolierung immer auch Ausdruck und Antwort auf diese Realität - anders hätte es die mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kontinuität, also die Tatsache, daß sich immer wieder Menschen für diesen Weg entschieden haben, nicht gegeben. Wir haben nicht einfach im luftleeren Raum agiert, es gab immer Menschen, die eine Verbindung zwischen ihren eigenen Kämpfen und unserem Kampf sahen und immer auch welche, die sich in unserem Kampf - und sei es allein als Antwort auf ihre permanente Entwürdigung und Unterwerfung - wiederfinden konnten.

 

Während meiner Kindheit erlebte dieses Land - und so auch meine Familie - die Zeit des "Wirtschaftswunders", mit all ihrer Sinnentleerung und Verknüpfung des Lebensinhalts mit materiellen Werten und Konsum. All das konnte nicht darüber hinweg täuschen, daß darunter etwas anderes, unausgesprochenes verborgen werden sollte. Faschismus, seine Verbrechen und Krieg - auf den familiären Rahmen bezogen z.B., die Rolle meines Vaters während seiner Zeit als Wehrmachtsoldat - waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über allem. Ich hatte, wenn auch anfangs nicht das Wissen, so doch die Ahnung, daß es da eine ungeheure Schuld gibt, über die niemand redet.

 

 

In einem Brief an Freunde hatte ich Erinnerungen aus meiner Kindheit beschrieben, von de nen ich denke, daß sie so oder ähnlich zu unzähligen Biographien von Menschen meiner Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, gehören. Für mich waren sie sehr einschneidend und ich bin mir sicher, daß sie mein Leben entscheidend mit geprägt haben.

 

"In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebt seit Generationen die Familie meiner Mutter - während der Nazi-Herrschaft war am Rande dieses Dorfes ein Arbeitslager mit Kriegsgefangenen und durch unser Dorf fuhren regelmäßig Busse mit körperlich und/oder geistig behinderten Menschen, die nach Hadamar gebracht wurden. In Hadamar ist eine psychiatrische Anstalt, in der im Dritten Reich Gaskammern installiert wurden und dorthin wurden die Menschen in den Bussen gebracht, sie wurden alle vergast und verbrannt.

 

Als Kinder wußten wir von beidem, vom Arbeitslager und auch von dem Gas bzw. von den Öfen, in denen die Leichen verbrannt worden sind; Mit uns wurde aber nie darüber gesprochen, wir kannten das nur aus Gesprächsfetzen von Erwachsenen, die wir heimlich in unbeobachteten Momenten aufgeschnappt hatten. Wenn dabei die Erwachsenen die Anwesenheit von uns Kindern bemerkten, wurden solche Gespräche - die immer in geflüstertem Ton geführt wurden - sofort abgebrochen. Wir hatten von allem auch keine genaue Vorstellung, sondern versuchten uns aus Halbsätzen wie: 'alle wußten doch, was mit den Menschen in den Bussen passiert' oder 'alle konnten es doch riechen' ein Bild zu machen,"

 

Gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ist es heute schwer nachvollziehbar, daß wir - genauso wie andere linke Zusammenhänge - zu einen Faschismusbegriff kommen konnten, in dem Faschismus in erster Linie als über der Gesellschaft stehende, den Kapitalinteressen dienende Herrschaftsstruktur gesehen wurde. Dabei hätten doch gerade wir das aus unserem eigenen Leben besser wissen können. Die Kontinuität des NS-Faschismus zeigte sich nicht nur in der Kontinuität von Nazi-Richtern usw. - bis in die kleinsten Winkel der Gesellschaft, des täglichen Lebens hatten sich nach 45 wesentliche Tugenden, Denk- und Wertvorstellungen weitergehalten, wurden reproduziert und an uns weitergegeben. Aber das wurde in seiner ganzen Dimension lange Zeit auch in Teilen der Linken viel zu wenig gesehen. Die Konsequenzen aus der Geschichte waren in erster Linie eine radikale Verurteilung von Faschismus, Abgrenzung zu den Eltern und eine tiefe moralische Verpflichtung für einen selber - wobei diese Abgrenzung mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle auch für die Ausrichtung und Bestimmung unserer Kämpfe gespielt hat. Die Linke in Deutschland hat alles "Deutsche" immer weit von sich gewiesen, aber so richtig und notwendig Internationalismus war und ist, mit unserer internationalistischen Identität haben wir uns lange Zeit auch viele Fragen vom Hals gehalten, z.B. solche, die seit einigen Jahren mit der Rassismus-Diskussion auf den Tisch gekommen sind, unsere eigenen Wertmuster und Vorurteile betreffend. Auch bei der Ausprägung unseres Moralbegriffs hat die Haltung dieser Elterngeneration meiner Meinung nach eine wichtige Rolle gespielt. Die Erfahrung mit diesen Eltern, ihrer Ignoranz und Weigerung, wenigstens im Nachhinein die eigene Verantwortung auch durch Nichteinmischen, Nicht-helfen oder Mitläufertum anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen, hat bei vielen Menschen meiner Generation zu sehr festgelegten Moralvorstellungen zu bestimmten Fragen geführt. Dazu gehört z.B. die unbedingte Verpflichtung für Schwache, für Menschen, die niedergemacht werden sollen, einzutreten und im Umkehrschluß genauso die unbedingte Verurteilung derer, die dafür verantwortlich sind bzw. auf der Seite der Verantwortlichen stehen. In dieser schwarz-weiß-Sichtweise, der Einordnung in "Mensch oder Schwein", war uns lange der Blick auf die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit sowie auch der einzelnen Menschen verstellt. In diesem Bild steht ein US-Soldat natürlich auf der Seite 'der Schweine' - was. er objektiv ja auch tut, denn Pimental wäre höchstwahrscheinlich bereit gewesen, an Kriegen und Massakern der US Armee egal wo auf der Welt mitzumachen. Aber da muß es auch eine zweite Seite geben, nämlich die, daß es nicht dasselbe ist, ob einer ein kleiner GI ist, dem so sehr viele Alternativen im Leben meist nicht geboten wurden oder ob einer ganz oben im Apparat weitreichende Entscheidungen trifft und so in ganz anderer Form Verantwortung trägt. Diesen Unterschied festzustellen, wurde KritikerInnen damals als 'sozialarbeiterischer Blick" vorgeworfen. Wir selbst haben mit unserer eingeengten schwarz-weiß Einordnung der Welt solche Unterschiede nicht gesehen und nicht sehen wollen.

 

Aber zurück zu den Verbindungen zur Geschichte dieses Landes. Für viele hat sich bei den Bildern aus Vietnam, dem Einsatz von Napalmbomben und chemischen Waffen wie agent orange, der Bombardierung von Staudämmen, eben dem offensichtlichen Willen, dieses Volk auszulöschen, die Parallele zu Auschwitz aufgedrängt - für Jugendliche in Deutschland, die die Augen nicht vor den Verbrechen der Vergangenheit verschlossen, konnte das nicht anders sein. Für viele ergab sich daraus zwingend die Notwendigkeit - als moralische Verpflichtung gegenüber der Geschichte - sich auf die Seite dieses Volkes zu stellen, zu überlegen, was man selber machen kann gegen seine Vernichtung, eben nicht zuzuschauen, sondern zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Und natürlich gab es gleichzeitig die Identifizierung mit den Befreiungszielen, die sich mit unseren eigenen Utopien deckten - es war beides. Selbst für mich, die ich zu dieser Zeit noch Schülerin war und selber nur an den letzten Vietnam-Demos beteiligt war, entstand daraus eine Verpflichtung, die sich bis heute durch mein Leben zieht. Vietnam, dieser Krieg ist für mich zum Synonym für Verbrechen und Unterdrückung geworden. Das Bild des napalm-verbrannten nackten Kindes, das damals tausendfach um die Welt ging, dieses Bild war für mich einzige Aufforderung und Verpflichtung zu handeln und Verbrechen nicht zuzuschauen. Fast mein ganzes Leben lang habe ich in Situationen, die ich schwer zu bewältigen fand oder vor denen ich große Angst hatte, mir das Bild dieses Kindes ins Gedächtnis gerufen - mit ihm habe ich viele für mich wichtige und schwierige Entscheidungen getroffen.

 

Wenn ich mich an die Zeit meiner eigenen Politisierung zurückerinnere - anfangs war ich an ganz unterschiedlichen Fragen und in vielen sehr verschiedenen Bewegungen aktiv; das ging von Arbeit in einem sozialen Brennpunkt mit überwiegend türkischen Kids; Initiativen für selbstverwaltete Jugendzentren oder an der Schule für die Durchsetzung von mehr Selbstbestimmung; Fahrpreiskämpfen bis zu Demos gegen den Vietnamkrieg, oder das Folterregime in Spanien. Diese Vielfältigkeit meiner Aktivitäten hat sich fast schlagartig mit der Ermordung von Holger Meins geändert. An diesem Hungerstreik, in dessen Verlauf ich angefangen habe, mich mit Isolationsfolter, toten Trakts, der systematischen Vernichtung von politischen Gefangenen auseinanderzusetzen und an dessen Ende der Tod von Holger Meins stand, lief eine der zentralen Weichenstellungen für mein Leben. Das Bild des toten Holger Meins werden die meisten, die es kennen, ihr Leben lang nicht vergessen - sicher auch deshalb, weil dieser ausgemergelte Mensch so viel Ähnlichkeit mit KZ-Häftlingen, mit den Toten von Auschwitz hat. Um Mißverständnissen vorzubeugen, ich will keine Parallele ziehen zwischen Vernichtung und Mord an politischen Gefangenen und den Verbrechen des NS-Faschismus in Auschwitz und anderswo, aber bei diesen Bildern haben sich solche Assoziationen aufgedrängt - bestimmt nicht nur mir. Für mich wurde daraus eine zentrale Herausforderung, mit einer zutiefst moralischen Fragestellung, nämlich der, ob alles, was ich bis dahin über NS-Faschismus wußte und meine tiefe Ablehnung, verbunden mit dem Vorwurf an den Großteil der Generation vor uns, nichts dagegen unternommen zu haben, ob all das bloß hohles Geschwätz war und ich im Grunde genauso ignorant und feige gegenüber solchen Verbrechen bin oder ob ich dagegen Partei ergreife. Diese Frage, die Frage nach meiner eigenen Identität, Glaubwürdigkeit und Verantwortung war ab diesem Zeitpunkt (und für lange) an die Bedingungen und das Leben der politischen Gefangenen geknüpft. Ich stand damals kurz vor dem Abitur und eigentlich hätte ich entsprechend meiner Neigungen und Interessen gern ein Musikstudium angefangen oder Orgelbau gelernt, aber ich habe mich (nicht ohne innere Überwindung) entschlossen, Jura zu studieren, um so die Situation dieser Gefangenen zu verbessern und um zu versuchen, weitere Morde zu verhindern. Das, was damals Leute wie Croissant, Schily usw. gemacht haben, fand ich sinnvoll und darin habe ich meine Perspektive als Rechtsanwältin gesehen.

 

 

 

Schwerpunkt meiner politischen Initiativen wurde sehr schnell die "Rote Hilfe", eine Gruppe, die den "Komitees gegen Folter" entsprach. Ich habe angefangen, Gefangene zu besuchen, bin zu Prozessen hingegangen, damals der Stammheimer- und der Stockholm Prozeß, In dieser Zeit konnte man förmlich spüren, wie die Situation sich ständig zuspitzte. Dann der Mord an Ulrike Meinhof, das war alles vorauszusehen. Ich habe noch Bilder vor Augen, von Gefangenen, die im Hungerstreik waren, dünn, klapprig, mit glasigen Augen. Ich kann mich erinnern, daß ich nach einem solchen Besuch bei Karl-Heinz Dellwo hinterher nicht wußte, worüber wir geredet hatten - ich war nur von der Angst besetzt, daß er sterben könnte.

 

Aber es war natürlich nicht allein die Situation der Gefangenen, die dazu geführt hat, daß alle aus unserem damaligen politischen Zusammenhang sich von anderen Initiativen, die vorher zu ihrem Leben gehörten, zurückgezogen und ausschließlich auf die Haftbedingungen konzentriert haben. Von allen oder fast allen, die in diesen Jahren zu den Anti-Folter-Komitees oder ähnlichen Gruppen gestoßen sind, gab es von Anfang an eine weitgehende Zustimmung zur Politik der RAF. Bei den meisten war es in erster Linie die Zustimmung zu der Radikalität des Bruchs und der Negation. Das hat meinem Lebensgefühl entsprochen - ich konnte hier nicht leben. Das war das Lebensgefühl eines nicht kleinen Teils einer ganzen Generation. Für jedes Ausbrechen aus dieser dumpfen Enge gab es innerhalb dieser Gesellschaft keinen Platz. Die Reaktionen auf die kleinsten Versuche, selbst etwas in die Hand zu nehmen und zu bewegen - ob vorher in dieser Initiative mit den türkischen Kids, an der Schule oder auf Demos - haben mir und vielen anderen schnell klargemacht, daß es hier in diesem Land eine Grundhaltung von großen Teilen der Gesellschaft und genauso von der Staatsseite aus gibt, die für andere Vorstellungen, Utopien und Lebensformen keinen Raum läßt. Schon als 15 oder 16jährige Schülerinnen und Schülern wurde uns das z.B. bei Demonstrationen (egal ob für mehr Selbstbestimmung an der Schule oder gegen den Vietnamkrieg) sofort deutlich entgegengehalten. Uns wurde ständig von Passanten zugerufen, wir sollten doch in die DDR gehen, wenn es uns hier nicht gefällt - das bestenfalls, aber auch Sprüche wie: "solche wie euch hätte man bei Hitler durch den Schornstein gejagt" waren keine Seltenheit, Das waren durchaus keine Einzelerscheinungen, solche Leute konnten fast immer sofort MitstreiterInnen um sich scharen und Gegenstimmen waren eine wirkliche Ausnahme. Antiautoritäre Bewegung, der 68-er Aufbruch, also eine Jugend, die das Leben, das ihr vorgegeben und aufgezwungen werden soll, radikal ablehnt und nach neuen Orientierungen sucht, die anfängt, Lebensvorstellungen zu leben, bei denen die Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen anstatt Geld, Konsum, Karriere und Konkurrenz, eine solche Jugend sollte es hier nicht geben. Und entsprechend wurden uns dann die altbekannten Antworten: 'ausmerzen' oder eben 'ab durch den Schornstein' entgegengeschleudert. Das alles, also dieses Klima, die gesamte gesellschaftliche Situation mit dieser Enge und Intoleranz, gehört unbedingt dazu, wenn es um die Frage geht, warum es hier von uns aus so lange Zeit eine fast ausschließliche Orientierung unserer Politik an der Negation gegeben hat. Wir waren oft schon als Jugendliche mit diesem System aber auch mit dieser Gesellschaft fertig.

 

Die Kontinuität aus der Zeit des NS-Faschismus war nicht zu übersehen: Nazi-Größen in allen zentralen Bereichen von Staat und Gesellschaft einerseits, aber auch ganz konkret: KPD-Verbot oder schon in den 50-er Jahren wieder erschossene und verletzte Demonstranten andererseits; später dann die Notstandsgesetze, dann die Erschießung von Benno Ohnesorg - das sind nur einige Stichpunkte. All das war hier Realität, wohlgemerkt bevor der erste Schuß von einer bewaffneten revolutionären Gruppe abgegeben wurde. Aber auch die, Theorien vom institutionellen Faschismus, dem Apparat, der sich ein ganzes Arsenal von Repressionsmitteln geschaffen hat und einzusetzen bereit ist, sobald sich Widerstand entwickelt, konnte ich ziemlich bald mit meinen eigenen Wahrnehmungen und der Realität, die mich umgab, zusammenbringen: ermordete Gefangene waren der schärfste Ausdruck, aber auch gegen mich selber lief ab dem Zeitpunkt, als ich 1974 die Gefangenen im Hungerstreik unterstützt hatte, die Maschine an. Wer damals, Mitte der 70-er Jahre RAF-Gefangene unterstützt und zu ihnen Kontakt hatte, war augenblicklich im Visier der politischen Polizei. Ich weiß nicht mehr, wieviel Hausdurchsuchungen ich erlebt habe, wieviele Autokontrollen, bei denen wir mit schußbereiten Maschinenpistolen umstellt wurden, wie viele Observationen - zeitweise konnte man leichter die Tage zählen, an denen es keine gab, als umgekehrt - das alles war und sollte es ja auch sein, eine massive Drohung. Jede und jeder, die oder der mit RAF-Gefangenen solidarisch war und eine Auseinandersetzung suchte, wurde kriminalisiert und sollte durch diverse Einschüchterungsmethoden davon abgehalten werden. An vielem hat sich bis heute nicht so seht viel geändert - eine Auseinandersetzung mit unserer Politik und Geschichte soll es nicht geben, davon zeugen nicht zuletzt die schon erwähnten Beschlüsse dieses Staatsschutzsenats.

 

Die Repressions- und Einschüchterungsmaßnahmen, die damals Mitte der 70-er Jahre gegen Leute wie uns in Gang gesetzt wurden, haben natürlich stark unsere gesamte Lebenssituation bestimmt. Das und die ständige Verschärfung der Situation der Gefangenen bis hin zum Mord, hatten unter anderem zur Folge, daß sich unser Bild, bezogen auf die Wahrnehmungen der gesamten Gesellschaftsentwicklung und v.a. unsere Staatswahrnehmung zunehmend auf den Ausschnitt der eskalierten Reaktionen verengt hat. Ich kann das nachträglich zu mir selber und auch zu anderen, mit denen Ich in dieser Zeit zusammen war, sagen: die Eingrenzung dessen, wofür wir uns - noch - interessiert haben, war ziemlich umfassend, ich habe nur noch einen kleinen Ausschnitt der gesamten Realität und Entwicklung hier und international bewußt wahrgenommen und wahrnehmen wollen das ging bis hin zum Zeitung-Lesen, wo mich nur noch Berichte zu ganz bestimmten Themen interessiert haben. Ich wußte Bescheid über Nato-Strategien und -Manöver, las jede Meldung über einen bei einer Kontrolle von Polizisten erschossenen Autofahrer oder Einbrecher oder auch über brutale Bulleneinsätze gegen Anti-AKW-Demonstrationen - dagegen wußte ich reichlich wenig über inhaltliche Auseinandersetzungen und Fragen in diesen Bewegungen. Unsere auf einen bestimmten Ausschnitt reduzierte Wahrnehmung der Welt, einen Ausschnitt, der zwar real existiert hat und auch heute existiert, aber eben nur einen Teil der Realität ausmacht, führte zwangsläufig zu einem falschen, weil eingeengten Bild, in dem alles zu einem schwarz-weiß Schema zusammengepreßt wurde. In unserem Weltbild waren Widersprüche, eben die Facettenhaftigkeit sowohl auf unserer wie auch auf der Gegenseite ausgeblendet.

 

Für uns hieß das damals, daß wir unsere Initiativen in Bezug auf die Haftbedingungen nur noch halbherzig machen konnten, immer mit einem schlechten Gewissen nicht konsequent zu sein; denn nach unserer Sicht der Welt bedurfte es einer Praxis, die unmittelbar darauf zielt, die Machtfrage an das System zu stellen. Eigentlich hätten wir entsprechend unserem Politikverständnis den bewaffneten Kampf aufnehmen müssen, fühlten uns subjektiv dazu aber nicht in der Lage. Das wurde für die meisten zu einem massiven Druck, der nach außen, also anderen gegenüber kaschiert wurde, und wie das in solchen Fällen häufig ist, mit zunehmendem Dogmatismus und zunehmend radikaleren Sprüchen. Unsere Praxis in dieser Zeit war weiterhin an der Verbesserung der Haftbedingungen orientiert, gleichzeitig machten wir uns aber zu einer Art politischem Sprachrohr der RAF - was weder für uns selbst gut war noch für die RAF. Denn es ging über Proklamationen und Bekunden bzw. das Abfragen von Zustimmung bei anderen nicht hinaus. Jede ernsthafte Auseinandersetzung über Bestimmung, Zielsetzung und Möglichkeiten bewaffneter Politik wurde verhindert, indem jeder Kritik oder Infragestellung die Verbrechen des Imperialistischen Systems entgegengehalten wurden.

 

Bezogen auf Freunde und Freundinnen aus der Zeit vorher, mit denen uns der gemeinsame Aufbruch, gemeinsame Initiativen und Erfahrungen verbanden, die aber andere politische Wege eingeschlagen hatten, ihnen traten wir - genauso wie der gesamten Linken - stur und rechthaberisch gegenüber. Vorwürfe wie der, sie wollten die Schärfe der gesamten Entwicklung nicht sehen und würden persönlichen Konsequenzen ausweichen, (der sich so oder ähnlich durch viele RAF-Texte bis Ende der 80-er Jahre zieht) haben jede auch nur ansatzweise kritische Auseinandersetzung abgewürgt und sollten das im Grunde auch.

 

Das alles führte zu immer mehr Trennungen und Spaltungen und zu unserer Isolierung. Wir selber bewegten uns immer mehr in einer Art Subkultur bestehend aus einem relativ kleinen Zusammenhang von Leuten, verteilt über die ganze BRD, die Kontakt zu RAF-Gefangenen hatten und sich - wie gesagt - als politisches Sprachrohr der RAF verstanden haben. Zu diesem Kreis gehörten viele von denen, die 77 und danach zur RAF gegangen sind, sich bald wieder getrennt haben und in der ehemaligen DDR lebten und die sich nach ihrer Verhaftung der Bundesanwaltschaft als Kronzeugen angedient haben, um auf Kosten anderer die eigene Haut zu retten. Als nach den Verhaftungen in der Ex-DDR bekannt wurde, daß sie alle auf das Kronzeugenangebot eingehen und bis auf eine Ausnahme alle frühere GenossInnen verraten, hatten wir daran viele Gespräche, in denen es auch über die Zeit, die ich oben beschrieben habe, ging. Sicher, die fast 10 Jahre, die sie im dortigen 'sozialistischen Alltag' verbracht hatten, waren vermutlich nicht in der Form identitätstiftend, daß sie daraus viel hätten ziehen können, um dem Druck der Bundesanwaltschaft standzuhalten, aber das allein finde ich als Erklärung für diese massenhafte Kronzeugenandienerei zu wenig. Was hatten sie aus dieser Zeit vorher, woraus sie in dieser schwierigen Situation hätten Kraft ziehen können? Aus unserer zum Teil gemeinsamen Zeit ab Mitte der 70-er Jahre sicher nicht viel, eben weil wir uns in den oben beschriebenen Widersprüchen bewegt haben, in denen wir Fragen und Unsicherheiten nicht zuließen und Diskussionen abgewehrt haben. Die, die später zu Kronzeugen zeugen geworden sind und 77 noch legal gelebt haben, gehörten damals - und auch das er scheint mir logisch - zu den vehementesten Verfechtern, jede Kritik an der Offensive 77, dieser Eskalation und der Flugzeugentführung dann, abzublocken. Sie konnten nur kritiklose Zustimmung aushalten und haben z.T. langjährige Freunde als politische Verräter diffamiert, weil diese eine Auseinandersetzung daran forderten. Ich kenne die Diskussionen innerhalb der RAF Ende der 70-er Jahre über die Ereignisse von 77 nicht, aber allein aus der Tatsache, daß es in den danach veröffentlichten Texten nie auch nur die Andeutung selbstkritischer Reflexionen gibt, lassen sich meiner Meinung nach Rückschlüsse ziehen. In unser Weltbild paßten viele Fragen nicht, weil es eben nur zwei Seiten gab - richtig oder falsch. Eine solche Sichtweise verhindert eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Praxis, denn die Fragen dürfen einen bestimmten Rahmen nicht sprengen, weil am Ende immer wieder alles nahtlos und widerspruchsfrei in dieses Weltbild eingepaßt werden muß. Gruppenstrukturen, die keine Differenzen geschweige denn Widersprüche aushalten, müssen nicht, aber können leicht verhindern, daß Menschen wachsen und an innerer Stärke gewinnen. Ich will damit den Verrat unserer ehemaligen Mitglieder, mit dem sie auf dem Rücken von GenossInnen ihre eigene Haut gerettet haben, nicht entschuldigen, aber ich denke auch, daß es dabei einen hausgemachten Anteil gibt.

 

 

Aber noch mal zurück zu der These vom institutionellen Faschismus und dem, was wir daraus abgeleitet haben. In alten Texten heißt es:

 

"durch Angriffe kleiner bewaffneter Gruppen den Apparat zu überdeterminierten Reaktionen zwingen, dazu, seine faschistische Fratze immer offener zu zeigen"

 

Diese Überlegungen resultieren aus den vielen geschichtlichen Erfahrungen, daß sich Entwicklungen zu offen faschistischen Regimes oft so schnell vollzogen haben, daß die fortschrittlichen Kräfte davon überrollt worden sind. Vieldiskutiertes Beispiel für diese Gefahr war seinerzeit der Militärputsch in Chile, aus dem zum einen die Notwendigkeit der Organisierung der Illegalität abgeleitet wurde. Gerade das Beispiel Chile hat damals viele Linke beschäftigt. Kürzlich habe ich in einem Text eines Genossen vom 2. Juni gelesen, daß das auch in ihren Überlegungen eine große Rolle gespielt hat. Andererseits wurde damit auch die oben zitierte These, daß es darum geht, den Staat schon zu einem frühen Zeitpunkt zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, untermauert. Alle sollten sehen können, was sich hinter der demokratischen Maske verbirgt; und es ist ja auch eine Tatsache, daß durch unseren Kampf vieles davon an die Oberfläche befördert worden ist - Mord an Gefangenen, Ausnahmezustand, Killfahndung, 77 die Forderung von führenden Politikern während der Schleyer-Entführung Gefangene in einer öffentlichen Inszenierung hinzurichten. Unser beabsichtigtes politisches Ziel, daß sich dagegen eine breite Mobilisierung entwickelt, hat sich allerdings in keiner Weise bestätigt, im Gegenteil. Gerade in Teilen der Linken hat diese Ausrufung des Ausnahmezustands und des offenen Polizeistaats viel eher Ohnmacht erzeugt als Widerstand; und das finde ich eigentlich nachträglich auch nicht verwunderlich.

 

Die ganze Auseinandersetzung war schon damals zu einer zwischen RAF und Staat geworden den, bei der die Gesellschaft, aber auch der allergrößte Teil der Linken außen vor stand und das ganze als ZuschauerInnen betrachten konnte. Die harten staatlichen Reaktionen waren relativ zielgenau gegen uns, unser enges politisches Umfeld und die Gefangenen gerichtet und selbst da, wo diese Reaktionen wie im 'deutschen Herbst' quer durchs Land gingen, hat unsere gesellschaftliche Isolierung einerseits und die durch die Manipulation des Staates gleichgeschaltete Medienmacht andererseits dazu geführt, daß die Allermeisten nicht dem Staat, sondern uns und unserer Intervention die Verantwortung für Kontrollen, Überwachungen usw. zugeschrieben haben. Schon daran zeigt sich, daß allein die Tatsache, einen Staat zu zwingen, das, was sich hinter seiner rechtsstaatlichen Fassade verbirgt, offen zu zeigen, nicht automatisch dazu führt, daß sich dagegen Widerstand entwickelt - was im übrigen auch aus den Erfahrungen aus der Zeit des NS-Faschismus hätte abgeleitet werden können. Aber selbst von den Linken, denen bewußt geworden ist, daß sie sich entsprechend ihres eigenen Selbstverständnisses angesichts der Erfahrungen 77 und v.a. der Morde an den Ge Gefangenen in Stammheim neu zu diesem Staat hätten ins Verhältnis setzen müssen, haben sich die meisten dann doch lieber an Zweifeln an der Mordthese festgehalten, um Konsequenzen gar nicht erst in Erwägung ziehen zu müssen. Es ist entweder die Erfahrung und das Bewußtsein von vielen, die nach grundlegenden Veränderungen der Gesellschaftsrealität schreien und Kämpfe für Veränderungen auf die Tagesordnung setzten und eine Organisierung dafür entwickeln oder Umwälzungen finden nicht statt. Die einfache Übertragung der Analysen und Theorien von Guerillabewegungen aus Lateinamerika auf die Realität hier, war ein Fehler. Das konnte so nicht aufgehen, weil die gesellschaftliche Situation hier eine völlig andere ist und von den Menschen völlig anders erlebt wird. Nicht daß ich denke, daß es hier weniger Elend und Leid gibt, aber es war und ist in seinen Ausdrucksformen sehr verschieden zu dem offen zutagetretenden Elend durch Krieg, Hunger, brutale Ausbeutung und Ausplünderung der Menschen und Länder im Trikont. Hier war und ist es immer noch sehr viel mehr eine sozial-psychische Verelendung als eine materielle. Hier leiden die Menschen sehr viel mehr an dem Fehlen gesellschaftlicher Vielfalt des sozialen Lebens, an fehlendem Sinn und Vereinsamung - die Menschen, die weiß und deutsch sind, wohlgemerkt. Diese Sorte Verelendung ist für viele nur schwer zu begeifen und schon gar nicht auf ihre tatsächlichen Ursachen zurückzuführen. Vielen erscheint sie als persönliches Schicksal, oft auch als individuelles Versagen und Unfähigkeit darüber hin aus sollen Konsumentenkultur, massenhafter Konsum verschiedenster Drogen usw. dazu beitragen, die Realität zu verschleiern.

 

Die Tatsache, daß wir uns im Laufe der Jahre immer weiter von der gesellschaftlichen Realität hier entfernt haben und entfernen konnten, ist nur vor dem Hintergrund nachzuvollziehen - und trotzdem zu kritisieren - daß wir uns von Anfang an als Teil eines historischen Prozesses begriffen haben: unser Aufbruch hat sich zum einen gegen dieses System und die Lebensrealität, die uns aufgezwungen werden sollte und in der wir weder leben konnten noch wollten, gerichtet, aber er war auch sofort verbunden mit den unterdrückten und für ihre Befreiung kämpfenden Völkern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Zum einen waren sie sozusagen unsere natürlichen Verbündeten und wir ihre, weil wir entsprechend der weltumspannenden Herrschaftsstruktur des internationalen Kapitals einem gemeinsamen Feind gegenüber standen, den es in einer gemeinsamen Anstrengung zu besiegen galt. Parolen wie: 'der Imperialismus ist der Todfeind der Menschheit' hatten in den 70-er und Anfang der 80-er Jahre weltweit Sinn und Aussagekraft auf Seiten derer, die hier wie dort für ihre Freiheit gekämpft haben. Und zum andern gab es Übereinstimmung in den allgemeinen Befreiungs zielen und Utopien. Allen war klar, daß der Krieg gegen die Völker im Trikont von hier, von den imperialistischen Metropolen unter Führung der USA ausging - auf die BRD traf das in doppeltem Maß zu. Hier standen die Computer für die Steuerung der Bombeneinsätze in Vietnam, hier war zentrale Hinterlandbasis für viele Kriege - Vietnam, gegen den Libanon, die Bombardierung libyscher Städte oder 1992 der Krieg gegen das irakische Volk - um nur einige zu nennen. Angesichts dieser Aufteilung der Welt und der realen Kräfteverhältnisse erschien hier und weltweit in den 70-er Jahren vielen die Theorie oder ein Modell der 'Einkreisung der Städte durch die Dörfer', also der Metropolen durch die Befreiungskämpfe im Trikont nur logisch. Und daß es dabei auch und nicht unwesentlich auf die revolutionären Kräfte in den reichen Ländern selbst ankommen würde, lag auf der Hand, denn hier waren Macht und Mittel konzentriert und von hier aus wurden sie zum Einsatz gebracht. Das war damals allen, die es wissen wollten, genauso deutlich, wie heute jeder und jede wissen kann, daß beispielsweise der Krieg gegen das kurdische Volk ganz wesentlich von der BRD mitgetragen wird. Von hier kommt ein Teil der Waffen, von hier aus werden Menschen in die Türkei abgeschoben, in Folter und Tod - und auch weil es hier keine politische Kraft gibt, die das verhindert, werden weiterhin kurdische Dörfer mit deutschen Waffen zerstört. Dieser internationale Zusammenhang ist heute genauso real wie in den 70-er oder 80-er Jahren und das internationalistische Moment ist für unsere Seite genauso wichtig wie damals gerade auch angesichts der Rolle Deutschlands innerhalb der "neuen Weltordnung", die Bundeswehreinsätze im früheren Jugoslawien sind nur der Anfang.

 

In diesem internationalen Rahmen haben wir unsere Aufgabe und Funktion gesehen. Anfangs als politische Kraft hier, die im weltrevolutionären Prozeß den Sieg der Befreiungskräfte mit durchsetzt und später - angesichts der internationalen Entwicklung der Tatsache, daß das imperialistische System ein sehr viel stärkeres Ausharrungs- und Durchsetzungsvermögen hat, als viele erwartet hatten, ging es darum, ein weiteres Zurückdrängen der revolutionären Seite zu verhindern. Ich denke, gerade die Tatsache, daß wir uns immer in diesem internationalen Kontext der Befreiungskämpfe begriffen und bestimmt haben, hat dazu geführt, daß wir uns des ungeheuren Zeitfaktors aus der internationalen Entwicklung bewußt waren: das Rad der Geschichte sollte zurückgedreht werden und die um ihre Befreiung kämpfenden Völker in ihrem Blut erstickt - um seine Weltherrschaftspläne durchzusetzen, schreckte der Imperialismus selbst vor der Planung des Einsatzes atomarer Waffen nicht zurück.

 

Aus dieser bedrückenden und eskalierenden Entwicklung haben wir allerdings z.T. fatal falsche Konsequenzen gezogen - eine davon war, daß wir angesichts der Erkenntnis der Notwendigkeit einer politischen Kraft hier, die in diese Entwicklung eingreifen und Grenzen setzen kann und der Tatsache, daß es aber nur eine schwache Linke gab, zunehmend auf Eskalation und das militärische Moment gesetzt haben. In unserem Denken und unseren Überlegungen stand die Frage des Aufbaus einer emanzipatorischen Kraft und gesellschaftlicher Verankerung hier, immer auch gegen diesen Zeitfaktor - wir dachten immer, daß dafür nicht der richtige Zeitpunkt ist und daß die gesamte Entwicklung sofortiges Eingreifen erfordert.

 

Aber die Tatsache, daß wir zunehmend die Situation und Lebensrealität der Völker im Trikont zum zentralen Bezugspunkt bestimmt haben und die damit einhergehende Abwendung von der gesellschaftlichen Realität hier, wirft auch die Frage nach unserer Haltung gegenüber der Gesellschaft, den Menschen in diesem Land, auf. Unser Verhältnis zum Großteil der Bevölkerung hier war äußerst ambivalent - dafür gab es in unserer Anfangszeit gerade in Deutschland gute Gründe. Wie hätten denn wir, die 68 und in der Folgezeit aufgestanden sind, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen und deren Elterngeneration fast allesamt Nazitäter oder Mitläufer gewesen sind, auch nur auf die Idee kommen können, daß hier in diesem Land - in dem zu dieser Zeit naturbedingt die übergroße Mehrzahl der erwachsenen- Bevölkerung aus dieser Geschichte kam und sich ihr Leben lang aus der Verantwortung gestohlen hat - mit diesen Menschen revolutionäre Umwälzungen durchzukämpfen sein könnten. Dieser Gedanke allein wäre damals allen absurd erschienen, und so gesehen hatten wir hier ganz andere Ausgangsbedingungen als die Linke in anderen Ländern. Das ist auch der Hintergrund, vor dem für uns ein Revolutionsmodell mit der Vorstellung, daß hier eine Minderheit grundlegende Veränderungen erkämpfen kann, durchaus einen realen geschichtlichen Bezugspunkt und Legitimation hatte - eben diese Elterngeneration, die Faschismus getragen und möglich gemacht hatte. Alle Utopien von einem anderen Leben, einer anderen Gesellschaftsausrichtung, konnten nur in einem Weg begründet sein, bei dem diese Generation rechts liegen gelassen wird.

 

Aber die Tragweite einer solchen Sichtweise und eines Revolutionsmodells, bei dem eine Minderheit grundlegende Veränderungen durchsetzt - und so war das für hier ja gedacht und dann auch über eine Neusetzung bestimmt, wurde von uns weder thematisiert noch problematisiert. Wenn es - von heute aus gesehen: unreales Szenario, sicher- aufgrund des Zu sammenwirkens der weltweiten Kämpfe gegen imperialistische Herrschaft und für Befreiung tatsächlich zu systemsprengenden Kräfteverschiebungen gekommen wäre, dann wäre eine solche Entwicklung und Veränderung der Gesellschaftsrealität für die Mehrzahl der Menschen hier wieder von 'außen' also von einem anderen 'von oben' gekommen. Ich will das hier nicht weiter ausmalen, aber es gibt heute die Erfahrung, daß alle Versuche - auch die von noch so gut-meinenden RevolutionärInnen - aus einer eigenen Machtposition die Gesellschaft in eine positive, am Freiheitsgedanken orientierte Richtung umzugestalten, sich ins Gegenteil verkehrt haben. Eine Gesellschaft, in der Menschen frei, selbstbestimmt und eigenverantwortlich sowohl ihr Leben als auch die gesamte Gesellschaftsentwicklung und -ausrichtung bestimmen und gestalten, kann nur über Bewegungen und Kämpfe erreicht werden, bei denen wir genau das auch lernen, in denen wir Inhalte und Werte, die gesamten Lebensbedingungen betreffend, hinterfragen, überprüfen und bestimmen bzw. neubestimmen. Die Aneignung solcher Fähigkeiten umfaßt für mich den zentralen Sinn und Inhalt von 'emanzipatorischen Prozessen'.

 

Aber zu unserem Blick auf die Menschen hier gehörte über lange Zelt ein zweites Moment, nämlich die Tatsache, daß wir hier in den reichen Ländern auf Kosten der Menschen im Trikont unseren Wohlstand aufbauen' - für unseren Reichtum sterben unzählige Menschen an Hunger oder heilbaren Krankheiten, arbeiten selbst Kinder unter brutalsten Ausbeutungsbedingungen, werden ganze Landstriche ausgeplündert und zerstört und damit auch die Lebensgrundlagen der dort lebenden Menschen. Vor diesem Hintergrund und weil das von den meisten als selbstverständlich angesehen wird, hat sich unser Verhältnis zu der Bevölkerung hier, auch zu fortschrittlichen Kreisen der Gesellschaft, ihren Bewegungen und Forderungen, bestimmt. Im Unterschied zu den alltäglichen Kämpfen von Menschen in Trikontländern, die dort für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation eintreten, beispielsweise durch Landbesetzungen oder ähnliches, zu denen wir eine uneingeschränkt positive Haltung hatten, war unser Verhältnis zu entsprechenden Bewegungen hier lange Zeit seht ambivalent. Einerseits fanden wir Kämpfe an den unterschiedlichen Fragen - ob gegen AKW's, Startbahn-West usw. - positiv und sie waren uns oft aus unserer eigenen Geschichte nah, gleichzeitig standen sie aber bei uns auch immer im Verdacht ,Kämpfe für weitere Metropolenprivilegien zu sein.

 

Aber gerade die Kämpfe, die an den eigenen Erfahrungen und Lebenssituation ansetzen, sind Wurzel und Basis für jeden Aufbruch und daraus entsteht Bewußtsein - oder kann entstehen das über den konkreten Ansatz hinausgeht. Aber selbst wenn das nicht so ist, sind Forderungen, die die eigenen Lebensgrundlagen verbessern oder sichern oder die Kriege verhindern sollen für sich genommen legitim. Wir dagegen haben solche Kämpfe und ihre Inhalte lange Zeit nicht ernst genommen, sondern haben darin vielmehr nur den geringen Teil der Leute gesucht, die über den jeweiligen konkreten Anlaß hinaus zu systemsprengenden Perspektiven und Bestimmungen kommen wollten. Wenn wir mit solchen Leuten zusammengekommen sind, hieß das immer, daß sie sich dann von den Bewegungen aus denen sie kamen, getrennt haben, was ich im Nachhinein als große politische Dummheit sehe, weil das unsere Isolierung und in den 80-er Jahren die Isolierung des 'Front-Zusammenhangs' zementiert hat. Die gesamte Front-Konzeption' mit der ab Anfang der 80-er Jahre unter der Parole 'zusammen kämpfen' unterschiedliche Ansätze zusammengebracht werden sollten, war letztendlich sehr viel enger und ausschließender, als uns das selbst damals bewußt gewesen ist. Es gab die nach außen behauptete Vielfalt nicht und es konnte sie auch gar nicht geben, denn in ihren politischen Bestimmungen wurden die zentralen Linien der RAF-Politik übernommen:

 

 

'Strategie gegen die Strategie des Imperialismus' also eine Ausrichtung in erster Linie an der Negation. Es gab Genosslnnen, die in dieser Zeit versucht haben, sich mit ihrer eigenen Geschichte und Erfahrungen aus den Bewegungen, aus denen sie kamen, mit entsprechenden z.T. sehr konkret bestimmten Initiativen dort einzubringen. Aber das wurde von uns abgewehrt und mit Totschlag-Argumenten niedergehalten. Ich kann mich beispielsweise an Diskussionen erinnern, wo Leute bewußt von dieser Negation weg wollten und die Ausrichtung unserer Initiativen an Zielen wie 'NATO zerschlagen" oder "das imperialistische System zerrütten' ablehnten. Es gab die Überlegung, bei einer damals im Raum stehenden und angedrohten Militärintervention in Nicaragua gemeinsam und koordiniert einzugreifen, um in einer solchen Situation zusammen politischen Druck dagegen aufzubauen. Das war ihre Vorstellung von konkretem Internationalismus. Heute denke ich, daß Bestimmungen in dieser Richtung sehr viel sinnvoller gewesen wären und auch effektiv, auch weil dann unsere Initiativen mit denen ganz unterschiedlicher Gruppen und Bewegungen zusammengekommen wären - aber solche Überlegungen wurden von uns abgeblockt. Uns erschien damals die Ausrichtung unserer Politik gegen die politische Formierung der imperialistischen Staaten richtig - die Bestimmungen unserer Initiativen wurden immer abstrakter.

Mit dieser zunehmenden Abstraktion haben wir auch immer mehr von uns selbst, von unseren Wurzeln, die aus den eigenen Erfahrungen hier kommen und sich zum Teil mit den Er fahrungen anderer Menschen decken, verloren. Unsere eigene Realität in der Illegalität hat sich stark von der Alltagsrealität der Mehrzahl der Menschen hier unterschieden. Wir haben sie in ihrer Unsicherheit und Eskalation der vieler Menschen in den Trikont-Ländern ähnlicher empfunden als die Realität der allermeisten Leute hier. In der Illegalität muß mensch ständig mit einer Konfrontation rechnen, die mit Verhaftung oder dem Tod enden kann, das ist in einem solchen Leben jederzeit möglich. Ich denke, es hängt auch mit dieser Schärfe unserer Lebenssituation zusammen, daß uns eine Verbindung zu den Völkern im Trikont oft näher war, als eine zu der Gesellschaft hier. In einem solchen Leben erscheinen einem viele Fragen und Probleme, die sich für Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen, leicht nebensächlich oder unwichtig. Auch deshalb haben wir immer wieder auf eskalierende Situationen hier und die Schärfe der Entwicklung im Trikont hingewiesen und uns politisch darauf bezogen. Daran schließt sich eine wichtige Fragestellung in Bezug auf unsere politischen Bestimmungen an, nämlich die, ob es richtig ist, die eigenen Initiativen - so wie wir das lange Zeit gemacht haben - immer an der Schärfe eskalierter Situationen und Entwicklungen auszurichten. Oder ist es nicht vielmehr so, daß die Bestimmung der Schärfe unserer Angriffe daran zwangsläufig in die gesellschaftliche Isolierung führen mußte, weil die unmittelbare Verbindung zur Lebensrealität der Menschen hier dadurch abgeschnitten war und unsere Aktionen oft für viele eine nicht nachvollziehbare Eskalation darstellten.

 

 

 

Heute denke ich, daß unsere Politik - gerade zwischen 78 und 92 nicht nur durch unsere oft abstrakten politischen Bestimmungen, sondern auch die von uns gesetzte Schärfe der Konfrontation abgetrennt von der politischen Entwicklung hier und auch von den Kämpfen an den unterschiedlichsten Fragen war und sein mußte. Wir standen neben den Kämpfen und Bewegungen der Linken, ohne daß es eine konkrete politische Beziehung und ein Zusammenwirken über die Tatsache hinaus, daß wir gegen denselben Gegner kämpfen, gegeben hätte.

 

Im Zusammenhang mit der Frage der Bestimmung der Schärfe bzw. Eskalation politischer Interventionen, will ich eine Passage aus einem Text vom August 92 zitieren, in der wir versucht haben, die Zeit Anfang/Mitte der 80-er Jahre zu skizzieren:

 

"Es war die Zeit vieler Kämpfe an unterschiedlichsten Fragen: Anti-Nato-Bewegung; 81 der Hungerstreik der politischen Gefangenen, in dem Sigurd Debus ermordet worden ist, Kämpfe gegen AKW's, gegen die Startbahn West; Hausbesetzungen und natürlich die Massenmobilisierung gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen. Wir haben selbst in manchen dieser Kämpfe dringesteckt und haben dabei dieselben Erfahrungen gemacht wie alle anderen: Wir kommen gegen diese Macht nicht durch. In dieser Zeit waren hier an all diesen Kämpfen und Forderungen nicht nur Hunderttausende auf der Straße, es waren insgesamt Widersprüche von Millionen Menschen, und an keiner einzigen ihrer Forderungen hat sich die Macht bewegt - logisch, daß da die Kämpfe auch immer radikaler und militanter geführt wurden. Viele haben sich in diesen Jahren entschlossen, verschiedenste militante Initiativen gegen Brennpunkte der Vernichtungspolitik zu organisieren, d.h. zu dieser Zeit hauptsächlich die US/NATO Militärstrategie anzugreifen. Das sollte unseren Kämpfen eine neue Schärfe und Durchsetzungskraft geben. Es sprang einen jeden Tag an, daß dieser Staat hunderttausendfachen Protest einfach ignorieren will und gleichzeitig die Menschen, die ihre Forderungen auf die Straße tragen, immer brutaler und gewaltsamer attackiert. Daß es in den Kämpfen dieser Jahre nicht viel mehr Tote auf unserer Seite gab und nicht noch mehr Schwerverletzte, war reiner Zufall. Die Grausamkeit und Brutalität gegen die Gefangenen im Hungerstreik 81, die Knüppel- und Gaseinsätze von Polizei und paramilitärischen Einheiten haben deutlich gezeigt, daß der Staat Tote auf unserer Seite eingeplant hatte. Kohls Satz zur Stationierung der Mittelstreckenraketen: "sie demonstrieren, wir regieren" hat die Haltung der Macht gegenüber allen, die was anderes wollten, auf den Punkt gebracht."

 

Dieser Ausschnitt beschreibt ein Lebensgefühl dieser Zeit, in dem ich mich gut wieder finde - einerseits Kämpfe an unterschiedlichen Fragen und Forderungen, die nicht bloß von kleinen Gruppe getragen wurden, sondern gerade in Bezug auf die Stationierung durchaus Massencharakter angenommen hatten und gleichzeitig das fortwährende Gefühl: wir sind zu schwach, wir kommen nicht durch. In dem Text ist die Rede davon, daß dann die Kämpfe logischerweise immer radikaler und militanter geführt werden und das finde ich eine wichtige Frage: was ist das für eine Logik, wo stimmt sie und wo stimmt sie nicht und führt in die Sackgasse - was in diesem Fall dann Militarismus bedeutet ?

 

In Situationen, wo sich herausstellt, daß der bis dahin entwickelte politische Druck nicht ausreicht, die gestellten Forderungen und Ziele durchzusetzen, muß natürlich überlegt werden, wie dieser Druck verstärkt werden kann. In dem Moment aber, wo die Antwort auf Nicht-durchkommen, die eigene Defensive und Ohnmacht automatisch Eskalation heißt, kommt man in eine falsche Logik. Ich denke, darin lag einer unserer Hauptfehler seit mindestens Ende der 70-er Jahre - auch die zentralen Bestimmungen und die Umsetzung des 'Front Konzepts' waren im wesentlichen eine Verlängerung unserer vorherigen Politik auf erweiterter Stufe sozusagen: eine Zusammenfassung und Koordinierung bewaffneter und militanter Gruppen, die sehr schnell genauso isoliert selbst innerhalb der Linken war, wie vorher wir. Gerade das ist aus unseren und den Front-Erfahrungen zu lernen: Militanz und militärische Eskalation können nie Kompensation für den Aufbau, die Verankerung und Ausweitung einer politischen Kraft sein - allenfalls ihr Teil und bestimmt zur Verstärkung ihrer anderen Komponenten.

 

Gerade Aktionen wie die gegen die Air-Base in Frankfurt 1985, die Erschießung Pimentals oder die Aktion in Ramstein 1982 machen deutlich, wie in dieser Logik als Antwort auf die weltweite Verschärfung von Krieg, damals auch Atomkriegsdrohung, sich alles zum Militärischen hin schieben kann. Die eingangs zitierten Sätze aus einer Erklärung von mir zur Erschießung des US-Soldaten, wurden von verschiedenen Seiten mit Irritation aufgenommen. In linken Zusammenhängen ging das vom 'Entpolitisierungs-Vorwurf' über ich würde 'moralisieren" bis hin zu, ich würde mit solchen Äußerungen der Gegenseite in die Hände spielen. Die Vorwürfe der 'Entpolitisierung" und ich würde damit der Gegenseite in die Hände spielen, finde ich nicht interessant, weil es sich bei beidem um beliebte 'Kritiken' handelt, die in meinen oder unseren Kreisen sehr oft dann kommen, wenn GenossInnen eine fundierte Gegenargumentation zu kompliziert erscheint oder eine inhaltliche Auseinandersetzung gar nicht gewollt wird. Auf den dritten Einwand bzw. Kritik, ich würde 'moralisieren" will ich allerdings eingehen. Es ist oft verbunden mit Aussagen wie: es gibt keine anständige Gewalt und keinen Krieg, der nicht verroht, das muß man akzeptieren und deswegen kann die Frage nach revolutionärer Moral so gar nicht gestellt werden. Es gibt wohl keine allgemeingültigen Kriterien, die losgelöst von der jeweiligen Realität, für die Festlegung des Moralbegriffs taugen und es stimmt auch, daß es keinen 'sauberen Krieg' gibt - Krieg ist immer unmenschlich. Trotzdem enthebt das ja revolutionäre Gruppen nicht von der Beantwortung der Frage nach der Bestimmung eigener Kriterien und auch der Festlegung von Grenzen. Was beispielsweise während der Nazi-Herrschaft in Ländern, die von der Wehrmacht besetzt waren, von vielen als legitime Widerstandshandlung angesehen wurde und das, was in der BRD 1995 als legitim betrachtet wird, ist nicht identisch und kann es auch gar nicht sein, weil die Realitäten grundverschieden sind. Aber wir leben heute in einer Welt, in der im Interesse von Profit und Macht Kriege geführt werden und Unterdrückung, Erniedrigung, Hunger, Ausbeutung und Entwürdigung den Menschen keine andere Wahl lassen, als sich entweder in ihr Schicksal zu fügen oder es selbst in die Hand zu nehmen. Und das heißt, daß sich die Frage danach, welche Mittel in welcher Situation sinnvoll und gerechtfertigt sind, immer wieder stellt. Diese Bestimmung kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, sie braucht Bezüge und ich denke, sie braucht andere Bezüge, als das bei uns lange der Fall gewesen ist. Wir sind in unseren Bestimmungen vom Bruch ausgegangen, nicht nur von dem zum System hin, sondern auch dem zur Gesellschaft hin - noch Mitte der 80-er Jahre war in einem Text aus dem 'Front'-Zusammenhang zu lesen: 'wir gehören dieser Gesellschaft nur insoweit an als daß wir sie bekämpfen' - das ist die Basis dafür, daß wir jede moralische Instanz innerhalb der Gesellschaft und auch der Linken, vor der wir uns und unsere Politik hätten rechtfertigen müssen, verloren hatten. Eine solche Instanz wurde für uns selber immer fiktiver, weil unkonkreter, nämlich die Völker im Trikont. Wir haben in dem Bewußtsein gehandelt, unsere Praxis hier in diesem Land und selbst gegenüber der Linken nicht rechtfertigen zu müssen und so gab es auch keine Diskussionen und Reibungen, in denen immer wieder die eigene Praxis an die Realität und Entwicklungsprozesse angebunden und dahingehend korrigiert werden konnte.

 

Genau diese Grundhaltung ist ja auch gerade in Situationen, in denen es massive Kritik an uns gab, wie beispielsweise nach der Erschießung des US-Soldaten, zum Tragen gekommen. Aber in Bezug auf unsere Ignoranz und Abwehr gegen jede Kritik und Infragestellung, die es damals aus dem gesamten linken Spektrum gegeben hat, spielt noch ein ganz anderes Moment eine wichtige Rolle. Nachträglich haben alle zumindest gespürt, daß diese Kritik stimmt, daß mit dieser Aktion Grenzen überschritten worden waren und revolutionäre Politik vollkommen unkenntlich geworden ist und jeden Bezugspunkt hier verloren hatte. Es gab da eine spürbare Entfremdung zur eigenen Geschichte, zum Lebensweg und zum politischen Selbstverständnis jeder und jedes einzelnen - aber daß ist erst hinterher bruchstückhaft an die Oberfläche getreten. Das, was es dann von unserer Seite als Reaktionen auf die Kritik, die von anderen formuliert wurde, gab: Legitimation in einem völlig abstrakten Begriffsgebilde, hat sich im wesentlichen mit dem gedeckt, wie auch in unserem engeren Zusammenhang damit umgegangen wurde. Erklärungen wie die, daß dieser GI auch genausogut an der Air- Base hätte stationiert sein können und dann wieder die zentrale Funktion dieser Einrichtung für die Kriegsführung von NATO und USA gerade zu dieser Zeit gegen die Völker im Nahen Osten oder daß Pimental sich ja schließlich dafür entschieden hatte, sein Geld als Söldner der US-Armee zu verdienen - sollten und haben über die eigenen Widersprüche hinweggetäuscht. Das war alles über den einzelnen Menschen weg rationalisiert und das haben alle irgendwie auch gespürt, doch anstatt den eigenen Fragen und Widersprüchen nachzugehen, wurde alles unter den Teppich gekehrt und unterm Strich blieb dann diese völlig ignorante öffentliche Erklärung, die diese Erschießung als politischen Fehler abtut und ansonsten anderen vorhält, sie würden vor der Realität die Augen verschließen und eigentlich nur ihren Nischenplatz im System suchen.

 

Heute denke ich, daß damals alle in der RAF und aus dem engen politischen Zusammenhang gespürt haben, daß die Entscheidung, sich ernsthaft der Kritik an der Erschießung des GI zu stellen, unweigerlich eine ganze Lawine von Fragen losgetreten hätte, die weit über diese konkrete Aktion hinausgegangen wären. Auch daraus kam diese massive Abwehr. Bei einer solchen Diskussion hätte deutlich werden müssen, daß diese Aktion keinesfalls als eine Art politischer 'Unfall' oder Fehler angesehen werden kann, sondern eine direkte Verbindung und logische Entwicklung aus unserem damaligen Denken und Politikverständnis war. Nachträglich bin ich der Meinung, daß wir immer wieder Möglichkeiten verpaßt haben, schon weit früher zu grundlegenden Neuorientierungen zu kommen, zu Bestimmungen. die die soziale Realität hier zum Ausgangspunkt und den Aufbau emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe für systemsprengende Gesellschaftsveränderungen zum Ziel hätten haben müssen. Aber unsere Enge und unser Dogmatismus haben kritische Fragen und eine selbstkritische Reflexion ewig verhindert; bei uns hat es bis Anfang der 90-er Jahre gedauert, bis wir endlich damit gebrochen haben. Bis heute gibt es in unserem politischen Zusammenhang GenossInnen, die wie eh und je mit persönlichen Diffamierungen und Unterstellungen und mit Ausgrenzung auf jeden Versuch einer eigenen Geschichtsbetrachtung, in der nicht nur alles im Nachhinein als richtig eingeordnet wird, sondern auch über Fehler und Fehlentwicklungen offen geredet wird, reagieren. Eine solche Haltung hat zur Folge, auch wenn das mit Sicherheit nicht beabsichtigt ist, daß wir die Geschichtsschreibung über die RAF der Bundesanwaltschaft und den Ergüssen ihrer Gehilfen von Boock bis zu den DDR-Aussteigern überlassen, In dem Fall wäre es dann tatsächlich so wie es von der reaktionären offiziellen Geschichtsschreibung beabsichtigt ist:

 

Vieles von unserem Aufbruch, von unserem Versuch auch hier eine Befreiungsperspektive zu entwickeln, wäre sinnlos gewesen, weil wir keine Erkenntnisse aus unseren Erfahrungen und das schließt natürlich unsere Fehler mit ein, ziehen.

 

Es wird hier keine relevante Gegenmacht geben, wenn wir - und damit meine ich nicht nur die RAF - uns weiterhin weigern, unsere eigene Geschichte zu begreifen. Wir brauchen für die Bestimmung zukünftiger Kämpfe nicht nur eine genaue Analyse der aktuellen Situation und Entwicklung, wir brauchen dafür auch die Erfahrungen und die Erkenntnisse aus den letzten 25 Jahren.

Frankfurt, den 21. Juli 1995

 


Aufgefangener Brief von Eva Haule

 

 

Am 4. Mai wurde bei einer Besucherin des Prozesses gegen Birgit Hogefeld ein Schriftstück beschlagnahmt.

Am 13.6. - zeitgleich mit den Durchsuchungen von 80 Wohnungen, linken Projekten und Betrieben - lancierten BAW/BKA in der Presse, sie hätten ein "Kassiber" von Eva Haule gefunden.

Dieser Fund wurde zum Anlaß genommen, die Zellen von Eva Haule und Birgit Hogefeld zu durchsuchen und Ermittlungsverfahren nach [[section]]129a einzuleiten.

Am 7.7. veröffentlichte die taz ein Fragment des abgefangenen Briefes, der beim BKA unter Verschluß ist. Die AnwältInnen haben bislang keine Akteneinsicht erhalten.

Es ist davon auszugehen, daß die Veröffentlichung von den Verfolgungsbehörden betrieben wurde. Daß ein Ziel der Veröffentlichung ist, das Klima der Spaltung und Distanz zu nähren, wird an der Hervorhebung der Worte "Böse Schwester" deutlich, die - bezogen auf die Spaltung Gefangene/RAF - auf Birgit gemünzt sein sollen. Dies war sicherlich nicht Evas Intention, da der Brief nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurde. Der Brief war Teil einer " Diskussionsstruktur abseits der totalen Kontrolle und Überwachung", so die Stellungnahme des Anwaltes von Eva Haule.

Die Liste der einschneidenden Maßnahmen zur Einschränkung und Verhinderung der Kommunikation unter und mit den politischen Gefangenen reicht von Postzensur und Verschleppung von Post über Wochen und Monate bis hin zu dem lebenslänglichen Urteil gegen Eva Haule aufgrund einer politischen Diskussion während ihrer Haftzeit.

(siehe Prozesserklärung von Birgit in diesem Info).

Die Diskussion unter den Gefangenen wird insbesondere in Bezug auf Fragen, die die Spaltung betreffen, verhindert, was sich in dem Kontaktverbot zwischen Eva Haule und

Birgit oder in den Besuchsverboten ehemaliger Gefangener bei Christian Klar zeigt.

Jede weitere Auslegung des Briefes verbietet sich für alle, die unzensierte Äußerungen und unkontrollierte Kommunikation von Gefangenen mit der Außenwelt als selbstverständliches Recht ein fordern.

 


Zuschrift zu Info 1 (Birgits Erklärung vom 15.11.94)

 

Metropolen- "Menschen" ?

 

 

"Solidarität"

 

Die seit November andauernde Verhandlung gegen Birgit Hogefeld vor dem Staatsschutzsenat des OLG Frankfurt/M erfährt arbeitsteilige Betreuung von AnwältInnen, Angehörigen und FreundInnen: Die VerteidigerInnen Birgits versuchen in sorgfältiger Kleinarbeit alle juristischen Mittel auszuschöpfen, die ihnen unter den für Staatsschutzprozesse gegebenen Bedingungen und Sonderregelungen bleiben, um ihr eine lebenslängliche Haft zu ersparen. Eine Prozeßgruppe bringt kontinuierlich ein Info heraus, das die Verhandlungstage sehr genau dokumentiert und die Willkür und Entschlossenheit von BAW nebst Richtern festhält, trotz der Anstrengungen der Verteidigung die äußerst fadenscheinigen Anklagen zu einem vernichtenden Urteil gegen Birgit Hogefeld zurechtzukonkunstruieren. Mit den zu Gebote stehenden Mitteln soll eine Öffentlichkeit für den Prozeß hergestellt werden, soll abseits der "Skandale" um Bad Kleinen, die zu Anfang des Prozesses diesem noch ein gewisses Interesse seitens der Medien sicherten, die Gesinnungsjustiz der rechtsprechenden Gewalt offenbar gemacht werden. Um Birgit Hogefeld möglichst den Gang in die lebenslange Isolationshaft zu ersparen, ist - trotz der verschwindend geringen Aussicht darauf - beides notwendig und steht als solches nicht zur Diskussion.

 

Was hingegen zur Diskussion steht, ist das beinahe vollständige politische Schweigen, das die Verhandlung, vor allem aber Birgit Hogefelds Prozeßerklärung vom 15.11.94, die eine konsequente Ausführung der "RAF-Zäsur" vom April 92 ist, begleitet. Im Text der InfoAG (Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld Nr. 5, Wiesbaden) wird die Lage wohl treffend so zusammengefaßt: "In dieser Situation greift eine Schärfe um sich, die inhaltlich merkwürdig scharf und ungreifbar bleibt. Die `Schärfe' drückt sich aus in den Deutungen und Bewertungen der Person Birgits; dabei findet keine politische Auseinandersetzung, sondern Individualisierung statt. (...) bleibt auf der Ebene von Klatsch und Tratsch, Unterstellungen, persönlichen Angriffen und laienpsychologischen Deutungen." Die platten Beurteilungen durch die Raster straight/reformistisch oder ehrlich/unehrlich zeigen, daß mensch den politischen Konzepten Birgit Hogefelds offensichtlich keine inhaltliche Argumentation entgegenzuhalten hat. Diese verweisen eher auf die Selbstzufriedenheit einiger Linker, die sich damit begnügen, die richtigen Schubladen aufgemacht zu haben. Dabei wäre eine politische Auseinandersetzung, die Birgit Hogefeld über ihre Prozeßerklärung möglich macht und ausdrücklich will, auch als ein Akt der Solidarität relevant, der über die kritische Dokumentation des Prozeßverlaufes und seine juristische Beeinflussung hinausgeht bzw. diese ergänzt. Die Sonderhaftbedingungen, denen Birgit Hogefeld unterworfen wird und wie sie für politische Gefangene in der BRD üblich sind, dienen dazu, anhaltend die Persönlichkeit der Gefangenen zu schädigen und ihren politischen Willen zu brechen. Eine ihrer Strategien gegen die staatliche Vernichtungsabsicht war die Analyse von Reizentzug, Sonder- und Isolationshaft (nachzulesen u.a. im ersten Prozeßinfo), eine andere, sich in besagter Erklärung als Individuum mit politischem Willen der Auseinandersetzung ihrer Neudefinition linker Politik zu stellen. Die Wahrnehmung von ihrem Diskussionsangebot zielt also zum einen darauf, das staatliche Interesse an ihrer politischen Isolation zu durchkreuzen. Zum anderen ist die Auseinandersetzung um Inhalte, Wege und Ziele linksradikaler Politik in der und vor allem gegen die BRD 1995 - angesichts der Marginalisierung der radikalen linken Kräfte - bitter nötig; auch mit dem Spektrum der antiimperialistischen Gruppierungen und Zusammenhänge, das wesentliche Bestimmungen seiner politischen Arbeit aus der Auseinandersetzung mit den Konzepten der RAF bezog.

 

 

...GESTALTUNG DER VERHÄLTNISSE ODER DER KAMPF DAGEGEN ?

 

 

Das neue Konzept der "Gegenmacht von unten", wie es im April und August 1992 von der RAF formuliert wurde, soll als Konsequenz auf die Wahrnehmung weltweiter gesellschaftlicher Umbrüche verstanden werden, das die Diskussionsprozesse der RAF öffnen sollte. In der April-Erklärung der RAF heißt es dazu: "Gezielt tödliche Aktionen gegen die Spitzen aus Staat und Wirtschaft können den jetzt notwendigen Prozeß im Moment nicht voranbringen, weil sie die gesamte Situation für alles, was in den Anfängen da ist, und für alle, die auf der Suche sind, eskalieren." Die Politik der unmittelbaren Konfrontation mit der Staatsgewalt sei abzulösen zugunsten einer breit mobilisierten "emanzipatorischen Bewegung, die gegen den `Irrsinn des Kapitalismus, die Barbarei des globalen Marktes und die Verwertung von Mensch und Natur' einen eigenen sozialen Sinn entwickelt und diesen an konkreten praktischen Fragen des Alltags durchsetzt". Den Kern der Überlegungen bildet der Ausgangspunkt, daß es der Kapitalismus bis zu einer Systemkrise gebracht habe und keine Antworten "auf fast alle brennenden Fragen, die sich im nationalen und internationalen Rahmen stellen" wüßte. Dagegen sei es für die revolutionäre Linke unabdingbar, "sich die Lösungskompetenz für Probleme der verschiedensten Bereiche anzueignen". Wenn Birgit Hogefeld konstatiert, der Kapitalismus sei am Ende und es käme deshalb zu all den katastrophischen Entwicklungen, so verharmlost sie ihn und seine imperialistischen Verlaufsformen gegen ihre eigene Absicht. "Die Vorstellung, daß `Armut', die Ausweitung von `Gewalt` (...) und `Rechtsradikalismus' zeigten, daß der Kapitalismus nicht mehr funktioniere, ist nur stimmig, wenn Kapitalismus gleichgesetzt wird mit einer Prosperitätsphase, an der die Mehrheit der Bevölkerung sozialpartnerschaftlich teilhat." ("Öffentliche Prozesse", in: die beute 1/95, S. 92) Nicht nur, daß die Bevölkerung in den "Krisenzeiten" nicht am Reichtum teilhat, sondern die gesamte Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse und überhaupt die gesamte gesellschaftliche Reproduktion finden im Kapitalismus nur insofern statt, wie sich damit ein Geschäft machen läßt. Die Ökonomie ist nicht Funktion des gesellschaftlichen Lebens, - aus Geld mehr Geld zu machen, lautet die Devise. Dafür wird das Geld vom bürgerlichen Staat per Gewalt in die Welt gesetzt, dem am Gelingen des Geschäfts, das auch seinen Reichtum in harten DM mehrt, gelegen ist. Und dafür hat "er" auch das "Recht auf Eigentum" installiert, dem jedes Individuum der Gesellschaft unter Androhung von Strafe verpflichtet sein soll. So ist die Klassengesellschaft errichtet: Produktionsmittel und Geld in den Händen weniger und andererseits nichts als die Möglichkeit, gegen Lohn den Profit der wenigen zu steigern. Die Befriedigung von Bedürfnissen der Leute findet eben nur unter der Bedingung statt, daß sie nützlich sind für die Reichtumsvermehrung des Kapitals. Es ist nur die notwendige Kehrseite und nicht das Versagen des Kapitalismus, wenn Menschen arbeitslos, obdachlos werden oder verhungern. Und deshalb ist auch schon in "normalen Zeiten" dafür gesorgt, daß über die Abhängigkeit von Geld Armut als fester Bestandteil dieser Gesellschaft etabliert ist und nicht erst in Zeiten der Krise für die Menschen zum Problem wird.

Birgit Hogefeld legt aber letztendlich eine Vorstellung des Kapitalismus nahe, der in nicht näher bestimmten "Phasen" scheinbar doch für die Menschen da sein, ihnen ein Auskommen und die Freiheit von Not und Gewalt gewähren könnte *

So scheint es, daß es die eskalierenden Tendenzen des Imperialismus seien, die die revolutionäre politische Intervention nötig machten und nicht die Normalität von Geschäft und Gewalt.

In diesem Bild ist es dann auch nur konsequent, daß die Menschen letztendlich nur noch als "Opfer" der aus den Gleisen geratenen Verhältnisse vorkommen. Für Birgit Hogefeld geht es um "die Frage, wie wir hier trotz aller Schwierigkeiten und gegenläufiger Tendenzen eine an den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkämpfen können." Darum kann sie sich so vorbehaltslos den Individuen nähern. Sie kommen nicht vor als das, was sie sind, ParteigängerInnen von Recht und Ordnung, einem ausländerInnenfreien Deutschland, einer Marktwirtschaft in der sie bereit sind, jede Härte hinzunehmen, allgemein: des Erfolgs des Standorts Deutschland. Die StaatsmacherInnen hierzulande treffen auf eine Bevölkerung, denen nichts selbstverständlicher ist, als die vorgegebenen Bedingungen anzunehmen und positiv als Lebenschance zu interpretieren, die deshalb die ideale Manövriermasse für die Herrschaften der BRD sind, weil sie aus eigenem Willen das tun, was sie ohnehin tun sollen. Sie praktizieren ihren Nationalismus tagtäglich durch braves Arbeiten, Ruhehalten und Zurechtkommenwollen in der Arbeitslosigkeit, Wählengehen der vorgegebenen "Alternativen", wenn's gefordert wird, in den Krieg ziehen "weil die Deutschen Verantwortung tragen". So fängt der Rassismus der BRD-Bevölkerung nicht erst beim Sturm auf die AsylbewerberInnenheime an, sondern wird da geboren, wo ihr Hauptidentifikationspunkt liegt - Deutsche zu sein.

Auch die multikulti- und ausländerfreundlichen RassistInnen nehmen hier ihren Ausgangspunkt, die sich verständnisvoll an der Trennung von "In- und AusländerInnen" abarbeiten wollen, anstatt diese zu kritisieren. Und das ist der Grund, warum die ganze Scheiße viel zu gut funktioniert, als daß sie vor "unlösbare Probleme gestellt, (...) den gesamten Zersetzungsprozeß beschleunigt durchläuft.

Es ist unserer Meinung nach falsch, in bezug auf die Interessen der BRD-Bevölkerung von einer Art "Leerstelle ...die neu gefüllt werden muß" zu sprechen, "der durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Kraft, die (...) eigene Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert"** mit dieser Bevölkerung zusammen begegnet werden müßte. Radikale Politik hat unserer Meinung nach auch einen radikalen Perspektivenwechsel vorzunehmen: sie muß diese NationalistInnen in ihrem Alltag und ihren Interessen konsequent angreifen - muß sie als GegnerInnen ihres eigenen Anliegens wahrnehmen.

Der Wille Mobilisierungsgewinne zu verzeichnen läuft, solange er als Abkehr von Kämpfen "die langfristig an der Negation ausgerichtet sind," letztendlich dem Interesse linker Theorie und Praxis zuwider. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre der positive Bezug auf das Bestehende oder dessen konsequente theoretische wie praktische Kritik, die "Differenz zwischen der Gestaltung der Verhältnisse und dem Kampf dagegen" ("Öffentliche Prozesse", die beute 1/95 S.93/94).

 

Skarabäus! (Juli 1995)

 

* "Bürgerkriege in der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im Inneren, massenhafte Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und Rechtsradikalismus - all dies zeigt, daß der Kapitalismus nicht mehr funktioniert."

** " Es geht dabei einerseits um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und zugleich um Basisarbeit, in der konkrete Schritte für Lösungen konkreter Probleme bestimmt und durchgesetzt werden. (...) das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich sinnvoller und nützlicher Arbeit genauso wie beispielsweise ökologische Probleme oder die Gestaltung von Stadtvierteln."

 


 

Zuschrift zu Info 2 + 3 (traf ein während Fertigstellung von Info 4, fehlte in Info 5,

da Scannern scheiterte, siehe dort S. 12)

 

Zu wenige Fragen zu Birgit Hogefeld ?

 

 

"Mythos oder kritische Solidarität -

der Fall Birgit Hogefeld -"

 

Inzwischen ist das Info 3 zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld herausgekommen. Um einen Diskussionsprozeß in Gang zu setzen, wollen wir dazu ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Ziel dieses Artikels soll es ausdrücklich nicht sein, Spaltungen voranzutreiben oder Birgit die Solidarität zu entziehen. Es geht viel mehr darum, Diskussionen und Gedanken in die Öffentlichkeit zu bringen und die "radikale Linke", die Gefangenen

aus RAF, RZ und anderen Widerstandszusammenhängen und, wie sie oft benannt werden, "alle um Freiheit Kämpfenden" zusammen weiter zu bringen, neue Konzepte und Perspektiven zu entwickeln, endlich aus alten Fehlern zu lernen.

 

Ein Problem dabei ist, daß Kritik innerhalb "der Linken" häufig nur "plattmacht" und Einzelne / Zusammenhänge nicht weiterbringt. Oder aber Kritik wird gar nicht erst geäußert, weil man als "guteR LinkeR" bestimmte Fragen und Gedanken gar nicht erst hat.

 

Zum Prozeß-Info:

Einigermaßen wütend und enttäuscht sind wir darüber, daß der Brief einiger Lesben aus Göttingen, gewollt oder ungewollt, totgeschwiegen wurde. Dieser ist am 23.1.95 in der "Jungen Welt" erschienen. Wenn er schon nicht im Prozeß-Info veröffentlicht wird, hätte wenigstens ein Hinweis auf dessen Existenz hineingehört ! Bei uns entsteht so der Eindruck, daß eine Kritik, die fundiert und bedenkenswert ist, nicht weiterverbreitet wird, weil das Birgit Hogefelds Image nicht gut tun könnte. (Was keineswegs so ist - schließlich ist sie wie alle ein Mensch mit dem Recht, Fehler zu machen und Positionen neu zu überdenken.) In Wirklichkeit ist Birgit Hogefeld längst eine Frau, um die sich ein gewisser Mythos spinnt, in dem sie zur Heldin "der Linken" gemacht wird. Wer war nicht auf ihre erste Prozeßerklärung gespannt und hatte besonders hohe Erwartungen, weil das alles "so nah an der sonst so konspirativen RAF" ist ?

Was hat es bedeuten, daß auf ihren Brief keine Reaktionen kamen ? Sie als Linke, gestützt von anderen Linken, kann (fast) unkommentiert Vorurteile über Lesben ausbreiten. Unterstreicht das nicht, daß es (auch) innerhalb "der Linken" eine handfeste Lesben- und Schwulenfeindlichkeit gibt ?

Des weiteren finden wir es gefährlich, daß Birgit Hogefeld immer wieder in die Rolle der "besonders hart Getroffenen" gehoben wird. Beim Lesen der Prozeß-Infos entsteht (trotz Anführungszeichen) der Eindruck, daß es "normale" Verfahren in der BRD gibt: siehe Prozeß-Info Nr. 2. "Der Prozeß gegen Birgit ist kein `normaler' Prozeß. Wie in allen politischen Verfahren sind auch hier juristische Selbstverständlichkeiten außer Kraft gesetzt. Wie einer der Anwälte schon mal gesagt hat: `Wäre dies ein normales Verfahren, könnten wir optimistisch sein.'" Immer wird suggeriert, daß es normale und politische Verfahren gibt. Wo fängt denn Bitteschön das politische Verfahren an? Bei demjenigen, der einen Knast in die Luft sprengt, bei dem, der beim Sprühen oder bei einer Demo festgenommen wird, oder bei dem, der beim Klauen erwischt wird? Wir müssen uns klar machen, daß es bei allen Prozessen um die Justiz von Herrschenden über/gegen Beherrschte geht. Daß Abstufungen gemacht werden und daß sich diese Justiz beispielsweise bei Prozessen gegen RAF-Mitglieder besonders profilieren will, ist dabei klar!

Außerdem halten wir den "Kommentar zum Kommentar der Legendenbildung" (siehe Prozeß-Info 2 und taz vom 10.12.94) für nicht besonders geglückt.

Verschiedene Punkte bleiben ungeklärt: auch wenn es an den Qualen Birgit Hogefelds nicht viel ändert, ob sie im sogenannten "Toten Trakt" (nur eine belegte Gefängniszelle im betreffenden Trakt) oder in einer geräuschisolierten Einzelzelle saß, ist es doch um die Glaubwürdigkeit von ihr wichtig, klar zu sagen, ob der taz-Artikel lügt bzw. der von ihr geschilderte Sachverhalt stimmt oder nicht.

Aus dem taz-Artikel stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich wie alle wegen organisierter Kriminalität Einsitzende in Einzelhaft war oder ob dies ausschließlich bei ihr erzwungen wurde. Wenn dies nicht so ist, wird verleugnet, daß andere Gefangene den gleichen Scheiß-Bedingungen ausgesetzt sind: Klar find den wir es schlimmer, wenn Birgit Hogefeld die Einzige ist, weil das den besonderen Haß des Staates auf sie noch vergrößert/deutlicher macht. Wenn andere genauso in Einzelhaft sitzen, macht es die Situation von Birgit Hogefeld dadurch nicht besser: Es macht aber deutlich, daß es eben keine "unschöne Ausnahme" ist, Gefangene mit Einzelhaft zu foltern.

 

Wenn die "Linke" sich zum größten Teil sperrt, den Themenkomplex um Birgit Hogefeld herum kritisch zu sehen, muß man sich fast freuen, dies in der "Zeit" anders beleuchtet zu lesen. In dem Artikel "Ein Prozeß als Ritual" (17.2.95) werden einige Punkte aufgegriffen, die zurecht kritisiert, zumindest aber diskutiert werden müssen. Durch fehlende kritische Diskussionen oder durch einseitige Berichterstattung (z.B. teilweise im Prozeß-Info) wird ein Mythos um die RAF und somit auch um Birgit Hogefeld geschaffen. So kann man sich sicher sein, daß es viele UnterstützerInnen im Prozeßsaal wichtiger, wahrscheinlich auch spannender finden, einen "RAF-Prozeß" zu besuchen als sich für vorort anliegende politische Prozesse zu engagieren.

Dennoch können die im Zeitartikel erwähnten "Hallo-Birgit-Rufe" nicht so undifferenziert als das Schaffen einer "gewünschten Atmosphäre der Verbundenheit" abgetan werden. Schließlich befinden sich viele FreundInnen, Bekannte, die Mutter von Birgit Hogefeld und manchmal Verwandte von Wolfgang Grams im Zuschauerraum. Ein kritischer Punkt ist ebenfalls die Opferrolle, die laut "Zeit" und "taz" von Birgit Hogefeld zu sehr strapaziert wird. In ihrer Darstellung der "Methode Isolationshaft" versucht sie angeblich die Nähe zu den frühen Stammheim-Häftlingen herzustellen. Obwohl sie in ihrer "Erklärung zu den Haftbedingungen vom 22.4.94" nie den Vergleich zu Stammheim zieht, sondern sich auf eine Beschreibung ihrer eigenen Haftbedingungen beschränkt, wäre es trotzdem klarer, die Bedingungen der Isolation von heute und damals zu vergleichen.

Dagegen zieht Birgit Hogefeld zum Vergleich das südamerikanische Folterregime und Jean Amery mit seinen Auschwitzerlebnissen heran. Dies erachtet der Zeitautor, in einer rhetorischen Frage verpackt, für ungerechtfertigt. In einer Diskussion dieses Punktes muß auf jeden Fall beachtet werden, daß sich Birgit Hogefeld sehr wohl im Klaren darüber ist, daß sie sich verschiedene Aspekte aus den Amery-Erinnerungen herausnimmt (z.B. die Folterer als Gegenmenschen zu sehen, wie lange Folgen der Folter anhalten können, um, wie sie schreibt, "in Ähnlichkeiten oder Beschreibungen, an denen mir Unterschiede deutlich werden, meine eigene Situation besser begreifen zu können.")

Die Polemik, mit der im Zeit-Artikel kritisiert wird, zieht sich in der Überleitung zu einem wichtigen Punkt weiter fort: "In Wahrheit sind die Opfer andernorts zu suchen...". Die "Zeit" meint damit die Menschen, die bei RAF-Anschlägen ums Leben kamen oder fast getötet wurden. Auch wenn es wichtig ist, die "Opfer" zu benennen, kann man trotzdem nicht ohne jeden Kommentar den Anschlag auf die US-Air-Base in Frankfurt, bei dem der US-Soldat Pimental von einem Kommando der RAF erschossen wurde, in eine Reihe mit der Erschießung des GSG9-Beamten Newrzella in Bad Kleinen stellen. Der Tod des Polizeibeamten kann Birgit Hogefeld nur über ein höchst fragwürdiges juristisches Konstrukt angelastet werden. Dieses Konstrukt besagt, daß es in der RAF den Konsens gibt, sich bei Verhaftungen gegenseitig zu unterstützen.

Als nächstes wird behauptet, daß die Anwälte "das Hogefeld-Verfahren zum RAF-Klassiker" machen. D.h., daß Art der Anträge und Verteidigungsstrategien aus anderen RAF-Prozessen bekannt sind und übernommen werden. Bleibt die Frage offen, ob die Strategie gewählt wird, um den Mythos aus den 80ern aufleben zu lassen, oder ob sich diese Prozeßführung in der Praxis bewährt hat. Die Richter hingegen werden in Schutz genommen, obwohl sie ein genauso klassisches Verhalten an den Tag legen.

Während mehrere Abschnitte mit einer positiven Haltung zu Birgit Hogefeld folgen (April-Erklärung 1992, absurdes Rechtskonstrukt im Fall Newrzella, entlastende Aussagen des Verfassungsschutzspitzels Klaus Steinmetz) endet der Artikel dann mit einer Kritik an der pessimistischen Einstellung der Anwälte zum Ausgang des Prozesses. Dies unterstreicht den Grundton des Artikels deutlich. Schade, daß es im Fall von Birgit Hogefeld so gängig ist, in eindeutigen Gut-Böse-Schemata zu urteilen.

Durch Polemik und Verschweigen von Tatsachen ist es schwer, aus dem Zeit-Artikel tatsächlich einen Anstoß zu einer fairen Diskussion zu bekommen. Vielleicht gelingt es uns, diese faire Diskussion in dieser Zeitung zu führen.

(Ihr könnt auch selbst Artikel oder LeserInnenbriefe schreiben.)

 

Wir fordern:

- eine kontinuierliche, objektive Prozeßberichterstattung !

- kritische Solidarität für Birgit Hogefeld !

- sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen !

 

(leider ohne Orts- oder Gruppenkennung)

 

Anmerkung: Nach nochmaligem Lesen im Zug der Fertigstellung von Info 6 haben wir den Text nur mit Bedenken aufgenommen: vor allem, weil der zweite Teil, der entlang des Zeit-Artikels argumentiert, sprachlich und begrifflich immer unklarer wird. Nach unserem Eindruck wird oft nicht deutlich, was gemeint ist; teilweise entwächst den unausgereiften Formulierungen ein merkwürdiger Sinn: wie etwa der, Anklage und Verurteilung wegen Pimental seien nicht fragwürdig. Pauschalurteile über die mythenwillige Linke u.ä. scheinen uns nicht belegt usw. .

 


Zuschrift zu Info 4

 

Briefwechsel zwischen Göttinger Lesben und Birgit

- Fortsetzung -

 

 

In Info 4 haben wir den offenen Brief von Göttinger Lesben und Birgits Antwort dokumentiert. Für die Göttingerinnen ist diese Auseinandersetzung damit überhaupt nicht beendet - im Gegenteil.

Sie haben einen weiteren Brief geschrieben, den wir hier veröffentlichen.

 

 

Hallo Birgit,

 

jetzt endlich haben wir die Zeit und Lust gefunden, Dir auf Deinen Brief zu antworten, denn viele Punkte wollen und können wir so nicht stehenlassen.

Offensichtlich hast Du den Kern unserer Kritik nicht verstanden oder: es lag eben doch kein Mißverständnis vor. Du stellst nun zwar richtig, daß Du keinesfalls Lesbisch-Sein mit Machtausübung gegen andere Menschen gleichsetzt, aber weiterhin können Deiner Meinung nach sexuelle Übergriffe von Frauen gegen Frauen nur von Lesben ausgehen. Zitat: "es geht natürlich auch von den Schließerinnen, die heterosexuell sind, Macht und Erniedrigung gegen uns aus, aber da kommt das Moment des sexuellen Übergriffs nicht auch noch dazu". Birgit, wie kommst Du auf diese abstruse Idee?? "Sexuelle Übergriffe" haben grundsätzlich nichts mit der sexuellen Präferenz oder Orientierung des Täters/der Täterin zu tun! Sie sind statt dessen eine grausame Form der Machtausübung und der Erniedrigung. Seit Jahren, nein, inzwischen eher seit Jahrzehnten kämpfen Feministinnen (darunter auch viele Lesben), die z.B. in Frauenhäusern und Frauennotrufen arbeiten, gegen diese in unserer Gesellschaft HERRschenden Vorurteile. Aber das scheint völlig an Dir vorbeigegangen zu sein. Die Erfahrungen vergewaltigter Frauen und sexuell mißbrauchter Kinder beweisen tagtäglich aufs Neue, daß die Motivation der TäterInnen nicht nur "sexuelles lnteresse", "Geilheit" oder "Lust am Sex" ist, sondern vor allem "Machtgeilheit" und "Lust an der Qual und Demütigung des Opfers". Ein Beispiel: wenn frau als Prozeßbeobachterin an einem politischen Gerichtsprozeß teilnehmen will, wird sie vorher immer - von einer Frau! - kontrolliert, durchsucht, abgegrapscht. Nach unserer eigenen Erfahrung ist es dabei durchaus üblich, daß jene besagte Frau gerne mit dem "Pieps-Ding" in die Hose, manchmal sogar Unterhose, der Prozeßbesucherin fährt. Und oft wird beim Abgrapschen auch ganz "versehentlich" der Busen mit abgegrapscht. Für uns sind das eindeutige sexuelle Übergriffe. Und es ist für uns zugleich völlig absurd, diese Frauen deswegen für Lesben zu halten. Verdammt, Birgit, als Frau weiß frau doch schließlich total genau, wie sie am besten eine andere Frau demütigen kann. Dazu muß frau wahrlich keine Lesbe sein. Und was ist mit den Männern, die Jungen sexuell mißbrauchen? Sind die alle schwul? Was ist mit den Familien, wo Mutter, Vater, Tanten und Onkel gemeinsam Kinder zu Kinder-Pornos zwingen und mißbrauchen? Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: uns ging/geht es zu keinem Zeitpunkt darum, Dir Dein Gespür für die Unterscheidung zwischen "Zufall" und "sexuellem Übergriff'' abzusprechen. In den von Dir beschriebenen Situationen handelte es sich bestimmt um sexuelle Übergriffe. Aber es hat nichts mit der sexuellen Präferenz der Täterin zu tun; der Kontext, in den Du die erlebten sexuellen Übergriffe setzt, ist falsch und fatal.

Leider hast Du nicht auf unsere Frage geantwortet, woher Du weißt, daß es "sehr viele lesbische Schließerinnen" gibt, wenn diese doch versteckt ihr Lesbisch-Sein leben, wie Du schreibst. Und woher weißt Du so gut über ihre Motivation Bescheid, weshalb sie Schließerinnen geworden sind ("richtig ist, daß es hier Schließerinnen gibt, die lesbisch sind und die sich diesen Job ausgesucht haben, um Macht - auch in Form von sexuellen Übergriffen - gegen gefangene Frauen auszuleben, und die (und das sind nicht wenige) waren damit gemeint")? Unserer Meinung nach läßt sich nur darüber spekulieren, warum Menschen den Beruf SchließerIn wählen - wir kennen auch keineN persönlich. Aber wie wenig relevant die Fragen nach Motivation und sexueller Präferenz sind, wird auch in dem Interview der jungen welt vom 31.3.95 mit einer anderen (ehemaligen) Gefangenen, Margit Czenki, das Du sicherlich gelesen hast, deutlich: "Bei den Wärterinnen, den Wachteln, muß man nicht anfangen auszusortieren, ob diese oder jene nun lesbisch ist oder Mutter von fünf Kindern. Die begegnen mir erst mal als Wachteln. Das bedeutet, sie sind Untertanen, sie werden jeden Befehl ausführen, sie werden immer auf der anderen Seite stehen. Auf dieser Unterdrückung basiert der Knast und dazu gehört auch jede Form von Erniedrigung. Ob das nun ein Anfassen am Po ist, wie Birgit das beschreibt, oder ob es mit Worten geschieht. Ich hab das erlebt von Beamtinnen in der Krankenstation wenn du dich ausziehen mußt, daß sie Sprüche über deinen Körper machen. Die dann sagen: "ja, ja, Ihren Busen haben wir ja jetzt schon gesehen, so toll ist der nicht, daß Sie den noch rausstrecken müssen." Und ob sie dich dabei noch anfassen oder nicht, ist kein großer Unterschied. Das gehört zur Palette der Unterdrückung."

Bzgl. unseres Verdachts, daß Du Vorurteile gegenüber Lesben hegst, schreibst Du, daß Du diese aufgrund der Erfahrungen Deiner WG-MitbewohnerInnen und anderer FreundInnen "so nicht hast". Sicher, durch Deine WG hast Du mitbekommen, mit welchen Vorurteilen und Diskriminierungen Lesben und Schwule alltäglich konfrontiert werden, aber das sagt noch nichts über Dein Verhältnis dazu aus. Es sagt auch nichts darüber aus, ob bei Dir selbst auch Vorurteile und Klischees rumspuken und wie Dein Gefühl dazu ist. Eigene Texte auf vorurteilsbehaftete Formulierungen hin "abzuklopfen", ist sicherlich ein gutes Mittel zur Selbstreflexion und eigenen Bewußtwerdung, auch eine lobenswerte Absicht, aber für sich allein erinnert es mehr an die Männer, die sich für unglaubliche Anti-Sexismus-Kämpfer halten, weil sie gelernt haben, beim Sprechen und Schreiben auch die weiblichen Formen zu benutzen. Vorurteile können nur abgebaut werden, indem mensch sie sich bewußt macht, zugesteht und dann mit Herz und Verstand ein anderes Verhältnis dazu aufbaut. Gleiches gilt für uns in Bezug auf Rassismus. Schwarze Feministinnen waren die ersten, die Kritik an Rassismus, ethnozentristischer Sichtweise und paternalistischer Haltung der weißen feministischen "Schwestern" übten. Durch ihre Kritik war/ist die weiße FrauenLesbenbewegung gezwungen, sich mit dem. eigenen verinnerlichten Rassismus auseinanderzusetzen. Und in den letzten Jahren hat diese Auseinandersetzung auch allmählich in der gemischten "Linken" begonnen. Wenn es so einfach wäre, Vorurteile "loszuwerden", wie Du es beschreibst, weshalb ist dieser Veränderungsprozeß bzgl. Rassismus immer noch nicht abgeschlossen? Wozu gibt es dann diese ganzen "Anti-Rassismus-Workshops", "Bewußtmachungs-Seminare" usw. ?

Die Gesellschaft, in der wir hier leben, ist u.a. heterosexistisch und homophob (verinnerlichte Ängste vor eigenen homosexuellen Gefühlen). Ob Erziehung oder Roman, ob Werbung oder billigste Lohnsteuerklasse für verheiratete Paare, ob "hohe" Politik oder die Nachbarin, die das Mädchen fragt: "na, hast Du schon einen Freund?", das Bild der Heterosexualität HERRscht überall. Deshalb prägten Lesben auch den passenden Begriff "Zwangsheterosexualität". Denn selbst dort, wo der Lesben- und Schwulenhaß gar nicht offen benannt wird, werden lesbische und schwule Identität permanent durch die Zwangsheterosexualität negiert.

Wie umfassend und tiefgreifend die mit "Heterosexismus" und "Homophobie" bezeichneten Prozesse sind. verdeutlicht das folgende Zitat: "Die Begriffe Heterosexismus und Feindseligkeit konzentrieren sich stärker auf den sozialen Kontext, auf das patriarchale Macht- und Wertegefüge, während Homophobie den Aspekt der Angst in seinen Auswirkungen in den Vordergrund stellt. Homophobe und heterosexistische Haltungen und Handlungen sind Ausdruck eines Schutzmechanismuses. Eigene innere Konflikte und Ängste werden dadurch abgewehrt, daß sie auf lesbische Frauen projiziert werden. Der Vorgang der Projektion und die damit verbundene negative Haltung ermöglichen es, die unbewußten Konflikte bzgl. der eigenen Geschlechtsidentität oder/und der eigenen sexuellen Orientierung auszudrücken. Dabei werden die eigenen unakzeptablen und beängstigenden Bedürfnisse und Wünsche zurückgewiesen durch die ausdrückliche Ablehnung von lesbischen Frauen, die diese Bedürfnisse quasi symbolisieren. (...) Dieser Aspekt bringt vorrangig den homophoben Ursprung gesellschaftlicher Diskriminierung gewissermaßen als einen fehlgeleiteten Versuch persönlicher Angstbewältigung zum Ausdruck." (aus: Waltraud Dürmeier u.a. `Wenn Frauen Frauen lieben", München 1991, S. 71f.) Logisch, daß solche verinnerlichten Ängste sich nicht ohne weiteres durch rationale Überlegungen auflösen lassen. Darüber hinaus machen Lesben oft die Erfahrung, daß gerade heterosexuelle Frauen besonders deutlich mit Ablehnung auf sie reagieren, weil sie sich völlig in der Selbstverständlichkeit ihrer eigenen (= heterosexuellen) Orientierung angegriffen fühlen.

Weshalb solltest Du also der verinnerlichten Homophobie so Ieicht entkommen sein? Wie setzt Du Dich damit auseinander und welches Verhältnis hast Du wirklich zu Lesben?

Übrigens, Birgit, von "Klischees und Vorurteile abbauen helfen" war unsererseits nie die Rede. Wir Lesben brauchen keine Heteras, die immer gleich helfen wollen, Vorurteile anderer abzubauen, bevor sie sich auch nur gefragt haben, ob sie ihre eigene Homophobie nicht nur verleugnen, anstatt sie anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Wirkliche Solidarität ist keine Frage von Formulierungen und auch nicht von Mitleid. Zumal der von Dir ausführlich beschriebene "Leidensweg" Homosexueller glücklicherweise nur ein kleiner Ausschnitt aus unserem Leben ist. Wie singt die lesbische Liedermacherin Carolina Brauckmann so schön:

Frauen zieh' ich tiefer ins Vertrauen,

schenk' mein Herz ich und begehre sie aus tiefster

Überzeugung.

Meine frühgeprägte Neigung

gilt dem schöneren Geschlechte,

alles Wahre, alles Echte

kann bei ihnen ich nur finden.

Meine Liebe, meine Sünden

werden nur durch sie entfacht,

ein Leben lang werd' ich erglühen,

mich vergessen und bemühen.

Ach, es ist glatt zum Berauschen,

welche möchte da schon tauschen,

keine Spur bin ich verzagt,

sondern denke mir im Stillen:

Haste Schwein gehabt!

 

Viele Grüße von uns

 

 


Zuschrift zu Info 5

 

Reaktion kirchlicher ProzeßbeobachterInnen auf die Kritik der InfoAG

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir würden es sehr begrüßen, wenn die InfoAG sich um eine möglichst objektive Berichterstattung über den Prozeß gegen Birgit Hogefeld bemühen würde. Wir halten es auch für sinnvoll, wenn gleichzeitig eine politische Diskussion geführt wird. Dabei sollten unserer Meinung nach Gründe und Ziele der einzelnen Beiträge klar erkennbar sein. Eine wichtige Voraussetzung ist in diesem Zusammenhang eine offene und faire Haltung gegenüber den Gesprächspartnern. Wir halten es für ein bedenkliches Zeichen, wenn wir bei der Prozeßbeobachtung Seite an Seite sitzen und dann, ohne vorheriges Gespräch, eine Erklärung von uns öffentlich in einem Stil kritisiert wird, den wir deutlich zurückweisen müssen.

Wer unsere Erklärung vom 7. April 1995 aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen hat, kann nicht oberlehrerhaft über "manches wohlgemeinte Schulterklopfen" sprechen und wird auch keinen Anhaltspunkt finden, unseren Text als "fatal" zu bezeichnen. Fatal finden wir allerdings die Unterstellung: "Die `resozialisierende' Intention der Christen ist nur eine Variation der Erwartung, daß die Zusammenlegung die wechselseitige Zerfleischung herbeiführe". Wer ohne mit uns zu reden und ohne irgendwelche Anhaltspunkte im Text zu solchen Unterstellungen greift, sagt viel über sich aber nichts über uns aus. Ähnliches gilt für den Hinweis, daß sich unser Text mit Bestrebungen des VS treffe. Solche Phantasien lassen nur den Schluß zu, daß an unserer Äußerung Probleme abgearbeitet werden, die mit uns und unserer Erklärung nichts zu tun haben,

Jede und jeder sollte sich freuen, wenn nicht alle ProzeßbeobachterInnen der gleichen Meinung sind. Dadurch kann unserer Meinung nach produktives Nachdenken und Dialog in Gang kommen.

Wenn wir von einem "Terrorismusproblem" reden, meinen wir selbstverständlich auch die Gründe und Ursachen, die in unserer Gesellschaft zu suchen sind. Auch wir sehen z.B. in der zunehmenden Verarmung und Verelendung großer Stadtbezirke, ganzer Länder und Kontinente einen Skandal, der eine radikale Umkehr unserer Gesellschaft nötig macht. Radikalität heißt für uns, daß es um die Wurzeln unseres Systems geht. "Ungerechten, todbringenden Systemen mit Schweigen oder Nachsicht begegnen, heißt, deren Waffen zu segnen" sagt der im Amazonasgebiet tätige Bischof Kräutler.

Dieser radikale menschenrechtliche Ansatz verbindet sich für uns eindeutig mit einer Haltung der Gewaltlosigkeit, wie sie von M. -L. King, M. Gandhi und anderen vorgelebt wurde. Wir sind deshalb nicht zu einer blinden Solidarität bereit. Wir halten sie für gefährlich und glauben, daß sie Birgit Hogefeld und anderen nichts Gutes bringen würde. Einzelne Taten bewerten wir an diesem Maßstab der Menschenrechte und Gewaltlosigkeit.

Das heißt jedoch auch, daß wir uns bemühen, auf jeden Menschen möglichst vorbehaltlos zuzugehen und ihn in seiner Geschichte und individuellen Situation zu verstehen. Wir wollen Menschen nicht einfach nach "gut und böse" einordnen. Gerade die Geschichte des Terrorismus in unserem Land zeigt, daß auf beiden Seiten, sowohl von der Staatsgewalt, als auch von Bürgerinnen und Bürgern "Schlimmes" passiert ist. Wir haben deshalb bewußt formuliert: "Die Geschichte des Terrorismus in unserem Land ist eine Geschichte von Leid, das nicht vergessen noch verharmlost werden darf. Damit sich diese Geschichte nicht endlos fortsetzt, muß sich der Rechtsstaat dialogbereit und an der Menschenwürde orientiert zeigen. Dialogverweigerung oder Machtdemonstration sind Irrwege."

Wir bekräftigen, daß diese Forderung an jeden gestellt werden muß, der von Gewalt Gebrauch gemacht hat. Dialog ist nie eine Einbahnstraße. Es geht dabei nach unserem Verständnis nicht um Sieger und Besiegte, sondern um Menschen, die sich in ihrer Würde respektieren.

Wir sind deshalb immer bereit, uns mit Menschen zu solidarisieren und zu sympathisieren. Es geht uns ganz konkret um Birgit Hogefeld, um sie persönlich und nicht das, was die Öffentlichkeit, das Gericht oder wer auch immer in sie hineinprojeziert. Natürlich sind auch wir nicht frei von Bildern, die wir uns über den anderen und die andere machen. Aber wir sind bereit, sie immer wieder zu korrigieren zu lassen. Wir wollen niemanden vereinnahmen oder in die Ecke drängen. Und wir wollen, daß dies auch mit uns nicht geschieht. Deshalb halten wir es für angebracht, daß unsere Reaktion im Info veröffentlicht wird.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Gisela Wiese, Hanno Heil, Hubertus Janssen

 

 

 

 

Erwiderung der InfoAG

 

 

Wir danken Gisela Wiese, Hanno Heil und Hubertus Janssen für die Zuschrift.

Wenn der Eindruck entstanden ist, wir wollten die Initiative der Verfasser sarkastisch auflaufen lassen und seien dabei etwa von einer Häme gegen Kirchenleute geleitet (...nämlich Probleme abzuarbeiten, "die mit ...(der) ... Erklärung nichts zu tun haben"), bedauern wir das sehr.

 

Insbesondere aus folgendem Grund: Die Verfasser machen das Thema Birgit Hogefeld und der anderen Gefangenen in ihrem gesellschaftlichen Bezugsrahmen: in kirchlichen Kreisen und in kirchlichen Strukturen zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Wir kennen keine Beispiele, wo das anderswo geschieht: An keinem Arbeitsplatz sonst wird das Thema aufgeworfen, bei keiner gewerkschaftlichen Versammlung oder Delegiertenkonferenz.

 

Zu den sachlichen Unterschieden möchten wir 4 Punkte anmerken:

1.

Wir halten die Aussage, daß auf beiden Seiten "Schlimmes" passiert ist oder Fehler gemacht wurden, auch durch die Zuschrift noch nicht ausreichend erläutert. Die Analyse der strukturellen Gewalt der "ungerechten, todbringenden Systeme" legt frei, daß hier Gewalt endlos reproduziert wird und notwendiger Bestandteil ist. Hinter den Reihen der schlimmen Einzelerscheinungen wird das strukturelle Grundprinzip erkennbar: die operative, ggf. militärische Durchsetzung von Übervorteilung gegen ganze Kontinente, wo Seuchen, Hunger, Blut als Optimierungs- oder Minimierungsfaktoren gerechnet werden.

Diese operativen Strategien und strukturellen Mechanismen mit der Widerstandsgewalt auf eine Stufe zu stellen, wirft die Frage auf, ob die ungerechten, todbringenden Systeme wirklich ausreichend analysiert sind. Ein entfalteter Begriff von gesellschaftlicher Herrschaft und Herrschaftsmethoden würde es jedenfalls verbieten, ein Gleichheitszeichen zu setzen zwischen Batista und Castro, zwischen den regierungsbeauftragten Todesschwadronen der spanischen GAL und bewaffnetem Widerstand in Westeuropa.

2.

Ein radikal menschenrechtlicher Ansatz ist sich der Herkunft des Menschenrechtsgedankens bewußt: nämlich seiner historischen und begrifflichen Einbettung in eine Befreiungsperspektive, die machtförmiger Verfügung über Menschen und ihre Bedingungen entgegentritt.

Der Menschenrechtsbegriff, der immer gegen staatliche und herrschaftliche Gewalt gerichtet ist, ist nicht notwendig mit einem Konzept von Gewaltlosigkeit als gesellschaftlicher Wirkungsstrategie verbunden.

Ist er radikal begriffen, so erzeugt er auch nicht zwangsläufig eine Abgrenzung von bewaffneten Elementen eines Befreiungskampfs. Als einigender Punkt kommt das Einfordern von Menschenrechten auch zwischen Positionen in Betracht, die bei klarer Analyse gesellschaftlicher Macht unterschiedliche gesellschaftliche Gegenstrategien bevorzugen.

 

3.

Der Staat kennt immer nur eine Gewalt, die er als katastrophisch darstellt: die nicht von ihm oder anderen herrschenden Formationen (Kapitalmacht, Patriarchat usw.) ausgeht.

Äußerungen von Gruppen und Menschen, die eine Position zur strukturellen Gewalt und zu Menschenrechten haben, sollten darauf bedacht sein, diese Bedingung zu erkennen und selber ausreichend Widerhaken in ihre Rede zu legen, die eine Vereinnahmung für die staatliche Rede über Gewalt verhindern.

Denn das Stichwort "Gewalt" wirft eher die Frage danach auf, mit welcher Gewalt man paktiert als die, ob man "für" sie oder gegen "sie" ist. Denn sie wird vorgefunden, nicht erfunden.

Ein Jubelverhältnis zu revolutionärer Gewalt ist fast immer unangebracht. In der Metropolengesellschaft nimmt jede Ausbildung einer menschlichen Orientierung den Weg über den Pazifismus. Jeder darüberhinausgehende Schritt wird auf dieser Grundlage zur Notwendigkeit, die mit mittelbezogenen Neigungen nicht im Gleichklang sein darf.

Wo Gewalt "ohne Vergnügen" ausgeübt wird, "wie es die Revolutionäre immer taten, besteht noch Aussicht, sie aus der Geschichte zu vertreiben" (Merleau-Ponty: Humanismus und Terror I, Frankfurt 1966, S. 77, urspr. Paris 1947)

 

4.

In dem von der InfoAG kritisierten Text, wie er in der "Jungen Welt" vom 03.05.1995 abgedruckt war, fehlte unseres Erachtens ebenfalls jener Widerhaken, der ihn sprachlich von den gesellschaftssanitären und konfliktregulierenden Positionen im Verfassungsschutz absetzte.

 

Blinde Solidarität mit Birgit Hogefeld liegt uns als Konzept und als Forderung fern. Wir freuen uns, daß die Verfasser aktive Prozeßbeobachter sind. Ein breites Spektrum, das den einigenden Punkt in der Prozeßbeobachtung hat, muß für stark unterschiedliche Bewertungen gerüstet sein. Diese muß ein solches Spektrum aushalten.

Daß wir unsere Kritik an der Erklärung der Verfasser nicht vorab mit diesen besprochen haben, bedauern wir als Fehler. Auch ein Gespräch hätte allerdings wesentliche Unterschiede in den Bewertungen nicht ausräumen können.

Wir werden künftig versuchen, als erstes das Beitragshafte in allen Einzelinitiativen zu erkennen und zu sehen. Wo Unterschiede und Diskrepanzen vorliegen, sollte prinzipiell von allen Seiten auf Häme, Ironie, Unterstellungen und Bösartigkeit verzichtet werden.

 

 


 

Unterschriftenaktion vom Jahresanfang

 

Für die Aufklärung der Erschießung von Wolfgang Grams und für ein faires Verfahren gegen Birgit Hogefeld

 

Am 15. November begann vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. der Prozeß gegen Birgit Hogefeld. Angeklagt wird sie wegen verschiedener Aktionen der Roten Armee Fraktion (RAF) zwischen 1985 und 1993. Sie wurde am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen verhaftet. In dem Zusammenhang wird ihr auch Mord und sechsfacher Mordversuch an Beamten der GSG9 vorgeworfen, Bevor in Bad Kleinen der erste Schuß fiel, lag sie bereits überwältigt und gefesselt am Boden. Bei der Verhaftungsaktion wurde Wolfgang Grams getötet und der Verfassungsschutzagent Klaus Steinmetz freigelassen.

Während Birgit Hogefeld einer Tat angeklagt wird, die sie nachweislich nicht begangen hat, sind die Ermittlungsverfahren gegen jene GSG9-Beamten, die in Verdacht standen, Wolfgang Grams erschossen zu haben, eingestellt. Die staatliche Version: Selbstmord!

Die Anwälte von Wolfgang Grams' Eltern haben im Juni 1994 dagegen Beschwerde eingelegt. Sie halten nach gründlicher Auswertung aller Akten und nach Einholung zusätzlicher Gutachten "den Schluß für zwingend, daß Wolfgang Grams von Beamten der GSG9...getötet worden ist".

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld bietet vielleicht die letzte Chance, die Auseinandersetzung um die Verhaftungsaktion von Bad Kleinen und insbesondere um die Todesumstände von Wolfgang Grams wieder aufzunehmen.

Eine Aufklärung, die der Wahrheitsfindung dient, ist bisher nicht erfolgt. Die bisher veröffentlichten staatlichen Untersuchungsergebnisse sind in sich widersprüchlich und in ihren Schlußfolgerungen unglaubwürdig. Sie sind vor allem von dem politischen Kalkül geprägt, eine Tötung von Wolfgang Grams durch GSG9-Beamte auszuschließen. Die sogenannten "Fehlerpannen" von Spezialisten des Bundeskriminalamtes (BKA) lassen eine staatliche Obstruktionspolitik vermuten, allen Aufklärungsversuchen die Beweisgrundlagen zu entziehen. Die Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, haben sich schließlich doch mit sowohl politisch als auch untersuchungstechnisch äußerst fragwürdigen und lückenhaften Aussagen und Ergebnissen durch die Gutachten, Behörden und die Bundesregierung zufriedengegeben. Die Aussage des damaligen Innenministers Seiters in seiner Rücktrittsrede: "Ich übernehme die politische Verantwortung für Bad Kleinen", läßt die Frage offen: Verantwortung - wofür?

Wir gehen davon aus, daß im laufenden Prozeß gegen Birgit Hogefeld die staatliche Untersuchungsversion juristisch und im öffentlichen Meinungsbild festgeschrieben werden soll. Des weiteren sollen die Aussagen des Verfassungsschutzagenten Klaus Steinmetz "gerichtsverwertbar" gemacht werden. Die Verteidigung von Birgit Hogefeld beklagt grundsätzlich eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Arbeit durch das Vorenthalten von Akten und anderem durch die Bundesanwaltschaft (BAW) und das Gericht.

Die übrigen Anklagepunkte gegen Birgit Hogefeld stehen nicht im öffentlichen Blickpunkt: Mittäterschaft bei einem Sprengstoffanschlag auf die US-Airbase Rhein-Main, die Tötung eines Soldaten, ein versuchtes Attentat auf den damaligen Staatssekretär Tietmeyer, die Sprengung des Gefängnisses Weiterstadt und Mitgliedschaft in der RAF. Unzweifelhaft ist nur die von Birgit Hogefeld selbst eingeräumte Mitgliedschaft in der RAF. Bei allen anderen Anklagepunkten steht die Beweisführung der BAW auf schwachen Füßen. Es ist zu erwarten, daß auch diese Anklagepunkte ohne faire und angemessene juristische Würdigung im Verfahren durchgeboxt werden sollen.

Im Zuge der Gesetzesänderungen in den letzten Jahren im Bereich "innere Sicherheit" sind einige elementare Grund- und Menschenrechte unter die Räder gekommen. So ist z. B. die Trennung von Geheimdiensten und Polizei, die nach den Erfahrungen mit der "Geheimen Staatspolizei" (Gestapo) im Nationalsozialismus gesetzlich festgelegt wurde, wieder aufgehoben worden. Gerade nach der koordinierten Geheimdienst- und Polizeioperation von Bad Kleinen ist deutlich geworden, wie sehr eine öffentliche und gesellschaftliche Opposition als Kontrolle notwendig ist, die solche Operationen aufklärt bzw. unmöglich macht. Es ist bisher nicht möglich gewesen, eine kontinuierliche und kritische Gegenöffenlichkeit herzustellen, die das erreicht. Wir möchten mit unserer Unterschriftenkampagne deutlich machen, daß dieser Aufgabe und die öffentliche Aufklärung und Bewertung der Umstände und Ereignisse von "Bad Kleinen" noch nicht abgeschlossen ist.

Wir erklären hiermit, daß die Bundesregierung, die staatlichen Kontrollorgane und die handelnden Behörden vor Ort nicht aus ihrer Verantwortung entlassen sind! Wir wollen damit Bedingungen schaffen, eine öffentliche und unabhängige Untersuchungskommission zu ermöglichen!

Wir fordern alle auf, die Anwälte und Eltern von Wolfgang Grams bei ihrer Nebenklage mit allen ihren Möglichkeiten zu unterstützen! Wir fordern die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen die GSG9-Beamten!

Wir fordern die Veröffentlichung aller Einsatzprotokolle und unbeschränkt Akteneinsicht für die Verteidigung von Birgit Hogefeld!

Wir fordern alle auf, den Prozeß gegen Birgit Hogefeld zu beobachten und zu besuchen!

...Kontakt und Information: Initiative "Über den Tag hinaus", c/o St. Pauli Hafenstraße 110, 20359 Hamburg, Fax: 040/3172546.

 

(Mit vielen ErstunterzeichnerInnen am 25.3.95 in der "jungen welt" dokumentiert)

 

 


 

Veranstaltungsberichte

 

Ruhrgebiet: Bochum-Langendreer 29.05.95

 

Am 26.5. war im Bahnhof Bochum - Langendreer eine Veranstaltung "Die Erschießung von Wolfgang Grams in Bad Kleinen - Politische Justiz in den 90ern". Die Veranstaltung war mit ca. 200 Leuten (aus dem Ruhrgebiet und darüber hinaus) ziemlich gut besucht. Das Interesse war groß und die BesucherInnen bunt gemischt: ältere, aber auch viele jüngere, aus verschiedensten politischen Zusammenhängen oder einfach Interessierte. Es ging um zwei thematische Schwerpunkte: 1. Bad Kleinen - Fakten und Einschätzung und 2. der Prozeß gegen Birgit Hogefeld und die Situation der politischen Gefangenen aus der RAF. Das war natürlich viel zu viel für 3 Stunden; deshalb kurz eine Erklärung wie die Veranstaltung zu Stände kam. Vor einem halben Jahr gab es eine Unterschriftenaktion, daß das Ermittlungsverfahren wegen der Tötung von Wolfgang Grams neu aufgerollt werden muß. Bei einer Gruppe in Dortmund kam daraus die Überlegung, daß es nicht ausreicht, nur zu unterschreiben, sondern daß wir uns mit den Ereignissen um Bad Kleinen und unserem Verhalten dazu auseinandersetzen müssen. Und es kam die Frage auf, wie verhalten wir uns überhaupt noch zu den politischen Gefangenen. Nach einem ersten Treffen in Dortmund bildete sich eine Vorbereitungsgruppe. Bad Kleinen sollte der Schwerpunkt der Veranstaltung sein, dazu wurden auch die Referenten Andreas Groß (Anwalt der Eltern von Wolfgang Grams) und Oliver Tolmein (Journalist) eingeladen. Zum anderen wollten wir mit der Veranstaltung auch erreichen, daß sich wieder mehr Gruppen und Menschen mit den Prozessen und der Situation der politischen Gefangenen auseinandersetzen. Im östlichen Ruhrgebiet hat es seit dem Hungerstreik 1989 und dem Kirchentag 1991 keine größeren Diskussionen und Aktionen zu den Gefangenen mehr gegeben. Deshalb war die Veranstaltung auch so vollgestopft. Die ersten 1 _ Stunden wurden von den Referenten bestritten. Andreas Groß faßte ein paar Fakten zu der Hinrichtung von Wolfgang Grams zusammen und fand es wichtiger, daß Fragen gestellt werden, als daß er sich in Details verliert. Oliver Tolmein ging auf die Reaktion der Medien ein, verglich die Situation vom Herbst 1977 und Bad Kleinen 1993 und stellte fest, daß es eine Gegenöffentlichkeit in beiden Zeitabschnitten nicht gegeben hat und daß die Öffentlichkeit die Hinrichtung von Wolfgang Grams akzeptiert hat. Fragen gab es zu den Themen: Rolle und Geschichte der KGT, zum Rücktritt von Seiters und Stahl, zu einzelnen ZeugInnen, welche Chancen hat die Neuaufnahme des Verfahrens, um vor Gericht den Tod von Wolfgang Grams klären zu lassen ... und andere. Im 2. Teil haben wir über den bisherigen Prozeß gegen Birgit berichtet und anschließend die aktuelle Situation der Gefangenen aus der RAF dargestellt und die einzelnen Gefangenen mit Dias und Kurzbiographien vorgestellt.

Wir haben noch zu einem Nachbereitungstreffen eingeladen, um mit möglichst vielen neuen oder alten Interessierten weiterzureden, auch über die Fragen, die wir auf der Veranstaltung bewußt rausgehalten haben, wie Geschichte und Erfahrungen des bewaffneten Kampfes, Bruch in der RAF, Unterstützungsaktionen, Nachfolgeveranstaltungen. Obwohl das Interesse auf der Veranstaltung zwar groß war, blieb bei dem Folgetreffen der Vorbereitungskreis weitgehend unter sich. Wir treffen uns aber trotzdem weiter. Wer Interesse hat, kann den Termin über den Infoladen in Dortmund erfahren. (Oesterholzstr. 90, 44145 Dortmund, Tel/Fax 0231/839959)

 

 

 

Veranstaltungen am Rande des Ev. Kirchentags in Hamburg am 15./16.06.95

 

Am Rande des Kirchentages in Hamburg fanden sich Leute mit unterschiedlichen Bezugspunkten, um 2 Tage zu Politischen Gefangenen zu gestalten.

Das Programm in der Friedenskirche von Altona spiegelte die verschiedenen Annäherungen und Bezüge zu den Politischen Gefangenen wieder und war durch eine intensive Gesprächsatmosphäre geprägt. Diese zwei Tage waren erfüllt von vorbehaltlosen, auf Verständigung ausgerichteten Begegnungen. Von dieser Atmosphäre, die derzeit nicht gerade alltäglich ist, werden die Anwesenden sicher noch lange zehren. Bleibt zu hoffen, daß etwas davon in den Alltag der Auseinandersetzungen hinüberwächst. Gerade die Auseinandersetzung um die Politischen Gefangenen und deren Freilassung hätte dies bitter nötig.

Die Veranstaltung zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld war sehr gut besucht und in den Redebeiträgen aus dem Kreis der verschiedenen ProzeßbesucherInnen und der InitiatorInnen des Abends wie auch in der Diskussion kam viel zur Sprache.

In den weiteren Programmpunkten hatten die unterschiedlichen Aspekte einen Raum (Bibelarbeit, Gesprächskreise mit ehemaligen Gefangenen, zu kurdischen Gefangenen, Film "Was aber wären wir für Menschen...", Bilderausstellung...)

Die zweite Abendveranstaltung, die ebenfalls gut besucht war, stand unter dem Motto "Die Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume"(H.Heine) - Einen Gruß in die Zellen. Hier wurden Texte vorgetragen und der Chor Hamburger GewerkschafterInnen trat auf. Die Texte, die politischer, philosophischer, theologischer und literarischer Natur waren, erweiterten nochmals den Horizont der Möglichkeiten, sich mit den Politischen Gefangenen auseinanderzusetzen.

Nach der Fülle der Eindrücke dieser zwei Tage fiel der Abschied vielen spürbar schwer. So bliebt noch, Allen, die zur Gestaltung der beiden Tage beigetragen haben, auf diesem Wege Dank auszusprechen.

 

 

Zum Auftakt des Kirchentages am 14.6. haben Leute ein 72m2 großes Transparent am Turm des Michel befestigt (siehe Bild). Darauf stand:

Bad Kleinen: Staatsterrorismus

Solidarität mit Birgit Hogefeld

Sofortige Freilassung unserer GonossInnen

Weg mit dem [[section]]129a

Aktueller Anlaß waren die Durchsuchungen von ca. 80 Wohnungen, Läden und Betriebe am 13.6. im Auftrag der BAW. Dabei wurden 4 Leute verhaftet. Innenminister Kanther erklärte, die Razzia habe in erster Linie zur Einschüchterung der Linken gedient. (Aus Anlaß der Hausdurchsuchungen und Verhaftungen fand am 16.6. in Hamburg eine Demonstration statt).

Die Presseerklärung zu der Transparentaktion benennt als weitere Anlässe den Prozeß gegen Birgit und die Ermordung von Wolfgang Grams. Es darf nicht sein, daß Bad Kleinen widerstandslos hingenommen wird und daß im Prozeß gegen Birgit die Staatsversion als Wahrheit verwendet wird, sagen sie und fordern:

Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Vollständige Aufklärung der Ereignisse in Bad Kleinen !

Weg mit den Abschiebeknästen !

Keine Kriminalisierung des kurdischen Befreiungskampfes !

 

 

 

Heidelberg, 21.06.95

 

Am 21.06.95 fand in Heidelberg eine Veranstaltung zu Bad Kleinen und dem Prozeß gegen Birgit Hogefeld statt.

Veranstalter war das Antifa AK der FSK (Fachschaftskonferenz).

Eingeladen waren Ursula Seifert (RA von Birgit Hogefeld) und Thomas Kieseritzky (RA der Eltern von Wolfgang Grams).

Die Veranstaltung war sehr gut besucht, ungefähr 100 bis 120 Leute waren gekommen.

Zuerst sprach Ursula Seifert und gab einen Abriß über den bisherigen Prozeßverlauf in Frankfurt und die permanente Behinderung der Verteidigung von seiten der Bundesanwaltschaft und des 5.Strafsenats, u.a. in dem Anträge der Verteidigung ständig abgelehnt werden.

Ursula Seifert ging auf das Schriftgutachten zu einer Unterschrift ein, die unter einem Automietvertrag stand.(Der Wagen wurde beim Tietmeyer-Anschlag benutzt).Dabei gehen die Ankläger davon aus, daß Birgit den Mietvertrag unterschrieben hat. Anhand eines Namenszuges ist ein Schriftgutachten erstellt worden!

Weiter berichtete Ursula Seifert über die Anklageerweiterung gegen Birgit. Ursprünglich wurde sie wegen RAF-Mitgliedschaft angeklagt, jetzt zusätzlich wegen der Anschläge auf Tietmeyer, die Air-Base ,Pimental und Weiterstadt sowie des versuchten Mordes an dem Polizisten Newrzella in Bad Kleinen und des mehrfachen Mordversuchs an GSG 9 Beamten.

Desweiteren informierte Ursula Seifert über die unvollständige Erfassung der Waffen und der verwendeten Munition der GSG 9 in Bad Kleinen und über die Obduktion des GSG 9 -Mannes Newrzella. Z.B. waren bei der Obduktion zwei Frauen vom BKA dabei, die Fotos von der Leiche machten aber nicht von den Projektilen, die aus der Leiche entfernt worden waren. Vielmehr waren die Projektile einige Tage verschwunden und tauchten dann wieder auf (?).

Thomas Kieseritzky berichtete über die medizinischen Gutachten die zu der Todesursache von Wolfgang Grams erstellt wurden. Dabei ging er insbesondere auf das Gutachten des von den Eltern von Wolfgang bestellten Gutachters Prof. Bonte, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni Düsseldorf ein. Dieser erstellte ein Gutachten, in dem er die Argumente des von der StA Schwerin bestellten Gutachters ,Prof. Brinkmann und des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich auf wissenschaftliche Richtigkeit und Schlüssigkeit überprüft. In einem anderen Gutachten hat Prof. Bonte sich mit Spuren beschäftigt die dafür sprechen, daß Wolfgang die Waffe mit Gewalt entwunden wurde. Prof. Brinkmann ist der einzige der vorgibt, einen Selbstmord beweisen zu können.

Weiter berichtete Thomas Kieseritzky über die Beobachtungen der Zeugen bei der Schießerei in Bad Kleinen, die Rollen die die einzelnen GSG 9 Beamten spielten und über die Sicherstellung der Kleidung der GSG 9 Beamten.

Auch T. Kieseritzky berichtete über massive Behinderung der Verteidigung durch die Staatsanwaltschaft Schwerin. Z.B. wurde monatelang die Akteneinsicht verwehrt.

 

 

(Ausführliche Informationen bietet das Buch :"Bad Keinen und die Erschießung von Wolfgang Grams", Hrsg.:ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam, 1994).

 

Trier 07.07.95

 

Am 7. Juli fand im Orli-Torgau-Zentrum / Trier eine Veranstaltung mit Menschen aus der Prozeßgruppe Wiesbaden zum laufenden Prozeß gegen Birgit Hogefeld statt. Gekommen waren 20 Menschen aus einem eher breiten politischen Spektrum. Die Veranstaltung dauerte ca. drei Stunden. Der Rahmen der Veranstaltung ermöglichte es, sich durch Diskussion und genaueres Nachfragen ausführlich mit Birgits Situation im Knast und mit dem Prozeß insgesamt auseinanderzusetzen. Das Themenspektrum ging von den Anklagekonstruktionen der BAW bis zu den Problemen, eine solidarische Öffentlichkeit innerhalb der Linken und auch darüber hinaus zu mobilisieren. Nach unserer Einschätzung ist die Veranstaltung trotz des kleinen Rahmens erfolgreich gewesen: es war möglich, in einer offenen Atmosphäre zu genaueren Einschätzungen zu kommen und damit einen Anstoß für eine weitergehende Diskussion in der Stadt zu geben.

 

Die Veranstaltungsgruppe

 

Anmerkung: Ein Teil des Redebeitrags zur Trierer Veranstaltung soll in Info 7 abgedruckt werden.


27.06.95: Am Grab von Wolfgang Grams

 

Am 27.6. fanden sich am Grab von Wolfgang Grams in Wiesbaden die Eltern, Marianne Hogefeld, FreundInnen und GenossInnen ein, um an den Menschen zu denken, der vor zwei Jahren gleichsam vor den Augen der Öffentlichkeit hingerichtet wurde und dem dann durch lügenhafte Konstrukte unterstellt wurde, Selbstmord begangen zu haben. Mindestens zwei unparteiische, glaubhafte Zeugen bestätigen, daß einer von den zahlreichen mit Pistolen und Maschinengewehren bewaffneten Polizisten zu dem schwerverwundeten, auf den Gleisen liegenden Wolfgang Grams sprang, diesem die Pistole an die Schläfe hielt und abdrückte.

Die beiden klaren Zeugenaussagen wurden beiseite geschoben, die zahlreiche Polizisten auf dem Bahnsteig, die den Mord nicht bezeugen wollen, den Selbstmord nicht bezeugen können, werden nicht belangt.

Beim Prozeß gegen Birgit geschieht umgekehrt das Unerhörte, daß ZeugInnen, die am Anfang aus frischer Erinnerung klar und deutlich sagten, daß Birgit keine Ähnlichkeit hat mit der Käuferin des Tatfahrzeugs oder mit der Person, die den Pimental aus dem Western Saloon begleitete, nach 10 Jahren nochmals mit Fragen, Verhören, psychischem Druck, neusortierten Bildern, Videos und manipulativen Gegenüberstellungen so beeinflußt werden, daß sie jetzt nicht mehr ausschließen können, daß Birgit wahlweise die Käuferin des Tatfahrzeugs oder die Begleiterin von P. gewesen sein soll.

Die Soldaten vom Western Saloon und die Polizisten auf dem Bahnsteig sind auf jeden Fall dem kapitalistischen Rechtsstaat verpflichtet.

Auch die philosophisch tröstenden bzw. nachdenklichen Texte konnten die bedrückte Stimmung nicht auflösen, die aus der etwas ratlosen Unverbundenheit der Anwesenden resultiert haben mag wie aus der Einsicht in die versäumten Proteste gegen die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, die mit dem Tod von Wolfgang Grams verbunden sind.


Technics und Hinweise

 

Das Prozeßinfo wird in Wiesbaden gemacht. Beiträge möglichst als Diskette auf Word for Windows 06 (oder 02). Bei Zusendung von Beiträgen, die nicht auf Diskette sind, bitte unbedingt hochwertige Kopien feritgen !

Des öfteren besteht eine Möglichkeit zum Einskannern, so daß uns bei guter Vorlagenqualität unnötige Eintipparbeit erspart wird.

 

Material: Zeitungsberichte und Artikel und Beiträge aus linken Zeitschriften und Organen zum Prozeß und zu Birgit Hogefeld sind in Wiesbaden stes nur zufällig oder aufgrund von Zusendungen verfügbar. So liegt auch der Zeitartikel, auf den die Zuschrift zu Info 2 + 3 Bezug nimmt, hier nicht vor. Wir bitten um Unterstützung durch Materialübermittlung. Die Annahme, bestimmte Artikel seien mit Sicherheit hier, ist fast immer falsch. Vielen Dank !

 

Adresse: InfoAG zum Prozeß gegen B. Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Telefon nur: freitags 18- 20 Uhr: 0611 / 44 06 64

Da manchmal Prozeßtermine ausfallen, ist es vor allem für Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der InfoAG anzurufen.

 

Vertrieb:

Die Nr. 6 wird verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Fax: 030 / 6949354

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

n Weitere regionale VerteilerInnen werden gesucht, um hier in der Liste als Verteilstelle aufgeführt zu werden.

n InteressentInnen für die Zusendung von Einzelexemplaren wenden sich an eine dieser Adressen in ih rer Nähe, nicht nach Wiesbaden (Geld jeweils beifügen !)

 

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

 

Veranstaltungen zum Prozeß:

Montag, 21. August 1995, 19 Uhr: Göttingen

T-Keller, Geismar-Land-Str. 19

mit Rechtsanwältin Ursula Seifert, Frankfurt

Veranstalterin: bunte / lila hilfe

 

Druckkosten des Info: Dringender Appell:

Der Druck des Infos wurde in Vergangenheit des öfteren kostenlos ausgeführt. Ab Info 7 müssen wir einen

Verkaufspreis festlegen. Darüberhinaus kann Info 7 nur gedruckt werden, wenn mindestens 1500 DM als Druckkostenvorschuß verfügbar sind.

Wir erwarten deswegen von allen Weiterverteilstellen, daß sie bei Verbreitung des Info Nr. 6 Geld sammeln und dieses bis 15. August 1995 auf folgendes Konto einzahlen:

Linke Projekte e.V., Wiesbaden, Wiesbadener Volksbank: Kto-Nr: 9 314 407, Bankleitzahl: 510 900 00

Stichwort: "InfoAG" Einzelpersonen müssen den Spendenaufruf nicht überhören !

Für Abo-Kosten werden wir in Info 7 eine andere Bankverbindung benennen.

 

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todfesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:

Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228