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Inhaltsverzeichnis Inhalt Die Temporäre Autonome Zone Aufwärts

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Die Psychotopologie des Alltagslebens

Das Konzept der TAZ ensteht zunächst aus einer Kritik von Revolution und einer Würdigung der Insurrektion. Letztere ist laut Revolution zum Scheitern verurteilt. Aber für uns stellt der Aufstand - aus dem Blickwinkel der Psychologie der Befreiung - eine weitaus interessantere Möglichkeit dar als all die »erfolgreichen« Revolutionen von Bourgeoisie, Kommunisten, Faschisten usw.¶

Die zweite Triebkraft der TAZ entspringt der historischen Entwicklung, die ich als »Vollenden der Karte« bezeichne. Das letzte Stückchen Erde, auf das noch kein Nationalstaat Anspruch erhoben hatte, wurde 1899 verschlungen. Unser Jahrhundert ist das erste ohne terra incognita, ohne unerschlossenes Gebiet. Nationalität ist das höchste Prinzip der Weltbeherrschung - nicht ein Felspartikel in der Südsee kann offen gelassen werden, nicht ein abgelegenes Tal, nicht einmal der Mond und die Planeten. Das ist die Apotheose des »territorialen Gangstertums«. Nicht ein Quadratzentimeter der Erde ohne Polizei oder ohne Steuer ... so die Theorie.¶

Die »Karte« ist ein politisch abstraktes Gitternetz, ein gigantischer Schwindel, vom »Experten« Staat per Konditionierung über alle möglichen Institutionen durchgesetzt, bis für die meisten von uns die Karte zum nationalstaatlichen Territorium wird - aus »Turtle Island« »die USA« werden. Da jedoch die Karte eine Abstraktion ist, kann sie die Erde nicht im übereinstimmenden Maßstab bedecken. Innerhalb der fraktalen Verflechtungen aktueller Geographie kann die Karte nur dimensionale Gitternetze erfassen. Versteckte Unermeßlichkeiten entgehen der Meßrute. Die Karte ist nicht genau; die Karte kann nicht genau sein.¶

Also - die Revolution ist zuende, der Aufstand allerdings möglich. Wir konzentrieren unsere Kraft auf temporäre »Machtwellen« und vermeiden jegliche Verwicklung in »permanente Lösungen«.¶

Und - die Karte ist vollendet, die temporäre Zone eine offene Möglichkeit. Bildlich gesprochen, entsteht sie innerhalb der fraktalen Dimensionen, die der Kartographie der Kontrolle unsichtbar sind. Und hier sollten wir das Konzept der Psychotopologie (und -topographie) als eine alternative »Wissenschaft« zur Vermessung und Kartenerstellung durch den Staat und dem »psychischen Imperialismus« vorstellen. Nur die Psychotopographie kann Karten im Maßstab von 1:1 zeichnen, da nur der menschliche Geist über genügend Komplexität verfügt, das Reale zu modellieren. Aber eine Karte im Maßstab von 1:1 kann ihr Territorium nicht »erfassen«, da sie im Grunde genommen mit ihrem Territorium identisch ist. Sie dient nur dazu, auf bestimmte Merkmale hinzuweisen. Wir suchen nach »Räumen« (geographischen, sozialen, kulturellen, imaginären), die potentiell als autonome Zonen erblühen können - und wir suchen nach »Zeiten«, in denen diese Räume relativ offen sind, entweder wegen der Nachlässigkeit seitens des Staates, oder weil sie den Kartographen - aus welchen Gründen auch immer - entgangen sind. Psychotopologie ist die Kunst, potentielle TAZen aufzuspüren

Die Revolution ist be-, die Karte vollendet. Dies sind jedoch nur die negativen Quellen der TAZ. Es bleibt einiges über die positiven Inspirationen zu sagen. Reaktion allein kann nicht die Energie freisetzen, die benötigt wird, eine TAZ zu »manifestieren«. Ein Aufstand kann nicht nur gegen, sondern muß auch für etwas sein.¶

1. Erstens können wir von einer natürlichen Anthropologie der TAZ sprechen. Die Kernfamilie ist die Basiseinheit der Gesellschaft, sie fußt auf diesem Konsens, nicht aber die TAZ. (»Familien! - wie ich sie hasse! Die Armseligen der Liebe!« - Gide) Die Kernfamilie mit dem dazugehörigen »ödipalen Elend« scheint eine neolithische Erfindung zu sein, eine Reaktion auf die »agrarische Revolution« mit ihrem auferlegten Mangel und der aufoktroyierten Hierarchie. Das paläolithische Modell ist sowohl ursprünglicher wie auch radikaler: die Horde. Die typische Jäger/Sammler-, nomadische oder semi-nomadische Horde besteht aus ungefähr 50 Leuten. Innerhalb größerer tribaler Gesellschaften wird die Horden-Struktur von Clans innerhalb des Stammes erfüllt, oder durch Sodalitäten wie initiatische oder Geheim-, Jagd- oder Kriegsgesellschaften, Gendergesellschaften, »Kinderrepubliken« und so weiter. Wird die Kernfamilie durch Mangel produziert (und führt zu Geiz), wird die Horde durch Überfluß produziert (und resultiert in Verschwendung). Die Familie ist geschlossen, durch Genetik, durch des Mannes Besitz von Frauen und Kindern, durch die hierarchische Totalität der agrarischen/industriellen Gesellschaft. Die Horde ist offen - nicht für jede(n) natürlich, aber für die verwandte Gruppe, die auf Solidarität und Liebe Eingeschworenen. Die Horde ist nicht Teil einer umfassenderen Hierarchie, sondern vielmehr Teil einer horizontalen Struktur von Sitten, erweiterter Verwandtschaft, von Vertrag und Allianz, spirituellen Ähnlichkeiten usw. (Amerikanische indianische Gesellschaften haben gewisse Aspekte dieser Struktur bis zum heutigen Tag bewahrt.)¶

In unserer eigenen post-spektakulären Gesellschaft der Simulation arbeiten viele Kräfte - weitgehend unsichtbar - daran, der Kernfamilie ein Ende zu bereiten und zur Horde zurückzukehren. Veränderungen in der Arbeitsstruktur erschüttern die »Stabilität« des Einzel-Heimes und der Einzel-Familie. Zur eigenen »Horde« gehören heutzutage Freundinnen/Freunde, Ex-Gattinnen/-gatten und Ex-Liebhaberinnen/-Liebhaber, Leute, denen man in verschiedenen Jobs und auf politischen Versammlungen, in Interessengruppen, Netzwerken, Mailnetworks etc. begegnet ist. Die Kernfamilie wird ganz augenfällig mehr und mehr zur Falle, ein kulturelles Schlundloch, eine neurotische, geheime Implosion gespaltener Atome - und die offensichtliche Gegenstrategie entsteht spontan in der fast unbewußten Wiederentdeckung der archaischeren und dennoch eher post-industriellen Möglichkeit der Horde.¶

2. Die TAZ als Festival. Stephen Pearl Andrews hat einmal als Bild für die anarchistische Gesellschaft die Dinner Party gewählt, bei der jegliche Autoritätsstruktur sich in Konvivialität und Zelebration auflöst (siehe Anhang C). Wir könnten hier auch Fourier und seine Auffassung von den Sinnen als Basis des gesellschaftlichen Werdens beschwören - »touch-rut« und »Gastrosophie« - und sein Päan auf die vernachlässigten Implikationen von Geruch und Geschmack. Die alten Vorstellungen von Jubelfesten und Saturnalien haben ihren Ursprung in der Intuition, daß gewisse Dinge sich jenseits »profaner Zeit« ereignen, jenseits des Zeitmaßes von Staat und Geschichte. Diese Feiertage haben buchstäblich Leerstellen im Kalender okkupiert - interkalare Intervalle. Im Mittelalter waren fast ein Drittel aller Tage Feiertage.¶

Die Auseinandersetzungen anläßlich der Kalenderreform hatten vielleicht ihren Ursprung nicht so sehr in den »verlorenen elf Tagen«, sondern vielmehr in der Ahnung, daß die imperiale Wissenschaft sich anschickte, die Lücken im Kalender zu schließen, in denen sich der Leute Freiheit akkumuliert hatte - ein Coup d'Etat, ein Kartographieren des Jahres, eine Eroberung von Zeit, wodurch der organische Kosmos in ein Universum des Uhrwerks verwandelt wurde. Damit starb das Festival.¶

Die Aufständischen wissen stets um den Festcharakter der Insurrektion, selbst mitten im bewaffneten Kampf, bei Gefahr und Risiko. Der Aufstand gleicht Saturnalien, die sich von den interkalaren Intervallen gelöst haben (oder zu verschwinden gezwungen waren) und nun die Freiheit haben, sich irgendwo und jederzeit zu ereignen. Zeitlich und räumlich frei, hat er nichtsdestotrotz einen Riecher dafür, ob die Situation reif ist, und ist dem genius loci verwandt. Die Wissenschaft der Psychotopologie markiert »Kraftströme« und »Energiepunkte« (um es in okkulten Begriffen auszudrücken), wodurch die TAZ raumzeitlich lokalisierbar wird und ihre Beziehung zu Augenblick und Schauplatz besser definiert werden kann.¶

Die Medien fordern »Kommt und genießt Euer Leben« und vereinen doch nur Ware und Spektakel, das bekannte Nicht-Ereignis purer Repräsentation. Gegen solche Obszönität verfügen wir über ein ganzes Spektrum an Verweigerungshaltungen (wie sie von den Situationisten, von John Zerzan, Bob Black et al. überliefert wurden) - und über eine Festkultur, die der Aufmerksamkeit der Möchtegernmanager unserer Muse entzogen und verborgen bleibt. »Fight for the right to party« ist in der Tat keine Parodie auf den radikalen Kampf, sondern eine neue Manifestation dessen. Angemessen einer Zeit, die TVs und Telephone als Möglichkeiten offeriert, anderere Menschen »zu erreichen und zu berühren«. »Sei da!«.¶

Pearl Andrews hatte recht: die Dinner Party ist bereits »die Saat der neuen Gesellschaft, die in der Hülse der alten Gestalt annimmt« (IWW-Präambel). Die »Stammeszusammenkünfte« der sechziger Jahre, die Waldkonklaven von Öko-Saboteuren, das idyllische keltische Maifest Beltane der Neo-Heiden, anarchistische Konferenzen, schwule Märchenzirkel ... Harlem Rent Parties der zwanziger Jahre, Nachtclubs, Bankette, libertäre Picknicks der alten Zeit - wir sollten verstehen, daß all diese in gewisser Weise bereits »befreite Zonen« waren, zumindest potentielle TAZen sind. Ob nun offen für ein paar Freunde, wie im Falle einer Dinner Party, oder für tausende von Feiernden, wie bei einem Be-In, die Party ist immer »offen«; sie mag geplant sein, wenn sie sich aber nicht »ereignet«, ist sie ein Fehlschlag. Das Element der Spontaneität ist entscheidend.¶

Das Wesentliche der Party: von Angesicht-zu-Angesicht, eine Gruppe von Menschen agiert synergetisch, um die Wünsche der Einzelnen zu befriedigen, entweder die nach gutem Essen oder Spaß, Tanz, Konversation, Lebenskunst, vielleicht sogar die nach erotischem Vergnügen oder nach Vollendung eines gemeinsamen Kunstwerkes oder nach Seligkeit, kurz, eine »Union von Egoisten« (laut Stirner) in ihrer einfachsten Form oder aber, in Kropotkinschem Sinne, eine grundlegende Triebkraft in Richtung »gegenseitiger Hilfe«. (Wir sollten hier auch Batailles »Ökonomie der Verschwendung« und seine Theorie der Potlatch-Kultur erwähnen.)¶

3.Lebenswichtig zur Gestaltung der TAZ-Realität ist das Konzept des psychischen Nomadismus (oder des »wurzellosen Kosmopolitanismus«, wie wir es spaßeshalber nennen). Aspekte dieses Phänomens wurden von Deleuze und Guattari in Nomadology and the War Machine, von Lyotard in Driftworks und von verschiedenen anderen Autoren in der »Oasos«-Ausgabe von Semiotext(e) diskutiert. Wir gebrauchen hier den Terminus »psychischer Nomadismus« statt »urbaner Nomadismus«, »Nomadologie«, »Driftwork« usw., um all diese Konzepte in einem losen Komplex zusammenzufassen, der im Lichte der entstehenden TAZ zu studieren wäre.¶

»Der Tod Gottes«, in gewisser Weise eine De-Zentrierung des gesamten »Europäischen Projektes«, eröffnete eine vielschichtige post-ideologische Weltsicht, die »wurzellos« von Philosophie zu Stammesmythen, von Naturwissenschaft zum Taoismus wandern kann - fähig ist, erstmals mit den Augen eines goldenen Insektes zu sehen, wobei jede Facette den Blick auf eine gänzlich neue Welt eröffnet.¶

Aber der Preis für diese Vision war das Leben in einer Epoche, in der Geschwindigkleit und »Warenfetischismus« eine tyrannische falsche Einheit gebildet haben, die dazu tendiert, kulturelle Vielfalt und Individualität zu verwischen, so daß »ein Ort so gut wie der andere ist«. Dieses Paradox produziert »Zigeuner«, psychisch Reisende, die von Begierden und Neugier getrieben werden, Wanderer mit schwachen Loyalitäten (disloyal gegenüber dem »Europäischen Projekt«, das all seine Anziehungskraft und Vitalität verloren hat), die nicht an Ort und eine Zeit gebunden und auf der Suche nach Vielfalt und Abenteuer sind ... Diese Beschreibung trifft nicht nur auf x-klassige Künstler und Intellektuelle zu, sondern auch auf Arbeitsmigranten, Flüchtlinge, die »Obdachlosen«, Touristen, die Wohnmobilkultur - auch Leute, die via Netz »reisen«, ihre eigenen Zimmer aber nie verlassen (oder diejenigen - wie Thoreau -, die »viel gereist sind - in Konkordia«); und schließlich trifft sie auf »jede(n)« zu, auf uns alle, die wir mit unseren Automobilen, unseren Ferien, unseren TVs, Büchern, Filmen, Telefonen, Jobwechseln, wechselnden »Lifestyles«, Religionen, Diäten etc. etc. leben.¶

Psychischer Nomadismus als Taktik, Deleuze & Guattari sprechen metaphorisch von »der Kriegsmaschine«, verschiebt das Paradox von einem passiven zu einem aktiven und vielleicht sogar »gewaltsamen« Modus. »Gottes« finale Zuckungen und letztes Totenbettgeklapper dauern nun schon so lange an - in Form des Kapitalimus, Faschismus und Kommunismus zum Beispiel -, daß immer noch eine Menge an »kreativer Destruktion« durch post-bakuninistische post-nietzscheanische Kommandos oder Apachen (wörtlich »Feinde«) am alten Konsensus zu leisten bleibt. Diese Nomaden praktizieren die Razzia, sie sind Korsare, sie sind Viren; sie brauchen und wünschen TAZen, Lager schwarzer Zelte unter den Wüstensternen, Interzonen, versteckte befestigte Oasen an geheimen Karawanenrouten, »befreite« Flecken des Dschungels und des Ödlandes, No-Go-Gebiete, Schwarzmärkte und Untergrundbasare.¶

Diese Nomaden richten ihre Reisen nach seltsamen Sternen aus, die luminöse Datencluster im Cyberspace oder vielleicht auch Halluzinationen sein können. Breite eine Landkarte aus, darüber eine Karte der politischen Veränderung; darüber, eine Karte des Netzes, besonders des Gegen-Netzes mit der Hervorhebung klandestiner Informationsströme und Logistik - und breite zum Schluß dann, über alles, die Karte der kreativen Imagination, Ästhetik und Werte im Maßstab von 1:1. Das entstehende Gitter wird lebendig, animiert von unerwarteten Energiewirbeln und -strömen, Lichteruptionen, geheimen Tunneln, Überraschungen.¶



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