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Wed Sep 25 23:27:17 1996
 

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Öffentlichkeit und Klandestinität

Paradoxe Konstellationen im radikal-Verfahren

Es war ein Moment von beeindruckender Kühnheit und Klarheit, als der Sprecher der Bundesanwaltschaft, Rolf Hannich, im Fernsehen erklärte, warum die verfolgte Zeitschrift radikal zwar eine kriminelle Vereinigung darstellen soll, aber eben keine Zeitung: Eine Zeitung, teilte der als Medienexperte reüssierende Sprecher der Bundesanwaltschaft der interessierten Öffentlichkeit mit, wird am Kiosk verkauft, sie hat ein ordentliches Impressum, ihre Redakteure treffen sich öffentlich, und ihre Vertriebswege sind transparent, d.h. ständig vom zuständigen Landeskriminalamt zu überwachen. Einmal abgesehen davon, daß FAZ, Spiegel oder Stern sich wohl bedanken würde, wenn ihre Redaktionskonferenzen künftig öffentlich stattfinden müßten, ist bemerkenswert, wie die oberste Strafverfolgungsbehörde versucht, ihr Tätigkeitsfeld deutlich auszudehnen.
Nach landläufigem Verständnis werden Staatsanwälte (gut) dafür bezahlt, Verstöße gegen das Strafgesetzbuch zu ahnden - und nicht sich Gedanken zu machen. Schon gar nicht Gedanken darüber, was das Wesen und Unwesen einer Zeitung ausmacht, wann ein Haufen gedruckter Blätter zu einer solchen wird und was wir uns unter einer Nicht-Zeitung, die wie radikal dennoch unter das Umsatzsteuergesetz fallen soll, denn sonst so vorzustellen haben.
Der Einfall des vor seinen Aktenordnern plazierten Sprechers Hannich, dem der Platz vor dem Bundesadler verwehrt war, "weil da nur der Chef stehen darf", sich ein bißchen weiter auf gesellschaftliches Terrain vorzuwagen, als es seines Amtes sein sollte, kommt dennoch nicht von ungefähr. Und es ist wahrscheinlich auch kein Einfall, für den er selbst verantwortlich zeichnet: Das gesamte Verfahren gegen radikal ist durchzogen vom Bemühen der Justiz, zu definieren, wie einerseits Öffentlichkeit beschaffen sein soll, damit ihr eine staatsanwaltschaftliche Existenzberechtigung zugesprochen werden kann, und welche Reservate andererseits den Individuen zugestanden werden, in denen sie sich ohne staatliche Aufsicht sicher wähnen können.
Es mag zwar nicht unbedingt geplant gewesen sein, daß der erste große Lauschangriff auf (polizei-)gesetzlicher Basis, dessen Ergebnisse in einem Strafprozeß verwertet werden sollen, gegen radikal durchgeführt worden ist. Auch wenn die Staatsschutzattacke ursprünglich nicht gegen das linksradikale Zeitungsprojekt gerichtet war, sondern gegen die RAF bzw. einen Kreis von Leuten, die über die Politik der militanten Organisation diskutieren wollten, zielte er doch darauf, einen kommunikativen Prozeß umzuwidmen und aus der internen Selbstverständigung einen Zitaten-Fundus für Anklageschriften zu machen. Dabei kommt es nicht auf die Strafbarkeit der einzelnen Äußerungen an, sondern auf den Zusammenhang, in den sie gestellt werden - als "kriminelle Vereinigung" ist jede Gruppe von Menschen zu jeder Zeit vogelfrei. Daß sie sich treffen und - wie auch immer - reden, ist schon der Beweis, der ausreicht, die Ermittlungen zu einem Ergebnis zu führen.
Das Interesse des Apparats, die interne Auseinandersetzung in einen Akt der Selbstbelastung umzuwidmen, ist dabei durch ein hohes Maß an krimineller Energie und Hartnäckigkeit geprägt. Beamte des Landeskriminalamtes mußten in ein Haus einbrechen; dort waren Abhörmikrofone einzusetzen. Trotz anschließender monatelanger Mißerfolge wurden die Abhörarbeiten fortgesetzt, die ums Haus plazierten DAT-Recorder wurden gewartet, die Lizenz zum Lauschen mußte mehrfach erneuert werden - bis dann schließlich die stundenlangen Diskussionen eines Treffens auf Band gebannt waren, das seitdem als radikal-Treffen angesehen wird. Die Redaktionskonferenz, so es denn eine war, wurde von den Sicherheitsbehörden, ganz im Sinne Hannichs, so zwangsweise zugänglich gemacht, sie wurde aus ihrem privaten Rahmen gelöst und öffentlich gemacht, öffentlicher als jede andere Redaktionskonferenz seit Wallraffs Aufenthalt bei BILD. Die Veröffentlichung der Ansichten aus dem Inneren der auflagenstärksten Tageszeitung, die erhellen konnten, wie aus uninteressanten Meldungen Sensationen gefälscht und frisiert werden, wurde damals allerdings in letzter Instanz vom Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen die Pressefreiheit bewertet: "Wenn die Vertraulichkeit nicht gewährleistet ist, wird auch nicht offen gesprochen. Wo deren Vertraulichkeit nicht gesichert ist, wird es spontane, 'ins Unreine' gesprochene, möglicherweise verfehlte, gleichwohl die Diskussion fördernde Äußerungen kaum noch geben; eine Redaktion, in der es keine freie Rede gibt, wird aber schwerlich das leisten, was sie soll ..." - radikal ist nicht BILD, und was sie will, soll sie ja gerade nicht - weder schwerlich noch leichthin - weswegen es folgerichtig ist, daß der Staatsapparat sich hier jede nur erdenkliche Mühe gibt und erhebliche Anstrengungen unternimmt, zu verhindern, daß die Vertraulichkeit der Worte von RedakteurInnen gewährleistet, daß die Rede frei bleibt, in deren Verlauf vielleicht verfehlte, gleichwohl die Diskussion fördernde Äußerungen getätigt werden könnten. Dabei hätte wohl gar nicht unter Zuhilfenahme klandestiner, geheim-polizeilicher Methoden erforscht werden müssen, was in der radikal-Redaktion denn so im kleinen Kreise geredet und gedacht wird. Wenige Wochen später ist das meiste davon, inklusive der internen Auseinandersetzungen, zu erinnern ist nur an den Auszug der Frauenfraktion Skoda aus dem Projekt, ja ohnehin in dem Blatt nachzulesen, das überdies jahrelang versucht hat, die Kriterien für eine Zeitung zu erfüllen, was der Apparat bekanntlich engagiert sabotiert hat. Aber es geht den abhörenden Behörden weniger um das "Was" der Diskussion, als um das "Wie" und um das "Wer". Denn die angeblich begangene Straftat braucht nicht enthüllt zu werden - sie soll, vor allem nach dem Willen derer, die sie angeblich begehen, so öffentlich präsent sein, wie es nur geht: Nur die, die Umstände ihrer Produktion ans Tageslicht zu bringen versuchen, mühen sich die radikal selbst in Sphären zu verdrängen, in denen auch die LeserInnen nur noch Zugang durch eine dem Lauschangriff vergleichbare klandestine Anstrengung haben sollen. Der große Lauschangriff zerstört also die Vertraulichkeit der einen Worte, um die Veröffentlichung der anderen zu unterbinden. Passenderweise ist schon seine legale Konstruktion ein Paradoxon. Die Abhörmaßnahmen in privaten Wohnungen sind nur "zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten" erlaubt - bekämpft soll also werden, was noch gar nicht existiert, und nur das. Denn die Verfolgung bereits begangener Straftaten wird durch die Strafprozeßordnung geregelt, die (noch) keinen Lauschangriff dieser Qualität erlaubt. Die Präventionsmaßnahme erweist sich als totalitäres Instrument, gegen das nur helfen würde, was zu erreichen ihm gelegen käme: Schweigen. Der große Lauschangriff, gerichtet gegen ein Projekt, das öffentlich angetreten war und schließlich nur noch durch sein Verschwinden aus der herrschenden Öffentlichkeit sein Verschwinden aus dem politischen Leben überhaupt verhindern konnte, ist auch Ausdruck der heillosen Situation in diesem Verfahren: Der Staatsapparat geht so konspirativ vor, wie er es seinen GegnerInnen unterstellt - so wie vermummte Festnahmetrupps und anonymisierte GSG-9 Beamte, deren Namen nicht einmal mehr den Behörden anvertraut werden, als ultima ratio im Kampf zur Durchsetzung des Vermummungsverbots gelten.
An die Stelle vermuteter Tyrannei der Intimität setzt der Staatsapparat mit dem Lauschangriff die fürsorgliche Belagerung; und der Klage der Linken, die repressive Toleranz lasse öffentliches Engagement ins Leere laufen, wird damit endlich erleichtert das Füllhorn der reinen Repression übergestülpt. Das dumpfe Echo verhallt immerhin nicht ungehört. Aber auf die schwachen, immerhin aber registrierbaren öffentlichen Reaktionen hat der starke Staat konsequente Antworten parat.
Den Antrag, ein Interview mit einem der zu diesem Zeitpunkt inhaftierten angeblichen radikal-Mitarbeiter führen zu können, bescheidet der Generalbundesanwalt am 17. August 1995 abschlägig: Die öffentliche Ausstrahlung des Interviews könnte "Verdunklungshandlungen" Vorschub leisten. "Daneben würde dem Untersuchungsgefangenen ein Forum geboten, durch verzerrende Darstellungen, Solidaritätsappelle und Werbeparolen die kriminelle Vereinigung zu stärken und ihren Fortbestand zu fördern. (Es) besteht somit die erhebliche Gefahr, daß die Gewährung des Interviews im ergebnis zu einer mit dem Zweck des Strafverfahrens unvereinbaren Fernsehwerbung für 'radikal' führen würde." Der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof macht sich in seinem abschlägigen Bescheid vom 14. September 1995 diese Argumentation zu eigen und ergänzt: "Angesichts der von den Tatbeteiligten bisher praktizierten Konspirativität ist zu befürchten, daß der Beschuldigte die Gelegenheit zu einer öffentlichen, breit gestreuten und von den Angehörigen des linken Spektrums mit Aufmerksamkeit verfolgten Äußerung im Rahmen eines Fernsehinterviews zur Übermittlung verdeckter Nachrichten mißbraucht ... Der vorliegende Fall hat kein 'weltweites Aufsehen' erregt. Die interessierte Öffentlichkeit beschränkt sich (inzwischen) vorwiegend auf die Angehörigen des linken und linksextremistischen Spektrums, die sog. Sympathisantenszene. Dieses Interesse überwiegt die staatlichen Belange an einem ungehinderten Abschluß der Ermittlungen im Bereich des vorliegenden Verfahrens nicht."
Korrespondierend zu diesen Beschlüssen werden in Lübeck, Neumünster und Bielefeld von den Behörden Auflagen für Demonstrationen an den Knästen verhängt, die einem Verbot gleichkommen: Auch der Gebrauch von Megaphonen soll ein Mittel zur "Verdunklung" sein, und die lautstarken Parolen die Gefahr "verdeckter Nachrichtenübermittlung" erheblich befördern.
Jede Form von Öffentlichkeit, die sich nicht eindeutig auf die Seite der Ermittler schlägt, soll also Teil einer großangelegten Verdunklungskampagne sein. Je mehr Menschen eine Information oder Stellungnahme zugänglich wird, als desto größer gilt die Gefahr, sie stelle in Wirklichkeit eine verdeckte Nachrichtenübermittlung dar. Die ungeschützte Mitteilung gerät so zur Fortsetzung der Konspirativität mit geeigneteren Mitteln, die Öffentlichkeit wird fein säuberlich in die große "weltweite" und die kleine "sympathisierende" sortiert ... Ein kleines Lehrstück über die Biegsamkeit der Begriffe durch die Macht, das aber weitgehend unbemerkt gegeben wird. Denn die wirkliche, die weltweite Öffentlichkeit hat sich vom Geschehen, nachdem die ersten Pressemitteilungen versendet worden sind, tatsächlich längst abgewandt. Die Kommunikation der vermeintlich oder tatsächlich Linksradikalen ist auch ihr suspekt - ein Anlaß zum voyeuristischen Seitenblick, mehr nicht. Die wirkliche, die weltweite Öffentlichkeit - das ist hierzulande stärker als je zuvor ein Produkt der Medien, der privaten wie der öffentlich-rechtlichen. Und so wie der Staatsschutz seine Mittel verfeinert, die private Sphäre unter Kontrolle zu nehmen, konzentrieren sich auch die Medien zunehmend auf die Bereiche des Lebens, die eigentlich ihren Platz nicht vor der Kamera haben. Die Talkshows machen das Intimleben zum Gegenstand allgemeinen Geredes, die Game-Shows spulen Alltägliches ab, und auch in den Politmagazinen gewinnt die greifbare, konkrete Story, das Einzelschicksal, das individuell beeindruckt oder entsetzt, an Boden. Die Linke, angetreten mit der Parole, das Private als politisch zu verstehen, verliert heute immer mehr ihre Möglichkeiten, mit ihren Themen überhaupt die Öffentlichkeit zu erreichen: Das Politische wird unter diesen Verhältnissen zur Privatsache. Das, was Mitte und Ende der 70er Jahre aus einer ganz anderen, aber ebenfalls marginalisierten Situation heraus als "Gegenöffentlichkeit" entwickelt worden ist, ist längst Teil dieser Entwicklung: Aufgespalten in "Öffentlichkeit" (taz, stadtmagazine u.ä.) und "Gegen"-Medien (radikal) sind die Fraktionen ihrer unterschiedlichen Wege gegangen, die eines immerhin gemeinsam haben: Sie passen sich (freiwillig und unfreiwillig) gut in die deutsche Landschaft ein und zerklüften sie nicht.
In Stellungnahmen hat die radikal Auseinandersetzung eingefordert. Nicht der Staatsschutz, hieß es, könne darüber entscheiden, ob es das Blatt weitergebe, sondern die Linke selbst müsse ihren Bedarf klären. Das Schweigen darauf war eine Antwort. Die, für die gegenwärtig miserablen Verhältnisse, ungewöhnlich starke Solidarität gegen diese Kriminalisierung war die andere. Weitermachen, aber nicht so, zumindest nicht nur so - das könnte eine Konsequenz sein, die aus diesem Widerspruch zu ziehen ist. (Das hat übrigens weniger mit der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen radikal zu tun - sie ist nicht nur besser als keine radikal, sondern auch eines der wenigen fraktionsübergreifenden Medienprojekte überhaupt). Wie aber sonst? Die Antwort darauf kann nur Ergebnis einer neuerlichen Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen von Öffentlichkeit und mit deren Funktionsweisen sein.
Vom instrumentellen Umgang der letzten Jahre, der für ausreichend hielt, in der akuten Notsituation Einzelgespräche mit befreundeten Journalisten zu führen und ansonsten darauf zu vertrauen, die eigenen Aktionen seien schon spektakulär genug, den Weg in die "Tagesschau" zu schaffen, kann jedenfalls leichthin Abschied genommen werden. Auch die Gleichsetzung von Medien und Öffentlichkeit ist angesichts des veränderten Charakters der Medien immer weniger angemessen. Dafür erscheint es notwendig herauszufinden, wie die desorganisierte Linke sicherstellen kann, daß als Minimalvoraussetzung für ein Handeln, das die äußeren AdressatInnen erreicht, ihre eigene Auseinandersetzung für eine innere Öffentlichkeit transparent und zugänglich organisiert wird. Der Versuch, eine interne Debatte öffentlich zu organisieren, auch das verdient festgehalten zu werden, ist aber etwas gänzlich anderes als der Versuch, die Linke oder beliebig große/kleine Segmente von ihr zu organisieren. Während ersteres bestenfalls zu einer offenen Auseinandersetzung führt und damit ein kleiner Fortschritt in Richtung Erneuerung ist, hat letzteres gerade den Effekt, durch die Vorgabe eines klaren Ziels die Kreise zu schließen - was gerade verhindert, daß eine, wie auch immer bestimmte Öffentlichkeit geschaffen wird.
Oliver Tolmein