Mexiko GmbH

Die Wahlen


Der Löwe, der Maulwurf und andere Märchen

Die letzten Wahlen in diesem Jahrtausend

Mexiko: Der lange Übergang vom Schmerz zur Hoffnung


Dritte Lesart (muß noch begonnen werden): Im Keller des Landes liest man nicht. Der Analphabetismus hier sucht seine Lektüre an anderen Orten, liest sich selbst, man unterhält sich nach dem Gesetz der Ahnen, mit den Bildern von früher, mit Tönen voller Gestern, man kommuniziert über unterirdische Kanäle. Der Wechsel beginnt unten, sagen und wiederholen sie. Die Skepsis verschränkt nicht die Arme. Sie feilt, geduldig, die zarte Spitze der Hoffnung.


Der Löwe, der Maulwurf und andere Märchen

 

Das Märchen von den 50% und den "glatten Wahlen" schlucken nur die Gringos. (Darum ergeht es ihnen so in der internationalen Politik.) Hört! Grämt euch nicht! Ihre Taktik ist es, eine große Lüge so oft zu wiederholen, bis sie sich in Wahrheit verwandelt. Sie werden sich noch einmal irren, es wird ihnen alles unter den Füßen wegbrechen, wie im Januar. Es braucht nur einen kleinen Windstoß.

Gut. Gesundheit und ein Paar gute Lungen.

Aus den Bergen des Südostens Mexikos.

Subcomandante Insurgente Marcos

 

P.S.: Für Kandidaten mit beinahe 50% der Wählerstimmen. In dem kleinen Cassettenrecorder hört man: "Was das Leben bereithält, Mariana. Was das Leben bereithält. Je höher wir fliegen, Mariana, desto mehr schmerzt der Fall." (...)

P.P.S.: Ich soll einer Toñita eine Geschichte erzählen, die mit ihrem Plüschkaninchen, das die Vertreter des Demokratischen Nationalkonvents geschickt haben, angibt, und von dem sie mir sagt, "es piekt nicht".

Und ich tue so, als verstünde ich nicht, und beginne einfach eine Geschichte von 1985 zu erzählen, dem Jahr der Erdbeben und gesellschaftlichen Auf- und Umbrüche (die, die zum Vorschein kommen und die anderen):

Der alte Antonio jagte einen Berglöwen (der dem amerikanischen Puma sehr ähnlich ist) mit seiner alten Chimba, einer funkensprühenden Schrotflinte. Ich hatte mich ein paar Tage zuvor über seine Waffe lustig gemacht. "Diese Waffen haben sie benutzt, als Hernán Cortés Mexiko eroberte", sagte ich ihm. Er verteidigte sich. "Ja, aber sieh doch, in wessen Händen sie heute ist." Jetzt löste er die letzten Stücke des Fleisches vom Fell, um es zu gerben. Er zeigt mir das Fell voller Stolz. Es hat nicht ein einziges Loch. "Mitten ins Auge", belehrt er mich. "Das ist die einzige Art, damit das Fell keine Zeichen von Verletzung aufweist", fügt er hinzu. "Und was werden Sie jetzt mit dem Fell machen?" frage ich. Der alte Antonio antwortet mir nicht, er fährt schweigend fort, das Fell des Löwen mit seiner Machete abzuschaben. Ich setze mich neben ihn, und nachdem ich die Pfeife gestopft habe, versuche ich, ihm eine Zigarette zu drehen. Ich reiche sie ihm wortlos, er begutachtet sie und macht sie wieder auf. "Du mußt noch lernen", sagt er mir, während er sie erneut dreht. Wir setzen uns, um gemeinsam diese Rauchzeremonie abzuhalten.

Zwischen den Zügen beginnt der alte Antonio die Geschichte zu spinnen:

"Der Löwe ist stark, weil die anderen Tiere schwach sind. Der Löwe frißt das Fleisch der anderen, weil die anderen sich fressen lassen. Der Löwe tötet nicht mit den Krallen oder mit den Reißzähnen. Der Löwe tötet mit seinem Blick. Erst nähert er sich langsam ... lautlos, denn er hat Wolken in den Pfoten, die seine Laute dämpfen. Dann springt er und versetzt seinem Opfer einen Hieb, der es lähmt, mehr vor Überraschung als wegen der Heftigkeit.

Dann blickt er sie an. Er blickt seine Beute an. So - der alte Antonio runzelt die Stirn und nagelt mich mit seinen schwarzen Augen fest. Das arme Tier, das sterben wird, schaut einfach nur zurück. Es blickt den Löwen an, der es anblickt. Das Tier sieht nicht mehr sich selbst, es sieht das, was der Löwe sieht, es sieht das Bild des Tieres im Blick des Löwen, es sieht, daß es im Blick des Löwen klein und schwach ist. Das Tier hatte nie darüber nachgedacht, ob es klein und schwach war. Es war einfach ein Tier, weder groß noch klein, weder stark noch schwach. Aber jetzt sieht es in dem Blick, mit dem der Löwe es anstarrt, die eigene Angst. Und indem es sieht, wie es gesehen wird, überzeugt sich das Tier, ganz von allein, daß es klein ist und schwach. Und in der Angst, von der es sieht, daß der Löwe sie sieht, hat es Angst. Und dann sieht das Tier nichts mehr, ihm erstarren die Knochen, so wie wenn uns in den Bergen des Nachts, wenn es kalt ist, das Wasser erwischt. Und dann ergibt sich das Tier einfach so, es gibt sich auf, und der Löwe verschlingt es ohne Mitleid. So tötet der Löwe. Er tötet mit dem Blick. Aber es gibt ein Tier, das sich nicht so verhält, das den Löwen ignoriert, wenn er sich ihm in den Weg stellt, und das so fortfährt, als sei nichts geschehen, und wenn der Löwe es schlägt, antwortet es mit einem Prankenhieb seiner Pfötchen, die klein sind, aber das Blut, das fließt, schmerzt. Und dieses Tier überläßt sich nicht dem Löwen, weil es nicht sieht, daß es angesehen wird - es ist blind. âMaulwürfe' werden diese Tiere genannt."

Es scheint, als habe der alte Antonio seine Erzählung beendet. Ich wage ein "Ja, aber...". Der alte Antonio läßt mich nicht fortfahren, er erzählt die Geschichte weiter, während er eine neue Zigarette dreht. Er tut es langsam, unterbricht immer wieder, um mich anzusehen und zu prüfen, ob ich zuhöre.

"Der Maulwurf wurde blind, weil er, statt nach außen zu sehen, begann, sein Herz zu betrachten. Er ist einfach dabei geblieben, in sich hineinzuschauen. Und niemand weiß, wie der Maulwurf darauf gekommen ist, in sich hineinzuschauen. Und da ist, einfach aus Sturheit, dieser Maulwurf dabei, sein Herz zu betrachten, und dann kümmert er sich nicht um Starke oder Schwache, um Große oder Kleine, denn das Herz ist das Herz, und es wird nicht so gemessen, wie die Dinge und die Tiere gemessen werden. Und diese Fähigkeit, in sich hineinzublicken, hatten nur die Götter, und deshalb haben die Götter den Maulwurf bestraft und haben ihn nicht mehr nach außen sehen lassen. Außerdem verurteilten sie ihn dazu, unter der Erde zu leben und zu laufen. Darum lebt der Maulwurf unter der Erde, weil die Götter ihn bestraften. Und dem Maulwurf tat es nicht einmal leid, denn er blickte weiterhin in sich hinein. Und darum hat der Maulwurf keine Angst vor dem Löwen. Und auch jener Mensch hat keine Angst vor dem Löwen, der es vermag, sein Herz zu betrachten.

Denn der Mensch, der es vermag, sein Herz zu betrachten, sieht die Kraft des Löwen nicht. Er sieht die Kraft seines Herzens, und dann blickt er den Löwen an, und der Löwe sieht, daß der Mensch ihn ansieht, und der Löwe sieht in dem Blick des Menschen, daß er nur ein Löwe ist, und der Löwe sieht sich, wie er gesehen wird, und hat Angst und rennt fort."

"Und, haben Sie Ihr Herz betrachtet, um diesen Löwen zu töten?" unterbreche ich. Er antwortet: "Ich? Nein, Mann, ich habe das Visier meiner Chimba im Auge gehabt und das Auge des Löwen, und dann habe ich schon gedrückt - an das Herz habe ich nicht einmal gedacht." Ich kratze mich am Kopf, wie - so habe ich es gelernt - diejenigen es hier tun, die etwas nicht verstehen.

Der alte Antonio richtet sich langsam auf, nimmt das Fell und untersucht es sorgfältig. Dann rollt er es ein und reicht es mir. "Nimm", sagt er. "Ich schenke es dir, damit du nie vergißt, daß man den Löwen und die Angst tötet, wenn man weiß, wohin man schauen muß..." Der alte Antonio dreht sich um und geht in seine Hütte. In der Sprache des alten Antonio heißt das. "Das war alles. Auf Wiedersehen." Ich packte das Fell des Löwen in eine Plastiktüte und ging...

Toñita macht dasselbe und geht mit dem besagten Plüschkaninchen, "das nicht piekt".

Das war die Geschichte vom alten Antonio und dem Löwen. Ich habe das Fell des Löwen fortan bei mir getragen, darin war die Fahne eingewickelt, die wir dem Demokratischen Nationalkonvent übergeben haben. Wollt ihr auch das Fell?

Noch einmal. Gesundheit und ein Spiegel von denen, die dazu dienen, nach innen zu blicken...

Subcomandante Insurgente Marcos

Mexiko, August 1994

(Übersetzung: Annette von Schönfeld)


Die letzten Wahlen in diesem Jahrtausend

Ulrich Mercker

Am 21. August 1994 gab eine Mehrheit wahlberechtigter MexikanerInnen dem wohlvertrauten Schlechten, der seit 65 Jahren ununterbrochen regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), und derem Präsidentschaftskandidaten Ernesto Zedillo Ponce de León ihre Stimme. Sie folgte damit einem Sicherheitsbedürfnis, das sie am ehesten in den Händen des altbekannten Staatsapparates aufgehoben wähnte. Die Bereitschaft, sich auf unbekanntes Neues einzulassen, reichte nicht aus, um der bestens geschmierten Regierungsmaschinerie einen Wahlsieg abtrotzen zu können. Zu viele WählerInnen ließen sich im stillen, alleingelassenen Moment des Kreuzchenmachens in der Kabine von der diffusen Angst leiten, daß eine Abwahl der PRI einem Votum für Chaos und Bürgerkrieg gleichkommen würde. Weder der Kandidat des äußerst heterogenen Wahlvereins PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, noch jener der neoliberal-klerikalen PAN, Diego de Cevallos, konnten eine Gewähr dafür bieten, daß sie die jahrzehntealte eingespielte PRI-Struktur des mexikanischen Staates und seiner Gliederungen bis auf die Dorfebene reibungslos in eine neue, bessere Struktur überführen könnten. Schließlich haben sich nicht nur die Mächtigen, sondern auch die Ohnmächtigen an den Umgang mit diesem Staatsapparat gewöhnt. Man glaubt zu wissen, woran man ist, kennt potentielle Bündnispartner innerhalb des Apparates, kann über persönliche Beziehungen Einfluß geltend machen und auch eventuelle Schwachstellen ausnutzen.

Der mexikanische Politologe Jorge Castañeda hat das Dilemma dieser Wahlen mit einfachen Worten benannt: "Es gibt keinen Weg, die PRI vom Staat zu trennen, solange sie nicht verliert - es erscheint ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie verliert, solange sie sich nicht vom Staat trennt." Eine Lösung dieses fest geknüpften gordischen Knotens - die spanische Sprache legt auch noch die Assoziation von dick (gordo) nahe - zwischen Partei und Staat ist nur vorstellbar, wenn die beiden Tauenden einem durch äußere Einflüsse verursachten inneren Fäulnisprozeß ausgesetzt sind, so daß es nur noch eines leichten Hiebs bedarf, um den Knoten zu zerschlagen.

Vieles deutet darauf hin, daß ein solcher Zerfallsprozeß in vollem Gange ist. Um diesen verstehen zu können, rekapitulieren wir noch einmal kurz die Geschichte der Verknotung der beiden Tauenden, um darauf einen flüchtigen Blick auf das Ferment zu werfen, das diesen Fäulnisprozeß beschleunigt: die zivile Gesellschaft mit ihren verschiedenen Organisationen.

Die PRI, von ihrem Ursprung 1928 her ein von oben gebildetes Instrument zur Institutionalisierung der Staatsmacht und zur unverzichtbaren Zivilisierung der Politik nach den endlosen militärischen Konfrontationen in dem Jahrzehnt der Revolution, bildete sich in den dreißiger Jahren zur alle Sektoren der mexikanischen Gesellschaft umfassenden Volkspartei heraus. Ihre korporative Struktur - von Lázaro Cárdenas zur Blüte gebracht - erlaubte es, ein ebenso engmaschiges wie feinfühliges Netz über das ganze Land zu legen, mit dessen Hilfe jede Regung der Zivilgesellschaft wahrgenommen und darauf reagiert werden konnte. Ein sorgfältiges Austarieren der Ämterpatronage zwischen den verschiedenen Klientelgruppen und ideologischen Flügeln der Partei war in den folgenden Jahrzehnten möglich auf der Grundlage eines kontinuierlichen Wirtschaftswachstums, das in der Partei- sprich: Staatskasse stets genügend Reserven entstehen ließ, mit denen auftretende Fraktionen abgefedert werden konnten. Erst in den 80er Jahren, mit dem Manifestwerden der Schuldenkrise, schmolzen die zuletzt während des Ölbooms gewonnenen Reserven dahin, wehte der Partei- und Staatskasse ein neuer Wind aus dem Ausland und aus der eigenen Gesellschaft entgegen. Der sinkende Ölpreis und gestiegene Zinsen führten zu dem Eingeständnis des damaligen Präsidenten López Portillo, daß der Staatshaushalt in unverantwortlicher Weise überzogen worden war, daß man den Forderungen der Gläubiger nicht entsprechen könne. Weder die Abwertung des Peso noch die zum Ende seiner Amtsperiode 1982 erfolgte Bankenverstaatlichung konnten die längst begonnene Absatzbewegung des Kapitals und den verhängnisvollen Inflationsprozeß bremsen, von denen die mexikanische Wirtschaft im "verlorenen Jahrzehnt" der 80er Jahre heimgesucht wurde. Die Nachfolge-Administration von Miguel de la Madrid war gezwungen, auf jeglichen Populismus zu verzichten, und mußte, dem Diktat von IWF und Weltbank folgend, statt dessen fortlaufend unpopuläre Haushaltskürzungen vor allem im öffentlichen und Sozialbereich vornehmen.

In diese Zeit fällt der steile Aufstieg des Carlos Salinas de Gortari. Als Direktor des Think-Tanks der PRI, des IEPES (Instituto de Estudios Políticos, Económicos y Sociales), hatte der Harvard-Absolvent - ironischerweise Autor einer Abhandlung mit dem vielversprechenden Titel "Produktion und politische Partizipation im ländlichen Mexico" - bereits Anfang der 80er Jahre durch brillante Analysen und einen geschliffenen öffentlichen Diskurs auf sich aufmerksam gemacht. Miguel de la Madrid ernannte ihn zum Minister für Planung und Haushalt und bewies damit eine durchaus glückliche Hand. Salinas scharte einen kompetenten Mitarbeiterstab um sich, mit dem es ihm gelang, über die gesamte sechsjährige Amtszeit den schwierigen Balanceakt zwischen protektionistischen Maßnahmen und verlangter Öffnung der Ökonomie, zwischen Haushaltseinsparungen und Dezentralisierungsschritten in der Verwaltung unbeschadet zu überstehen. Ein kluger nationalistischer Diskurs, erfolgversprechende Umschuldungsverhandlungen mit IWF und Weltbank sowie die Einführung eines Stabilitätspaktes (eine konzertierte Selbstverpflichtung von Unternehmern, Staat und Gewerkschaften auf Einfrieren der Preise und Löhne) brachten ihm schließlich den Zuschlag als Nachfolgekandidat für die Wahlen im Juni 1988. Damit setzte sich innerhalb der Staatsklasse eine Gruppe durch, die für grundlegende strukturelle Veränderungen im mexikanischen Staats- und Wirtschaftsgefüge steht.

Zwei Ereignisse in der Regierungszeit Miguel de la Madrids müssen für das Verständnis der tiefen Legitimationskrise, in die die mexikanische Regierung im Verlauf der 80er Jahre geraten war, erwähnt werden: Das Erdbeben von 1985 sowie die Fußballweltmeisterschaft 1986.

Das Erdbeben mit seinen verheerenden Folgen besonders in der Hauptstadt wurde von den MexikanerInnen wie ein Signal der Götter wahrgenommen. Der Glaube in die Fähigkeit der Regierung, mit dieser gewissermaßen übermenschlichen und zugleich allzu irdischen Krise in verantwortlicher Weise umgehen zu können, wurde bis in seine Grundfesten erschüttert. Statt schnelle und effektive Hilfsmaßnahmen anzuordnen, erging sich der Präsident in Beschwörungsformeln über nationale Souveränität und Appellen an die patriotischen Ordnungshüter, während diese ungestraft an Plünderungsaktionen teilnahmen und sich teilweise daran machten, aus dem Ausland eingegangene Hilfslieferungen unter sich aufzuteilen. Mit den einstürzenden Gebäuden wurden staatlich geduldete Korruptionsstrukturen sichtbar, die sowohl unmittelbar die subventionierte Bauwirtschaft betrafen als auch Folter- und Verhörmethoden, die nicht nur sprichwörtliche Leichen im Keller des Innenministeriums ans Tageslicht brachten.

Die Bevölkerung hingegen, und nicht nur die unmittelbar betroffene, reagierte in einem bis dahin ungekannten spontanen Solidaritätsschub, der sich durch sämtliche Bevölkerungsschichten hindurchzog. Selbsthilfe- und Nachbarschaftsorganisationen wuchsen wie Pilze aus dem erschütterten Boden der Hauptstadt, die Kunde von den unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Näherinnen machte wie ein Lauffeuer die Runde durch das ganze Land und stellte die Rolle der Gewerkschaftsbewegung insgesamt in Frage. Eine originär mexikanische Symbolfigur des Widerstands gegen den Staat entstand aus den Trümmern der Erdbebenopfer: Superbarrio, der Anwalt der BarriobewohnerInnen, der maskierte Rächer der Entrechteten, der auf vielen Demonstrationen vorneweg marschierte, Petitionen an die Stadtverwaltung übergab, flammende Reden gegen Mietwucherer und Spekulanten hielt - in gewisser Weise der urbane, militante, aber nicht-militärische Vorläufer des Sup Marcos.

Das Erdbeben wurde zum Symbol für ein neu erwachendes Selbstbewußtsein in den städtischen sozialen Bewegungen und zugleich für ein absterbendes Vertrauen in die Führungsfähigkeit des Staates.

Krasser Ausdruck für diesen geschwundenen Respekt vor der staatlichen, jahrzehntelang unangetasteten Autorität war die Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft im Aztekenstadion im Sommer 1986, während derer Präsident Miguel de la Madrid ein weltweit unüberhörbares Pfeifkonzert über sich ergehen lassen mußte. Das hatte es in der Geschichte Mexikos noch nicht gegeben: Im Bewußtsein der internationalen Dimension dieses Ereignisses wird die höchste nationale Instanz, der Präsident, an seiner belanglosen Eröffnungsrede gehindert. Daß die mexikanische Elf nicht über das Achtelfinale hinauskam, trug gewiß auch nicht zur Hebung der Stimmung in der Gesellschaft bei.

Die Wahlen von 1988 schließlich waren die förmliche Quittung für den tiefen Riß, der sich zwischen Staat und Gesellschaft aufgetan hatte. Gewissermaßen aus dem Stand erzielte das im Verlauf weniger Monate zusammengezimmerte Wahlbündnis FDN (Frente Democrático Nacional) mit dem PRI-Abtrünnigen Cuauhtémoc Cárdenas als Präsidentschaftskandidat ein überwältigend gutes Wahlergebnis, wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Stimmen. In der Hauptstadt, dem demographischen, kulturellen, politischen und ökonomischen Zentrum des Landes wurde der linken Opposition sogar offiziell die Mehrheit zuerkannt. Der Bürgermeister allerdings blieb ein PRI-Mann: Manuel Camacho Solís, der es in taktischer Meisterleistung verstand, die oppositionelle Mehrheit über die Jahre hinweg zu neutralisieren.

Die Gesellschaft war durch beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung, andererseits aber auch durch den abrupten Rückschlag nach jahrzehntelang genährter Entwicklungserwartungshaltung eine andere geworden, der Staat und seine "revolutionäre Familie" hingegen wollten die gleichen bleiben - das konnte nicht einfach hingenommen werden. Und es wurde nicht hingenommen, weder von der zivilen Gesellschaft und ihren Organisationen noch von der macchiavellistisch agierenden Führungsriege Salinas de Gortari. Jene erschöpften sich in lauteren und lauten Protesten gegen den offenkundig monströsen Wahlschwindel, diese begann mit Pauken und Trompeten ihr Modernisierungsprojekt. Politische Reformversprechen gingen einher mit eindrucksvollen Maßnahmen an der Anti-Korruptionsfront. Erfolgreich abgeschlossene Umschuldungsverhandlungen wurden begleitet von Vorgesprächen über die Möglichkeit des Umsetzens der Bush-Initiative einer freien Handelszone. Rege außenpolitische Aktivitäten wurden innenpolitisch gestützt durch den erfolgreichen Kampf gegen die Inflation und eine spürbare Ankurbelung der Wirtschaft, die Aushebelung des Verfassungsparagraphen 27 (Unveräußerlichkeit von Ejido-Land), unnachgiebige Machtpolitik gegenüber der PRD konterkariert mit großzügiger "Concertacesión", d.h. der Gewährung von Teilhabe an der Macht gegenüber der PAN. All dies waren taktisch wichtige Schachzüge, die die Stellung des Präsidenten als unangefochtenes Machtzentrum stärkten. Hinzu kam die Reprivatisierung der Banken, eine rege Investitionstätigkeit einstmals geflohenen nationalen wie internationalen Kapitals, die Privatisierung des größten Teils staatlicher Unternehmen, lauter Maßnahmen, die natürlich nicht einem diffusen Gesamtwohl einer komplexen Gesellschaft zugute kommen, sondern auf personengebundenen Verträgen basieren, die die ökonomische Potenz der Unterzeichner enorm stärken. Und diese gehören zur Gruppe von Salinas.

Die Gruppe hatte ohne Zweifel ihre Hausaufgaben tadellos gemacht: NAFTA ist unter Dach und Fach, Mexiko ist seit April Mitgliedsland der OECD, genießt im Ausland, besonders im europäischen, ein hohes Ansehen, wird als attraktiver Investitionsstandort geschätzt - all dies betrifft aber nur einen Teil der Nation. Alles hätte wie am Schnürchen laufen können, wenn nicht am 1. Januar 1994, am Tag des Inkrafttretens von NAFTA, die Schüsse im äußersten Süden des Landes daran erinnert hätten, daß neben den Erfolg-reichen auch noch ein armes Volk als Teil dieser Nation existiert. Die EZLN brachte mit einem Schlag ins Bewußtsein der Nation, daß die Entwicklung der letzten Jahre diese in eine bedrohliche Schieflage gebracht hat, die bei einem nächsten Erdstoß das ganze Gebäude Mexiko zum Einsturz bringen kann. Niemand beschreibt die lebensgefährliche Architektur dieses Gebäudes und seiner Stockwerke besser als der dichtende Subcomandante in seinem Traktat über "Mexikos langen Übergang vom Schmerz zur Hoffnung".


Mexiko: Der lange Übergang vom Schmerz zur Hoffnung

Subcomandante Insurgente Marcos

 

Für den Herrn Ik',

Tzeltal-Fürst

Gründer des CCRI-CG der EZLN

gefallen in den Kämpfen von Ocosingo, Chiapas

im Januar 1994

(wo auch immer er sein mag...)

 

"Geschehe was mag, wir werden leben

und vom Grund des Schlosses der Armen

wo es so viele gab, die uns gleichten

so viele Gefährten, so viele Freunde

entfaltet sich hoch das Segel des Mutes

laßt es uns hissen ohne Zögern

Morgen werden wir wissen, warum,

wenn wir siegen.

 

Eine lange Kette von Liebenden

hat das Gefängnis verlassen.

 

Die Dosis an Ungerechtigkeit und die Dosis an Scham

sind wirklich entschieden zu bitter.

 

Nicht allen bedarf es, um eine Welt zu schaffen

Glücklichsein ist wichtig, sonst nichts.

 

Um glücklich zu sein, ist es nötig, einfach klar zu sehen

und zu kämpfen

Warten wir nicht einen Augenblick

Heben wir den Kopf

Nehmen wir die Erde im Sturm."

 

Paul Eluard: "Le Château des Pauvres"

 

Mexiko: Zwischen Traum, Alptraum und Erwachen

 

1. Kapitel - das von den neoliberalen Gesängen von 24 Sirenen erzählt, von goldenen Riffen, vom Stranden auf den Sandbänken der Mutlosigkeit und von anderen Gefahren, die den Piraten auf hoher See auflauern.

 

Es spricht das Vaterland

I.

Es sprechen das Vaterland und seine Schmerzen

 

Sie haben mir so etwas wie ein Stück

schmerzender Erde gegeben,

voller Narben

und Wunden, die nicht heilen,

voller Schläge und Stürze.

 

Sie haben mir einen Fluch auferlegt,

der nicht endet,

wie ein niedergerissenes Haus und bitter.

 

Wie schwer die Geschichte wiegt!

 

Ich bin voller Verrat und Raub,

jede Erniedrigung häuft sich auf und wächst,

jedes Elend kommt hinzu.

 

Der Reichsadler des Imperiums entreißt mir die Eingeweide

und mächtige Herren teilen sich

meine Meere und Berge,

meine Flüsse und Wüsten,

meine Täler und Schluchten.

 

Das sind meine Schmerzen

sie sind groß und enden nicht:

der Schmerz meines entehrten Bodens

der Schmerz meiner verarmten Erde

der Schmerz meines verratenen Kindes

der Schmerz meines Kampfes voller Niederlagen...

 

In dieses Land kann man durchs Obergeschoß oder durch den Keller kommen. In das Mexiko des Kellers kommt man zu Fuß und weinend ... durch Schlamm. 1993 sprachen wir in der Nähe von San Quintín, im Verwaltungsbezirk von Ocosingo, mit einem Guatemalteken, der die lange und unmögliche Reise durch das mexikanische Land in die Vereinigten Staaten antrat. Um das zu schaffen, mußte er Geld, Gesundheit, Leben und Würde riskieren. Er und seine Familie mußten das Land von Chiapas bis in den Norden Baja Californias durchqueren, einen Alptraum von Misere und Tod durchkreuzen. Wir fragten ihn, warum er es auf sich nähme, bis in die Vereinigten Staaten zu gehen, warum er nicht in einem der mexikanischen Staaten, die er auf seiner Reise kreuze, bleibe, um zu arbeiten. Er antwortete lachend und spottete: "Ich bin doch nicht verrückt. Wenn wir in Guatemala im Regen sitzen, sitzt ihr doch in der Traufe." Und er wiederholte die Geschichte, die diejenigen erzählten, die es geschafft hatten, bis zur mexikanischen Nordgrenze zu kommen und von der Grenzpolizei zurück deportiert worden waren: ein Mexiko, das ziemlich anders ist als die Tourismuswerbung; Mörderpolizei, korrupte Funktionäre, Bettelei, nordamerikanische Preise und mittelamerikanische Löhne, Weiße Garden, Bevölkerung im Elend, Hoffnungslosigkeit. Eine Geschichte, die wir schon kannten. Der Alptraum, der im Keller dieses Landes wohnt, der Alptraum, der uns dazu gebracht hat, aufzuwachen, im Januar des Jahres ...

 

1994:

Ins Mexiko des Obergeschosses...

...kommt man mit dem Flugzeug. Ein Flughafen in der Hauptstadt, in Monterrey, Guadalajara oder Acapulco ist der Eingang zu einem Aufzug, der weder hoch- noch runterfährt, sondern der horizontal das Land der 24 reichsten Männer des Landes durchquert, die Korridore des Mexikos der Moderne: die Büros der Regierung, in denen der Neoliberalismus verwaltet wird, die Clubs der Fabrikbesitzer, wo die Nationalfahne jedes Mal mehr verkommt, die Urlaubszentren, deren eigentlicher Sinn darin liegt, der Spiegel einer Klasse zu sein, die nicht sehen will, was unter ihren Füßen ist: eine lange Wendeltreppe und ein Labyrinth, das bis in das Mexiko des Kellers hinabführt, in das der Fußgänger und des Schlamms. Über dem Blut und Morast, die den Keller dieses Landes bewohnen, sind die 24 Allmächtigen damit beschäftigt, die 44,1 Milliarden Dollar zu zählen, das Geschenk der letzten sechsjährigen Regierungsperiode der Moderne. Das Mexiko von oben hat keine Zeit nach unten zu sehen, es ist mit komplizierten makroökonomischen Rechnungen beschäftigt, mit dem Austausch von Versprechungen, Schmeicheleien und Inflationsindexen, Zinsraten und Prozenten ausländischer Investitionen, Import- und Exportkonzessionen, Auflistungen von Gütern, Salden, bei denen das Vaterland und die Würde kein Gewicht haben: Die öffentlich abgesicherte Langzeitverschuldung stieg von 3,196 Mrd. Dollar 1970 auf 76,257 Mrd. Dollar 1989. Die private Verschuldung stieg von 2,77 Mrd. US$ 1970 auf 3,999 Mrd. US$ 1989. 1989 beliefen sich die öffentlichen Kurzzeitschulden auf 10,295 Mrd. Dollar. Zu Beginn der 90er Jahre schuldete Mexiko 95,642 Mrd. Dollar. Jedes Jahr zahlt dieses Land mehr Schulden und schuldet trotzdem jedes Jahr mehr. Die Nutzung von Krediten des Internationalen Währungsfonds stieg von 0.00 $ 1970 auf 5,091 Mrd. Dollar 1989.

Das Wirtschafswachstum in Industrie und Handel geht zu Lasten des ländlichen Mexiko: In der Landwirtschaft ist die Produktion von 1965-1980 jährlich um 3% gestiegen. In der Zeit von 1980-1989 nur um 1%. Währenddessen sprechen im Außenhandel die Importe ihre komplizierte Zahlensprache: 1974 betrugen die Getreideimporte 2,881 tausend Kubiktonnen und stiegen bis 1984 auf 7,054 tausend. 1965 waren 5% der Importe Nahrungsmittel, bis 1989 ist der Prozentsatz von Nahrungsmittelimporten auf 16% angestiegen. Auf der anderen Seite ist im selben Zeitraum der Prozentsatz an Importen von Maschinen oder Transportmitteln gefallen (von 50% 1965 auf 34% 1989). Die Exporte bekräftigen dies: Insgesamt stieg der Verkauf von Treibstoff und Mineralien von 22% 1965 auf 41% 1989. Die Verkäufe von Maschinen und Transportmitteln ins Ausland stiegen von 1% 1965 auf 24% 1989. Der Export von Primärgütern sank von 62% 1965 auf 14% 1989.

Der Herr Carlos Salinas de Gortari ist, im Mexiko von oben, der Präsident... aber der einer Aktionärshauptversammlung. Die Moderne macht in der mexikanischen Neopolitik aus den öffentlichen Funktionären eine Art Immobilienhändler, und aus dem Präsidenten der Republik den Verkaufsleiter einer gigantischen Firma: Mexiko GmbH. Politiker der Staatspartei zu sein ist in Mexiko das beste Geschäft. Ein väterlicher Schatten schützt die Schritte der neuen Generation von mexikanischen Politikern, der des Ex-Präsidenten Miguel Alemán Valdés, "Mr. Amigo".

Der Neo-Gewählte, Ernesto Zedillo, wiederholt den Trug des american dream (arme Kinder, die reich, d.h. Politiker werden) und das Wirtschaftsprogramm der Modernisierung... Seit 48 Jahren! Die Sense fehlender Liquidität, fehlender Kredite und fehlenden Marktes wird erneut die Köpfe der kleinen und mittleren Betriebe rollen lassen. Das "Gesetz des Dschungels" des freien Marktes wird dieselbe Dosis noch einmal verabreichen: mehr Monopole, weniger Arbeitsplätze. "Wachsen" heißt für die neoliberale Wirtschaftspolitik "Verkaufen". Um Politik zu machen, muß man Markttechnik beherrschen.

Der "Bürger" des Mexikos von oben wird früher oder später von irgendeiner ausländischen Institution zum "Mann des Jahres" gekürt. Um das zu erreichen, muß er sich einlassen auf folgende...

 

Anweisungen, um zum "Mann des Jahres" gekürt zu werden:

1. Mische, vorsichtig, einen technokratischen Funktionär, einen reuigen Oppositionellen, einen namengebenden Fabrikanten, einen gewerkschaftlich organisierten Bauern, einen Hausbesitzer, einen Landbesitzer, einen Computer-Alchemisten, einen "brillanten" Intellektuellen, einen Fernsehsender, eine Radiostation und eine offizielle Partei. Tu alles zusammen in ein Gefäß und beschrifte es mit: "Moderne".

2. Nimm einen Landarbeiter, einen Bauern ohne Land, einen Arbeitslosen, einen Industriearbeiter, einen Lehrer ohne Stelle, eine unzufriedene Hausfrau, einen Antragsteller auf Wohnraum und Versorgung, das bißchen ehrliche Presse, einen Studenten, einen Homosexuellen, einen Regimegegner. Teile so oft es möglich ist. Tu alles zusammen in ein Gefäß und beschrifte es mit: "Anti-Mexiko".

3. Nimm einen Indígena. Lege die kunsthandwerklichen Gegenstände zur Seite und mache ein Foto von ihm. Tu die kunsthandwerklichen Gegenstände und das Foto in ein Gefäß und beschrifte es: "Tradition":

4. Tu den Indígena in ein anderes Gefäß und beschrifte es: "entbehrlich". Vergiß nicht, dich nach dieser letzten Handlung zu desinfizieren.

5. Gut, jetzt eröffne ein Geschäft mit einem großen Schild, auf dem steht: "Mexiko 94-2000. Großer Ausverkauf zum Ende des Jahrhunderts".

6. Lächele auf dem Foto. Und achte darauf, daß das Make Up die Augenringe verbirgt, die du von so vielen Alpträumen hast.

Beachte: Habe immer einen Polizisten, einen Soldaten und ein Flugticket ins Ausland bereit. Sie könnten jeden Moment notwendig werden.

Das Mexiko von oben hat keinen Hang zum Ausland. Um einen Hang zum Ausland zu haben, muß man eine Nationalität haben, und das einzige Land, von dem man ernsthaft reden hört im immer enger werdenden oberen Stockwerk, ist das Land des Geldes. Und dieses Land hat kein Vaterland, es hat Verlust- und Gewinnanzeigen. Das historische Geschehen spielt sich in den Börsensälen ab, und die modernen Helden dort oben sind die guten Verkäufer. Aus irgendeinem Grund der anderen Geschichte (der wirklichen) schrumpft dieses Obergeschoß, weit davon entfernt, sich auszudehnen, rasch. Jedes Mal sind es weniger, die dort bleiben können. Entweder sanft oder brutal sind die Unfähigen gezwungen, herabzusteigen ... über die Treppe. Der Aufzug des Mexiko von oben, dessen Tür sich zu den großen internationalen Flughäfen öffnet, fährt weder auf- noch abwärts. Um dort auszusteigen, muß man hinabgehen, hinabgehen bis...

 

zum Mexiko des Hochparterre...

...kommt man im Auto. Es ist städtisch, und sein Bild ist eine Kopie der Hauptstadt, das in verschiedenen Teilen des Landes wiederholt wird. Ein Bild aus Beton, das die Widersprüche des Zusammenlebens von extremem Reichtum und extremer Armut nicht verleugnen kann. Das Mexiko des Hochparterre stinkt. Irgend etwas verfault dort zur selben Zeit, in der sich das Gemeinschaftsgefühl auflöst. Das Mexiko des Hochparterre hat einen Hang zum Ausland. Irgend etwas sagt ihm, daß der Weg zum Mexiko des Obergeschosses durch ein Land führt, das nicht dieses ist. Um in Mexiko "Erfolg" zu haben, muß man ins Ausland gehen. Nicht unbedingt physisch, aber historisch, mit seinen Sehnsüchten. Dieser Hang zum Exil, als Synonym des Erfolges, hat nichts damit zu tun, tatsächlich eine Landesgrenze zu überschreiten. Es gibt die, die, auch wenn sie weggehen, bleiben. Und es gibt die, die, auch wenn sie bleiben, gehen. Nur drei Bundesstaaten haben einen SEHR GERINGEN Grad an Marginalität: die Hauptstadt, Nuevo León und Baja California Nord. Zehn weitere haben einen NIEDRIGEN Grad an Marginalität: Coahuila, Baja California Süd, Aguascalientes, Chihuahua, Sonora, Jalisco, Colima, Tamaulipas, Staat Mexiko und Morelos; weitere vier haben einen MITTLEREN Grad an Marginalität: Quintana Roo, Sinaloa, Nayarit und Tlaxcala. Das Mexiko des Hochparterre überlebt auf die schrecklichste Art: Es glaubt, es lebe. Es hat alle Nachteile des Mexikos von oben: historische Ignoranz, Zynismus, Opportunismus und eine Leere, die die Importprodukte kaum oder gar nicht füllen. Es hat alle Nachteile des Mexikos von unten: wirtschaftliche Instabilität, Unsicherheit, Zerrüttung, langsamen Verlust der Hoffnung und außerdem das Elend, das an jeder Ecke an die Windschutzscheibe des Autos klopft. Früher oder später muß das Mexiko des Hochparterre aus dem Auto steigen und, wenn ihm etwas geblieben ist, ins Taxi, sonst ins Gemeinschaftstaxi, in die U-Bahn, in einen Bus steigen und weiter nach unten fahren bis ...

 

zum Mexiko von unten...

...kann man sofort kommen. Es lebt in ständigem Konflikt mit dem Mexiko des Hochparterre zusammen. In den 17 mexikanischen Staaten, die einen MITTLEREN, NIEDRIGEN oder SEHR NIEDRIGEN Grad an Marginalität haben, leben die Hälfte der Bewohner dicht gedrängt (mit mehr als zwei Personen pro Zimmer), und 50% der Mexikaner in den "mittleren" Staaten verdienen weniger als zwei Mindestlöhne am Tag, d.h. leben in Armut (in Tlaxcala leben 3/4 der Bevölkerung in Armut).

In Aguascalientes, Chihuahua, Jalisco, Colima, Tamaulipas, Morelos, Quintana Roo, Sinaloa und Tlaxcala sind ein Drittel der Einwohner über 15 Jahre ohne Grundschulabschluß, in Nayarit liegt der Prozentsatz bei über 40%. In Tlaxcala hat ein Drittel der Einwohner keine Kanalisation. In Quintana Roo und Sinaloa lebt ein Viertel der Bevölkerung auf Lehmfußboden. Die Staaten Durango, Querétaro, Guanajuato, Michoacán, Yucatán, Campeche, Tabasco, Zacatecas und San Luis Potosí haben den Grad HOHER Marginalität. Hier hat fast die Hälfte der Einwohner über 15 Jahre keinen Grundschulabschluß, ein Drittel keine Kanalisation, nahezu zwei Drittel leben dicht gedrängt, und mehr als 60% verdienen weniger als zwei Mindestlöhne.

Das Mexiko von unten teilt nicht, es streitet um einen städtischen und ländlichen Raum, der nichtsdestotrotz seine inneren Trennlinien, seine Grenzen hat. Fincas, Ländereien und große Agrarfirmen zwingen ihren ländlichen Raum den ejidos und bäuerlichen Gemeinden auf. Die Stadtviertel, ihre Namen und Lage, die zur Verfügung stehenden öffentlichen Dienstleistungen, die Art ihrer Bewohner, zu sprechen, sich zu kleiden, ihre Vergnügungen, ihre Bildung, alles begrenzt und klassifiziert, versucht zu ordnen, das Chaos zu regeln, das die mexikanischen Städte regiert. Es ist nicht nötig, das Einkommensniveau, soziale Stellung und politische Meinung anzugeben, es genügt zu sagen, in welchem Viertel welcher Stadt man wohnt. Innerhalb der Stadt gibt es tausend Städte, die sich streiten, überleben, kämpfen. Auf dem Land sind die Transportmittel, die Art sich zu kleiden und die Aufmerksamkeit des Bankdirektors die Zeichen der Klassifizierung. Die Stellung einer Person auf dem mexikanischen Land kann man an der Zeit ermessen, die sie in den Vorzimmern der öffentlichen und finanziellen Macht wartet. Im Mexiko von unten wird das Herrenhaus des porfiristischen Landgutes durch das Büro der Bank ersetzt, mit der die Moderne das mexikanische Land durchdringt.

Das Mexiko von unten hat einen Hang zu Kämpfen, es ist tapfer, es ist solidarisch, ist Bande, Stadtteil, Gesindel, Rasse, Kumpel, Streik, ist Demonstration und Versammlung, ist Landbesetzung, Straßensperren, ist "ich glaube ihnen nicht!", ist "ich lasse mich nicht!", ist "los jetzt!". Das Mexiko von unten ist Lehrer, Maurer, Installateur, Arbeiter, Fahrer, Angestellter, Student der U-Bahn-Bus-Gemeinschaftstaxis, Straßenkehrer, dialektisch-materialistischer Lastwagenfahrer, Hausfrau, kleiner Mieter, Straßenhändler, Agrarist, Klein- und Kleinsthändler, Bergarbeiter, Pächter, Bauer, auf Gemeindeland Arbeitender, Provinzler auch in der Hauptstadt, Landarbeiter, Packer im Hafen, Fischer und Seemann, Trödler, Fleischer, Kunsthandwerker, ist die undsoweiters die man in jedem Bus, an jeder Ecke findet, in jedem Winkel jedes Ortes jeden Mexikos ... von unten. Das Mexiko von unten ist das Fleisch der Gefängnisse, der Entäußerungen, der Embargos, der Razzien, der Entlassungen, der Räumungen, der Entführungen, der Folter, des Verschwindenlassens, des Zorns, des Todes. Das Mexiko von unten hat nichts - aber es hat es (noch) nicht bemerkt. Das Mexiko von unten hat schon Probleme der Überbevölkerung. Das Mexiko von unten ist Millionär des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Das Mexiko von unten teilt städtische und ländliche Räume, Fehltritte und Stürze, Kämpfe und Niederlagen. Das Mexiko von unten ist ganz schön weit unten, so weit unten, daß es scheint, daß es darunter nichts mehr gibt, so weit unten, daß man die kleine Tür fast gar nicht sieht ...

 

zum Mexiko des Kellers...

...kommt man zu Fuß, barfuß oder mit Gummilatschen. Um dahin zu kommen, muß man durch die Geschichte hinabsteigen und die Tabellen der Marginalität hinaufklettern. Das Mexiko des Kellers war das erste. Als Mexiko noch nicht Mexiko war, als alles anfing, existierte, lebte das Mexiko des Kellers schon. Das Mexiko des Kellers ist "indianisch", denn Kolumbus dachte vor 502 Jahren, daß das Land, in das er gekommen war, Indien sei. "Indios" nannte man von da an die Bewohner dieser Gegend. Das Mexiko des Kellers ist Mazahua, Amuzgo, Tlapaneco, Nahuatlaca, Cora, Huichol, Yaqui, Mayo, Tarahumara, Mixteco, Zapoteco, Maya, Chontal, Seri, Triquis, Kumiai, Cucapá, Paipai, Cochimi, Kiliwa, Tequistlateco, Pame, Chichimeca, Otomi, Mazateco, Matlatzinco, Ocuilteco, Popoloca, Ixcateco, Chocho-Popoloca, Cuicateco, Chatino, Chinanteco, Huave, Pápago, Pima, Tepehuano, Guarijio, Huasteco, Chuij, Jalalteco, Mixe, Zoque, Totonaco, Kikapú, Purépecha, O'odham, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal, Chol, Mam.

Das Mexiko des Kellers ist indianisch - aber für den Rest des Landes zählt es nicht. Es produziert nicht, verkauft nicht, kauft nicht, das heißt, es existiert nicht ... Lesen Sie nach im Text des NAFTA-Vertrages, und Sie werden sehen, daß die Indígenas für diese Regierung nicht existieren. Mehr noch, lesen Sie den Anhang 1001.a-1 im Text des NAFTA-Vertrages, vom 7. Oktober 1992 (ja, fünf Tage vor den "Festlichkeiten" anläßlich 500 Jahre "Entdeckung Amerikas"), und Sie werden finden, daß die Regierung Salinas "vergessen" hat, das Nationale Institut für Indígena-Angelegenheiten (INI) in die Liste der "Körperschaften der Bundesregierung" aufzunehmen. Wir sind schon lange in den Bergen, vielleicht ist das INI schon privatisiert worden, aber es überrascht trotzdem, daß so bekannte Büros wie das "Patronat zur Unterstützung der Sozialen Wiedereingliederung", "Unterstützungen für Dienste zur Vermarktung im land- und viehwirtschaftlichen Sektor" und das "Institut der Menschlichen Kommunikation Dr. Andrés Bustamante Gurría" als "Körperschaften der Regierung" erscheinen. Im Gegensatz dazu gibt es auf kanadischer Seite das "Department of Indian Affairs and Northern Development", das so etwas ist wie die "Abteilung für indianische Angelegenheiten und nördliche Entwicklung".

Das Mexiko des Kellers häuft Traditionen und Elend an, hat die höchsten Raten von Marginalität und die niedrigsten, was die Ernährung betrifft. Von den 32 Staaten haben sechs einen SEHR HOHEN Grad an Verelendung. Alle sechs haben einen hohen Prozentsatz indianischer Bevölkerung:

Puebla

Veracruz

Hidalgo

Guerrero

Oaxaca

Chiapas.

Die Schichtung Mexikos wiederholt sich in den Verwaltungsbezirken. Auf nationaler Ebene gibt es 2.403 Bezirke. Von diesen haben 1.153 einen HOHEN und SEHR HOHEN Grad an Marginalität. 1.118 einen MITTLEREN und NIEDRIGEN Grad an Marginalität und nur 132 Bezirke einen SEHR GERINGEN Grad an Marginalität. In den Staaten mit einem hohen Anteil indianischer Bevölkerung heißt das: Chiapas hat in 94 von 111 Bezirken einen HOHEN und SEHR HOHEN Grad an Marginalität. Guerrero in 59 von 75. Oaxaca in 431 von 570. Puebla in 141 von 217, Querétaro in 10 von 18. San Luis Potosi in 33 von 56. Veracruz in 130 von 207. Yucatán in 70 von 106.

Zwischen Schlamm und Blut lebt und stirbt man im Keller Mexikos. Verborgen, aber in seinem Grund, erlaubt es die Verachtung, die dies Mexiko erfährt, sich zu organisieren und das gesamte System zu erschüttern. Seine Last wird auch die Möglicheit sein, sich von ihr zu befreien. Das Fehlen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit für diese Mexikaner hat sich organisiert und ist leuchtend explodiert, um alle zu erhellen.

 

Im Januar 1994...

...erinnerte sich das gesamte Land an die Existenz dieses Kellers. Tausende mit Wahrheit und Feuer, mit Scham und Würde bewaffnete Indígenas rüttelten das Land aus seinem süßen Traum der Moderne. "Es reicht!" schreit ihre Stimme. Schluß mit den Träumen, Schluß mit den Alpträumen. Seit Stahl und Evangelium dieses Land eroberten, ist diese Stimme dazu verurteilt, sich einem Vernichtungsfeldzug zu widersetzen, der heute alle Fortschritte der intergalaktischen Technologie miteinschließt. Satelliten, Apparate der Telekommunikation und Infrarotstrahlen beobachten ihre Bewegungen, verorten ihr Rebellentum, zeigen auf den Militärkarten die Orte, an denen Bomben und Tod gesät werden sollen. Zehntausende von olivgrünen Masken bereiten einen neuen blühenden Krieg vor. Sie wollen ihren Stolz, den Mächtigen zu dienen, Komplizen zu sein bei dieser ungerechten Verteilung von Schmerz und Armut, mit indianischem Blut waschen.

Die zapatistischen Indígenas werden ihre Sünde mit Blut bezahlen. "Welche?" Die, sich nicht mit Almosen zufriedenzugeben, die, auf ihren Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit für ganz Mexiko zu bestehen, die ihres Grundsatzes "Für alle alles, für uns nichts".

Die, die den indianischen mexikanischen Landleuten die Möglichkeit verschließen, das Konzept NATION auf sich zu beziehen, und sie statt dessen darauf verpflichten, in die Vergangenheit zu sehen (die sie vom Rest des Landes trennt), und sie daran hindern, in die Zukunft zu blicken (die sie mit der Nation verbindet und ihre EINZIGE Möglichkeit ist, als Indígena zu überleben), bekräftigen nicht die Teilung der sozialen Klassen, sondern (so die versteckte Variante des Vorherigen) die Teilung in verschiedene Kategorien von Bürgern: die Erster Klasse (die regierende Klasse), die Zweiter (die politischen Parteien der Opposition) und die Dritter Klasse (der Rest der Bürger). Die Indígenas wären in der absolut untersten Klasse der "Bürger in Ausbildung". Sie wären der Keller der mexikanischen Nation, die Rumpelkammer, in die man ab und zu einmal geht, um etwas zu suchen, das man oben brauchen kann, oder um irgendeine Unstimmigkeit zu reparieren, die das Gleichgewicht und die Stabilität des Gebäudes gefährdet.

Das Mexiko des Kellers ist das gefährlichste für die Verkaufssaison, die das Mexiko von oben organisiert. Das Mexiko des Kellers hat nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Das Mexiko des Kellers ergibt sich nicht, verkauft sich nicht, widersetzt sich.

Aus dem Mexiko des Kellers kam im August eine Stimme, die kein Kriegsruf ist, die die Uhr der Geschichte nicht 502 Jahre zurückdrehen will, die keinen Avantgarde-Anspruch hat, die kein Elend ausschließt. "Für alle alles, für uns nichts", sagt die tausendjährige Stimme. Die Stimme derer ohne Antlitz, derer ohne Namen, ist in dem Demokratischen Nationalkonvent öffentlich geworden. Diese Stimme weiß, zu wem sie spricht. Sie ruft das Mexiko von unten, sie spricht zum Mexiko des Hochparterre. "Das Blut soll nicht unnötig geflossen, der Tod nicht umsonst gewesen sein", sagen die Berge. Das Wort soll die unterschiedlichen Wege vereinen, die Teile der Rebellion sind...

 

Die Frauen:

Doppelter Traum,

Doppelter Alptraum,

Doppeltes Erwachen.

Wenn bei den Männern die Aufteilung zwischen den Mexikos bis zu einem gewissen Punkt offensichtlich ist, produziert sie bei den Frauen etwas Neues, das Unterwerfung und Rebellion potenziert. Im Mexiko von oben sind die Frauen weiter niedlich, sind Schmuck auf den Chefschreibtischen des Zeitalters der Telekommunikation und sind "effiziente" Verwalterinnen des familiären Wohlergehens (das heißt, sie entscheiden darüber, wie oft man zu McDonald's zum Abendessen geht). Das Mexiko des Hochparterre prägt der alte Zyklus von Tochter-Braut-Ehefrau und/oder Geliebte-Mutter. In den Mexikos von unten und des Kellers verdoppelt sich der Alptraum in den Mikrokosmen, wo der Mann herrscht und bestimmt. Für die Frauen von unten und im Keller verdoppelt sich alles (bis auf den Respekt): Auf die Frauen bezogen wachsen die Prozentsätze von Analphabetismus, schlechten Lebensbedingungen, niedrigen Löhnen, Marginalität so alptraumhaft, daß das System es vorzieht, das zu ignorieren oder im Rahmen der allgemeinen Statistiken zu vertuschen, die über die Geschlechterausbeutung, die die allgemeine Ausbeutung möglich macht, keine Aussage machen. Aber etwas beginnt in dieser doppelten Unterdrückung unruhig zu werden, der doppelte Alptraum verdoppelt das Erwachen. Frauen von unten und noch weiter unten erwachen. Sie kämpfen gegen die Gegenwart und gegen eine Vergangenheit, die ihnen androht, zur möglichen Zukunft zu werden. Das Bewußtsein der Menschlichkeit geht durch das Bewußtsein der Weiblichkeit. Sich als Mensch zu verstehen, beinhaltet, sich als Frau zu verstehen, und zu kämpfen. Sie brauchen niemanden mehr, der für sie spricht, ihre Worte folgen dem doppelten Weg der Rebellion, mit eigenem Motor - dem doppelten Motor der rebellischen Frauen in diesem ...

 

Raum für Paradoxe der Tourismuswerbung

Mexiko: 24 an jedem Ende: Der Traum und der Alptraum.

Die 24 Reichsten Mexikos (...) besitzen zusammen 44,1 Milliarden US$. Ihr Vermögen ist hundertmal mehr gewachsen als das Gesamtmexikos.

Die "anderen" 24: die ärmsten Bezirke Mexikos:

Oaxaca hat zwölf Bezirke, Veracruz vier, Guerrero zwei, Chiapas drei und Puebla drei. Zusammen sind sie die anderen 24, die ärmsten Bezirke des Landes. In der Liste der hundert ärmsten Bezirke ist Oaxaco 44mal vertreten, Veracruz 15mal; Puebla 15mal, Guerrero 13mal, Chiapas 11mal, Hidalgo einmal und Nayarit einmal. Die hundert Ärmsten haben drei Dinge gemeinsam: einen SEHR HOHEN Grad an Marginalität, Elend und eine hauptsächlich indianische Bevölkerung.

Die 24 ärmsten Verwaltungsbezirke Mexikos (...) haben eine durchschnittliche Analphabetenrate von 67% bei Personen über 15 Jahren. 90% haben keinen Grundschulabschluß, 87% der Bevölkerung haben keine Kanalisation und keine Toilette, 87% haben keinen Strom. 84% haben kein fließend Wasser, 86% leben dicht gedrängt, 95% haben Häuser mit Lehmfußboden, 91% verdienen weniger als zwei Mindestlöhne, und 100% haben einen SEHR HOHEN Grad an Verelendung. Der einzige Reichtum, den sie besitzen, sind - ihre Menschen.

Sie bilden, zusammen mit anderen, dies ...

 

Mexiko: Obergeschoß, Erdgeschoß und Keller

2. Kapitel, das von Unwettern, Wirbelstürmen und hohem Seegang erzählt, die das Schiff und den Willen der Seeleute beuteln, von Schiffbrüchen, die nicht wirklich, aber scheinbar existieren, und von anderen unglaublichen (weil niemand sie glaubt) Wahl-Geschichten, die in der feindlichen Flotte erzählt werden.

 

II.

Es sprechen das Vaterland und seine Ängste

Arbeiter zu See und zu Land

sind meine Kinder,

Maschinen und Land verschlingen sie,

die arm geboren sind und arm sterben werden.

Reiche Herren trinken ihr Blut

sie sind dick und gesättigt

denn es ruhen die Helden

in den noch feuchten Buchstaben der Schule.

 

Ich fürchte jeden Morgen zu erwachen

ohne Männer und Frauen

am Ende allein und zerschlagen.

 

Ich fürchte, daß niemand den Kopf hebt

ich fürchte, daß niemand mich erneuert

und daß in einem Winkel der Museen,

meine Menschen und die Geschichte mich verlassen ...

 

Wahlen August 1994

Drei Lesarten der Wahlergebnisse:

Erste Lesart (in der Reihenfolge der Veröffentlichungen und Ressourcen): Das obere Stockwerk dieses Landes liest, daß die Hälfte der Mexikaner entzückt und glücklich sind über die Verwaltung der Moderne (d.h. über die Existenz der 24 Persönlichkeiten des Vaterlandes des Geldes), daß sie stolz sind auf die nationale Geschichte (d.h. auf die 65 Jahre der Geschichte der PRI) und daß sie die Zukunft optimistisch sehen (das heißt, es erfreut sie, das Jahr 2000 unter der weisen Führung der PRI zu erreichen). Diese Lesart hat die Empfehlung des unverdächtigen Regierungssekretariats, der Beobachtergruppen der PRI und der Privatinitiativen, der nordamerikanischen Regierung und des Internationalen Währungsfonds. Das heißt, die Empfehlung der wahren Herren dieses Landes. Jeder Einwand, jeder Zweifel, jeder Protest ist der Versuch, die "Sauberkeit" des Prozesses zu beschmutzen und sich gegen den Willen der mexikanischen Bürger zu stellen (sogar gegen den Willen derjenigen, die nicht gewählt haben, und gegen den derjenigen, die gegen die PRI gewählt haben).

Die ersten, die diese patriotische Nachricht verstehen, sind die großen Medien: Radio und Fernsehen. Um neue Konzessionen zu bekommen oder um die derzeitigen nicht zu verlieren, schließen die Meinungsmacher, die Medienhaie des Bildes und des Tons die Reihen mit der PRI (d.h. mit Mexiko, denn Patriot zu sein bedeutet, das anzuerkennen, was niemand anerkennt, die Legitimität des Sieges der PRI). Bundessoldaten und Polizei beobachten die Haupt-Ungläubigen dieser großen Freude, die für uns die Gewißheit bedeutet, dieses Jahrhundert so zu beenden, wie wir es begonnen haben: mit einer Diktatur. Verdächtig, daß sie nicht an die neoliberalen Tugenden der PRI, von Salinas und den 24 Ehrwürdigen glauben, sind die folgenden: Cuauhtémoc Cárdenas, die PRD, die authentischen PAN-Anhänger, der Demokratische Nationalkonvent, die EZLN und die 30 Millionen Bürger, die nicht für "das Wohlergehen der Familie" - der PRI - gewählt haben.

Zweite Lesart (zusammengedrängt in den wenigen ehrlichen Medien, die es noch gibt): Das Erdgeschoß Mexikos ist sich nicht einig, wie man den vergangenen Wahlprozeß lesen soll. Die Schwächsten (in Moral und Theorie) lesen Niederlage und suchen die Schuldigen aus dem Augenwinkel, an ihrer Seite, unter Ihresgleichen. Die aus den Verhandlungen Ausgeschlossenen (die darauf gewartet haben, die Sieger zu beraten, die sich jetzt als Verlierer kritisiert sehen und ohne jede Zurückhaltung Etiketten zur Klassifizierung des Unklassifizierbaren verteilen: "bewaffnete Reformisten", "entwaffnete Revolution") lesen die Niederlage in Strategien, Taktiken, Bewertungen, Konjunkturen, Allianzen, Abkommen, Lügen. Letztlich ist es zur Niederlage gekommen, weil man ihren Ratschlägen nicht gefolgt ist. Die Wankelmütigsten lesen Enttäuschung. Die Niederlage besteht darin, sagen sie, dem mexikanischen Volk vertraut zu haben. Die Frustriertesten lesen die Nutzlosigkeit des Kampfes. Sie verzweifeln angesichts eines Volkes, das sich weigert, so sagen sie, von so brillanten Erlösern erlöst zu werden. Sie schreiben für die Nachwelt ihre Losung an eine Mauer der Stadt: "Hurenvolk". In einem Großteil des mexikanischen Erdgeschosses liest man das folgende Wahlergebnis:

Zedillo 17,336,325 48,77%

Fernández Cevallos 9,222,899 25,94%

Cárdenas 5,901,557 16,60%

Soto 975,356 2,74%

Andere und Nicht-Registrierte 1,113,364 3,13%

 

Das heißt, dieselben Ergebnisse, die die Medien und die Regierung ständig wiederholen, seit ... Mai 1994!

Nichtsdestotrotz gibt man sich an anderen Orten des Erdgeschosses nicht mit dieser leichten Lektüre, mit der Faulheit zu suchen, zufrieden. Zweifel prägt ihr Verständnis, der einfache Wunsch zu verstehen, um den Kampf zu verstehen, zu erklären, um den Kampf zu erklären, zu wissen, um zu wissen, wie man kämpft. In diesem anderen Teil liest man nicht nur den 21. August, man schließt die ganze Bibliographie seit mindestens 1988 ein. Man liest Ungerechtigkeiten in den Kampagnen, im Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen, im Zugang zu den Medien (d.h. zur öffentlichen Meinung), in der ständischen Struktur, in dem Ausradieren von Kandidaten auf den Stimmzetteln, (...) in den Urnen, die sich in ein paar Stunden füllen und eine zwei- oder dreimal so hohe Zahl an Stimmzetteln auszuspucken, wie darin sein dürften, in den Drohungen, den Gerüchten, der Ignoranz, der Repression. Wenn die Lähmung des öffentlichen "Coup d' état" verfliegt, beginnt dieser Teil Mexikos, Unregelmäßigkeiten nachzuspüren, Mini- und Mikro-Betrügereien, mittleren Betrügereien und großen Betrügereien, Makro-Betrügereien. Nach und nach beginnt sich der Zweifel zu bestätigen: Der Sieg ist nicht rechtmäßig. (...)

Aber in dieser Lesart sind die Stimmen für die PRI das Ergebnis einer langen Kette von Betrügereien jeder Größenordnung, jedes Geschmacks und jeder Farbe. Es ist keine rechtmäßige Wahl, es ist notwendig, sie zu säubern und zu wiederholen. Es gibt keine sauberen Gewinner in einem von Anfang an schmutzigen Prozeß. Innerhalb dieser Lesart erwacht ganz allmählich eine zivile Widerstandsbewegung, organisiert sich, läuft los. Zuerst versucht sie, die verstreuten Informationen zu bekommen, die Unterlagen zu vergleichen, die Leute zu befragen. Die Unregelmäßigkeiten beginnen wie die Stimmen am 21. August zu fließen: Fälschung der Ziffern in den Unterlagen, geschwindelte Zählungen, mehr Stimmzettel in der Urne als abgegebene Stimmen, Blanko-Wahlzettel, Wahlscheine ohne Unterschrift, Fehlen von Vertretern der Oppositionsparteien und Beobachtern in den Wahllokalen, Verletzung des Wahlgeheimnisses, Druck während des Wahlkampfes, die PRI zu bevorzugen, zu viele Stimmzettel in den Urnen, Wähler mit mehreren Wahlscheinen, tote Wähler, Militärpräsenz in den Wahllokalen, PRI-Anhänger, die noch am Wahltag Wahlkampf machen, Drohungen, Annullierung von Stimmzetteln, die für die Opposition abgegeben wurden, Ausradieren auf den Listen der Kandidaten, Weitergabe der Listen, um die Stimmen für die PRI zu prüfen, Stromausfälle während der Auszählung und all die Unstimmigkeiten, die noch herauskommen. All das führt zu ein- und demselben Ergebnis: Diese Wahlen sind die schmutzigsten in der Geschichte Mexikos. Das aufzuzeigen, es offenzulegen, bekanntzugeben und danach zu handeln ist ein Schritt. Es ist ein weiterer notweniger Schritt auf dem langen Weg des Kampfes für den demokratischen Übergang. (...)

Dritte Lesart (muß noch begonnen werden): Im Keller des Landes liest man nicht. Der Analphabetismus hier sucht seine Lektüre an anderen Orten, liest sich selbst, man unterhält sich nach dem Gesetz der Ahnen, mit den Bildern von früher, mit Tönen voller Gestern, man kommuniziert über unterirdische Kanäle. Der Wechsel beginnt unten, sagen und wiederholen sie. Die Skepsis verschränkt nicht die Arme. Sie feilt, geduldig, die zarte Spitze der Hoffnung. (...)

Das Mexiko des Kellers kennt eine Wahrheit, die seit Jahren in den Tiefen des Landes von Mund zu Mund geht: Es ist nicht möglich, das System der Staatspartei mit denselben Mitteln zu beenden, die es erhalten und der öffentlichen Meinung empfehlen. Solange die Organisation der Wahlen in den Händen der Staatspartei bleibt, wird jedweder Versuch zu kämpfen in Frustration und politischer Unbeweglichkeit enden oder im zynischen Sich-Fügen. Eine Regierung des Übergangs, des Wechsels ist für die Demokratie nötig. Deswegen werden die Rufe zur Bildung einer breiten oppositionellen Front, die alle diese Millionen von Mexikanern, die gegen das System der Staatspartei sind, eint, voller Hoffnung gehört. Diese Rufe sind unter anderem zu hören in verschiedenen..

 

Klammern

(Klammer: Cárdenas und die PRD: Obwohl er von allen Medien, die im Dienste der Staatspartei stehen - was nicht wenige sind - angegriffen und verleumdet wurde, bleibt der Ingenieur Cuauhtémoc Cárdenas die unangefochtene Leitfigur der demokratischen Kräfte Mexikos. Obwohl ihn derzeit sogar Mitglieder seiner eigenen Partei der Unnachgiebigkeit und des Voluntarismus bezichtigen, ist der Sohn des Generals lediglich konsequent in seinem 1988 begonnenen Kampf. Schon früher wurde er in der öffentlichen Meinung als Fürsprecher von Gewalt und radikaler Opposition, von Chaos, Unordnung und Anarchie dargestellt und kritisiert. Aber genau das Gegenteil entspricht der Wahrheit: Bei den vergangenen Wahlen bedeutete Cárdenas für Millionen Mexikaner von unten und des Kellers die Hoffnung auf einen friedlichen, gerechten und demokratischen Wechsel. Nicht nur für die Besitzlosen, auch für mittlere und gutsituierte Sektoren repräsentierte Cárdenas die Gelegenheit, einem schon erstickenden, nicht atembaren politischen Leben Sauerstoff zuzuführen, bedeutete die Möglichkeit, die brutale Hinwendung zur Moderne zu wandeln, die die salinistische Wirtschaftspolitik der Mittelklasse und den Armen des Landes aufzwingt. (...)

Trotzdem wird in seiner Partei von führenden Persönlichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen ein süßer Schwanengesang angestimmt auf eine der während der letzten Jahrzehnte wichtigsten Figuren im demokratischen Kampf. Fehler und noch mehr Fehler werden der Strategie, die dieser Mann verfolgt hat, zugeschrieben, der das Risiko einer enormen Verleumdungskampagne eingegangen ist, als er sich bemühte, was auch immer das Resultat der Gespräche sein würde, mit einer bewaffneten, vermummten, hauptsächlich indianischen und rebellischen Kraft zu verhandeln. Er wird dafür kritisiert, auf dem Foto zu erscheinen, auf dem Salinas, Camacho und Zedillo gerne abgebildet wären: den Aufständischen, die Beispiel für Würde und Widerstand sind, die Hand schüttelnd. Er wird kritisiert, daß er sich für den direkten Kontakt zum Volk entschieden hat, statt für die Verkleidung des Fernsehens. Er wird dafür kritisiert, sich verpflichtet zu haben, die Unzufriedenheit der Allerärmsten des Landes auf friedlichem und legalem Weg anzuführen, statt sich der Mittelschicht anzunähern und sich um die Mitte zu bemühen, die sich schon die PRI und die PAN streitig machen. Er wird dafür kritisiert, nicht konform zu sein. Und er wird schließlich auch dafür kritisiert, daß er Cuauhtémoc Cárdenas ist.

Jetzt wird in der PRD diskutiert: Soll die Partei einen entschiedenen Kurs zur Mitte fahren? Soll sie ihren Ruf der legalen Linken bestätigen?)

(Noch eine Klammer: der Demokratische Nationalkonvent. Im Vorfeld der Wahlen formierte sich eine neue politische Kraft. Eine ihrer Tugenden ist es, national zu sein. Der Demokratische Nationalkonvent ist jung in der mexikanischen Politik, aber er hat seinen Volksfrontcharakter und die Frische der Jugend, die seine hauptsächliche Basis ist, auf seiner Seite. Mit Repräsentanten in allen Staaten ist die CND dazu aufgefordert, die Leere einer Linken in Mexiko zu füllen. Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben. Inmitten dieser langen Reise vom Schmerz zur Hoffnung sieht sich der politische Kampf selbst der stockfleckigen Amtstracht entkleidet, die ihm der Schmerz vererbt hat, die Hoffnung zwingt ihn, neue Kampfformen zu suchen, das heißt, neue Formen Politiker zu sein, Politik zu machen. Eine neue Politik, eine neue politische Moral, eine neue politische Ethik sind nicht nur ein Wunsch, sie sind die einzige Möglichkeit, voranzukommen und das andere Ufer zu erreichen. Am 21. August endete ein langer Zyklus des Kampfes für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, ein Zyklus voller Heldentum und Aufopferung, voller Opfer und Konsequenz. Seine Ergebnisse sind in Sichtweite, der augenblickliche Nebel läßt sie nicht klar erkennen, aber es sind weder wenige, noch sind sie übernatürlich. Der Wind von unten wird sie am Ende deutlich sichtbar machen und jedem von ihnen die höchste Auszeichnung zuteil werden lassen: die Befriedigung, etwas erfüllt zu haben. Aber der Weg ist noch lang, Dummheit und Hochmut regieren weiter dieses Land. Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht. Dieser neue Wind ist jung an Leuten und an Ideen, er sucht eine bessere Erde, um sein Gewitter abzuregnen und mit dem überheblichen Wind zusammenzustoßen, der seine Zukunft feiert, während er seine letzten Schritte geht. Dieser Wind hat sich eingeschifft. Da es kein Schiff gab, hat er sich eins gebaut, das unwahrscheinlichste, das absurdeste, das wunderschönste, das beste. Wie es das Gesetz vorschreibt, lichtete das Schiff die Anker mitten in einem Unwetter, das Augen und Herzen wusch, Ketten sprengte und die mächtigste Waffe entfesselte: die Phantasie. Das Schiff hat Mannschaft und Steuermann, eine Fahne und ein weites Meer, um das zu tun, was ein Schiff zu tun hat: fahren, den langen Weg vom Schmerz zur Hoffnung fahren. Dieses Absurdum mit Segeln, das das Meer unserer Geschichte durchsegelt, wurde im Dschungel geboren und hat ein gutes Ziel. Diese zarte Verrücktheit gab sich den Namen, der sie bestimmt und ihr Projekt beschreibt: Demokratischer Nationalkonvent. Der Konvent sammelt in seinem Schoß auf der einen Seite eine wichtige Gruppe von Intellektuellen, Wissenschaftlern und führenden Persönlichkeiten aus dem Volk und auf der anderen Seite das beste der zivilen Gesellschaft aus Provinz und Hauptstadt: einen Fächer, der sich zusammensetzt aus Hausfrauen, Pächtern, Landleuten, Indígenas, Presseleuten, Arbeitern, Angestellten, Lehrern, Künstlern, Religiösen und Frauenorganisationen. Das Beste des mexikanischen Volkes ist schon unter der Fahne der CND versammelt. Das ist die Wirklichkeit, die in den schwierigsten Momenten unserer Zeitgeschichte deutlich wird: Männer und Frauen mit und ohne Partei, mit Namen und Gesichtern, die in den historischen Jahrbüchern keiner politischen Organisation auftauchen, die verachtet und für nichtig gehalten werden von den Avantgarden, die so weit vorne gehen, daß sie allein sind, eingeschlossen und schlecht umschrieben mit Vokabeln wie "Massen" und "Volk".

Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdecken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure, daß es nicht einmal ihnen selbst gelingt, ihren Mut zu sehen, sich zu sehen, sich zu erkennen, jeder hinter der Mützenmaske, hinter dem schwarzen Gesicht, das der alte Antonio als Ursprung von Licht und Wärme bezeichnet. Der Demokratische Nationalkonvent kann der Ort für diese große Oppositionskraft werden, die den Wind fordert, den das Vaterland ersehnt, den wir erwarten, die Kleinsten, die verschwinden sollen. In dem Momenent, in dem Zehntausende von Mexikanern die Nase voll haben von dem Immergleichen und ihre Waffen bewachen, hat der Demokratische Nationalkonvent das Wort. Die Möglichkeit des friedlichen Übergangs zu Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit liegt in seinen Händen. In der CND könnten alle ehrlichen und oppositionellen Kräfte gegen die Lüge, die dieses Land regiert, zusammengeführt werden. In dem Demokratischen Nationalkonvent liegt jetzt die Hoffung einer nationalen, revolutionären Bewegung, die die schmachvolle Seite umschlägt, auf der die heutige Geschichte Mexikos geschrieben steht ...

(Die letzte - glaube ich - Klammer. Und Zedillo? Er erbt von Salinas nicht nur das Wirtschaftsprojekt und die Berufung zum Marktologen, sondern auch die Ungültigkeit und den Betrug. Er wird der letzte Regierende der PRI sein, der fade out dieses tragikomischen Films, der vor 65 Jahren begann - und der, unheilbar, mit dem Jahrhundert zu Ende gehen wird. So wie der Nachmittag zu Ende geht und es zu regnen beginnt, hier in ...)

 

Chiapas: Ganz Mexiko?

Raum für kommerzielle Anzeigen: In Chiapas gibt es keinen Großgrundbesitz, nur kleine ausgedehnte Besitztümer. Wenn in der Mexiko GmbH der Präsident Verkaufsleiter ist und die Regierenden Immobilienhändler sind, ist auf der Finca "Chiapas" der Gouverneur Aufseher. Robledo Rincón, das entsprechende Produkt der Wahlalchemie, die den Sieg Zedillos ermöglicht, ist brillanter Schüler von Absalón Castellanos und Komplize von Patrocinio González Garrido. Er erhebt Anspruch auf das Amt des Gouverneurs von Chiapas. Regierungstreue Zeitungen und diensteifrige Radiosender wiederholen die Lügen, die sich erneut durchsetzen werden. Und dies sind die "Wahrheiten" der Absurdität von Chiapas:

Die noble Abstammung werde zum väterlichen Erbe. Es lebe Gott! Immer unerreichbar für die Demokratie. Er soll woanders von absurden Komplizenschaften und Allianzen erzählen, von Hierarchien, die unterdrücken und weiter existieren und von der unbestreitbaren Grenze, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte immer auf der anderen Seite des Stacheldrahtes sein läßt, der diese große Weide, die einige Verwirrte "Bundestaat" nennen, einzäunt. Das, was in anderen Ländern unerklärlich ist, ist hier vollkommen logisch.

Eins: Die Zehntausenden von Bundessoldaten, die aus anderen Teilen der Republik stammen und Gebiete in Chiapas besetzen, erhielten vier Karten, um ihre Stimme am vergangenen 21. August abzugeben: eine für den Präsidenten der Republik, eine für den Senator, eine für Abgeordnete und eine für den Gouverneur. Obwohl sie nicht aus Chiapas sind, wählten die Bundessoldaten die chiapanekischen Senatoren und Abgeordneten und den Gouverneur dieses Landes, das nicht ihres ist.

Zwei: Das Weiße der Weißen Garden dringt in die Haut. ("Gott schuf uns unterschiedlich, um uns nicht zu verwechseln.") Die grundlegenden Ideen, die diese so kultivierten Personen in ihrer friedensfördernden Arbeit bewegen, lassen sich in der frommen Hand der Gutsbesitzer zusammenfassen, die - Stahl und Blei bricht - (endlich!) die kulturelle Barriere brechen, die zwischen Ladinos und Indígenas besteht. Der Vorsitzende der Viehzüchter, Constantino Kanter, erklärt, man müsse das Wahlergebnis der Gouverneurswahlen respektieren, d.h. den "Sieg" Robledo Rincóns (der Monate zuvor Constantino Kanter angeboten hatte, mit ihm ein Abkommen bezüglich des bundesstaatlichen PRI-Mandats einzugehen). Die Viehzüchter erkären, daß sie es "satt" haben, auf die Lösung ihrer Probleme zu warten und drohen damit, selbst Maßnahmen zu ergreifen. Eine davon ist, Weiße Garden zu bilden, zur Verteidigung - des "Sieges" Robledo Rincóns. Der Hilfsfonds zur Entschädigung von Witwen und Waisen in Konfliktgebieten (FAPIAC) hat jedem der 817 Herbeigebrachten, die Constantino Kanter als ständige Wachposten in Tuxtla Gutierrez unterhält, 500 Neue Pesos bezahlt. 408.500 Neue Pesos, das sind 408 Millionen Alte Pesos staatlicher Finanzierung für den Unterhalt der Weißen Garden der Viehzüchter. Ein Viehzüchter aus Chiapas erklärt ohne jede Scham, daß der Kampf der Indígenas gegen das Gesetz Gottes verstoße. "Gott machte einige von uns reich und andere arm, das war sein Wille und den gilt es zu befolgen."

Wenn sie hier verkatert erwachen, fragen die großen Herren nicht: "Was für ein Tag ist heute?", sondern: "In welchem Jahrhundert frühstücken wir?" Irgendeiner dieser Naiven, die es im Labyrinth der Zentralmacht im Überfluß gibt, dachte, daß ein so vernünftiges "Friedensabkommen" haltbar sei, ohne diesen Teil des Vaterlandes dem sanften Zerfallszustand der Kolonie zu entziehen.

Es gibt keinen Zweifel, ganz Chiapas ist ...

 

Mexiko:

Zwischen Schmerz und Hoffnung

Kapitel 3, das von der Zärtlichkeit spricht, die dieses Schiff bewegt, von der Hoffnung, die man, so heißt es, am Horizont erkennen kann, von Gedichten, die aufmerksam machen und von anderen wunderbaren Dingen, die schon geschehen und zeigen, daß auf hoher See der Tod bloß ein kurzes Untertauchen ist. ...

 

III.

Es sprechen das Vaterland und seine Zukunft

 

Aber nicht alles ist vom traurigen Grau meiner Schmerzen.

 

Es gibt zumindest einige Gründe

sich zu freuen und zu hoffen

jeden Morgen, an jedem Abend

bei jedem Schritt

unter den hohen Segeln meines Ceibabaumes.

 

Meine Soldaten wiegen sich

in meinem Traum

aus Staub und Nelken

mit ihren Schritten gehe ich erneut

neu schaffen die Aufständischen mein Haus

meine Nacht deckt sie zu und schützt sie

sie schaffen meinen Morgen.

 

Rot wird der Morgen sein und rein.

 

Hier bin ich, sucht gut nach mir.

 

Mit seinen Händen verwandelt mich der Arbeiter,

der Landmann sät meine Früchte

und meine Soldaten sterben mir mit dem Tod der Großen.

Mit ihren weiten Herzen

werden sie das Brot des Mondes machen,

waschen meine Kleider und meine Klagen.

Und über dieses Meer, das so sehr schmerzt,

fahren Seeleute in meine Häfen.

 

Bald werden wir uns sehen.

 

Hier sind die Zutaten:

Salz von Schweiß

Salz des Meeres

Salz von Tränen.

 

Der Bäcker schürt den Ofen der Geschichte

unter den hohen Segeln meiner Ceibas.

 

Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit begann weder am 1. Januar noch wurde er am 21. August beendet. Die Ergebnisse des Wahlkampfes spiegeln die wichtigste Wahrheit nicht wider: Das "Es reicht!", das den Schritt von Männern und Frauen im ganzen Land bewegte. Der zivile und friedliche Kampf für den demokratischen Übergang beschränkt sich nicht auf die Wahlen, er geht weit darüber hinaus. Die zentralen Forderungen, die den Demokratischen Nationalkonvent begründeten und seine Segelroute bestimmen, sind weiter gültig. Die CND repräsentiert weiterhin ein mutiges, ziviles und friedliches Bemühen Tausender Männer und Frauen um den Übergang zur Demokratie. Trotzdem produzieren die erdrückenden, wiederholten Schläge der Medien Mutlosigkeit und Zersplitterung. Auf dem Schiff...

...gibt es an Deck einen Aufruhr von Männern und Frauen. "Es geht nicht!", schreien sie. Die Verzweifeltesten verfluchen den Kapitän und die Seeleute und stürzen sich über die Reling ins Meer der Mutlosigkeit und der Verzweiflung. Andere streiten miteinander, suchen nach einem Schuldigen für die Widrigkeiten dieser Seefahrt zuschieben kann, für ihre Seekrankheit, den Kater eines voreiligen Besäufnisses auf einen Sieg. Sie sehen da schon einen Schiffbruch, wo gerade mal ein Schaukeln der mit dem Wind von oben befreundeten Wellen war, der herrscht und befiehlt - noch. Es gibt Passagiere an Bord, die eine baldige Ankunft im Hafen, das Ende der Reise und die Erfüllung der Hoffnungen ersehnt hatten. Jetzt steigen sie aus, sie verlassen das Schiff und die Lust zu kämpfen. Aber das Schiff fährt weiter, setzt seine lange Reise vom Schmerz zur Hoffnung fort.

Unten, im Bug dieses großen Schiffes, rudern die besten Ruderer weiter. Durch das Tuch, das ihre Gesichter verhüllt, kann man ihr Lächeln erkennen, sie wissen, daß ihr Schmerz jetzt ein Ziel hat, das andere teilen. Sie haben von der Mutlosigkeit, die auf Deck herrscht, nichts vernommen. Sie wissen, daß die Überfahrt gerade erst begonnen hat, daß kein Schiff, das sich ernst nimmt, gleich nach dem Lichten der Anker einen guten Hafen erreicht. Es sind Seeleute vieler Meere, ihre Haut und ihr Herz wurden in den schrecklichsten Unwettern gegerbt. Sie wissen, daß nach der Nacht der Morgen kommt. Auch weiterhin ist der Motor dieses Schiffes indianisch. Der Kampf geht weiter. Wir werden weitersegeln. Und werden ankommen ...

Unter den Ruderern ertönt murmelnd ein Ton, der kaum auszumachen ist:

"Man sieht schon den Horizont,

zapatistischer Kämpfer... "

Die Fahne liegt weiter in den Händen des Demokratischen Nationalkonvents. Die EZLN hat ihre Unterstützung für die CND nicht an ein Wahlergebnis zu Gunsten einer Oppostitionspartei geknüpft. Die EZLN hat nicht auf eine Wahlkonjunktur gesetzt. Die EZLN setzte auf das Volk, an das wir glauben. Für dieses Volk leben wir, für dieses Volk kämpfen wir, für dieses Volk sterben wir. Die EZLN kämpft weiter, hofft weiter... geht... segelt... mit dem Demokratischen Nationalkonvent.

Die lange Kielspur aus Schaum und Salz, die das mächtige Schiff hinterläßt, entfernt sich. "He, Wachen!" "Zeigt das Ziel!", ertönt erneut eine zärtliche und harte Stimme. "Hoffnung voraus!", antwortet sofort rauh die Wache. Sie schreit weiter: "Also dann! Weiter ohne Pause. Verdoppelt die gesetzten Segel! Alle an die Ruder! Sterbe derjenige, der versagt! Wunsch und Wille sollen uns leiten! Überlaßt das Steuer dem Wind! So sei es! Los!."

Unser kleines Heer von Verrückten der Hoffnung grüßt in meinen Zeilen die, die mit uns den Wahnsinn teilen, die das "Ich" in die Ecke stellen und die Fahne des "Wir" hochhalten. Wir sind, obwohl so klein, groß, weil wir wissen, daß es euch gibt. Seemannsgarn, werden einige sagen. Das ist nicht wichtig, wir fahren weiter ... immer.

Aus der Truhe der Erinnerungen, der Schatzkiste des Subpiraten, fällt wie unbeabsichtigt ein altes Blatt: Im Regen und im Schlamm verwischen die Buchstaben, verschwinden und kehren zur Erde zurück:

 

Gedicht in zwei Zeiten und ein subversives Ende

 

I. Zeit

 

Ich bin durch

das

Lächeln

eines

durchschauten

Wortes

herabgeglitten.

 

Das ist meine Herkunft...

 

Aber

ich

erinnere

nicht,

ob ich

ausgestoßen

wurde

oder

meine Sachen nahm

und

verschwand,

denkend...

 

II. Zeit

 

Es waren

Worte,

die

uns

schufen

 

Sie

formten

uns

und entfalteten

ihre

Netze,

um

uns zu kontrollieren.

 

Subversives Ende

 

Aber

ich

weiß,

daß

einige

Menschen

sich

in Höhlen

versammeln

und

SCHWEIGEN...

 

Wir Zapatistas werden nie mehr allein sein...

 

...in diesem Land schmerzlicher Geschichte, das Mexiko genannt wird, vom Meer umarmt und, bald, von günstigen Winden.

September 1994, der Monat, in dem die Geschichte dieses Land daran erinnert, daß Chiapas ganz Mexiko ist.

P.S. Toñita kommt, um für jemanden eine Geschichte zu erbitten.

Toñita hat sich entschieden, einen Olote zu adoptieren (einen entkörnten Maiskolben) und das unglückselige Kaninchen wegzuwerfen, das im Schlamm nicht leben kann. Toñita kommt und fragt nach einer Geschichte. Wie ich sehe, kümmert sie es überhaupt nicht, daß ich gerade schreibe, und sie setzt sich, mit ihrem Olote, Entschuldigung, ihrer Puppe im Arm. Ich beginne über eine Ausflucht nachzudenken, aber Toñita macht keine Anstalten, etwas anderes zu akzeptieren als eine Geschichte. Ich seufze und zünde die Pfeife an, um Zeit zu gewinnen. Zwischen Rauchwolken beginne ich zu erzählen:

Nacht, Regen, Kälte. Dezember 1984. Der alte Antonio betrachtet das Licht. Auf der Feuerstelle wartet das Feuer umsonst auf das Fleisch der "weißschwänzigen" Hirschkuh, die wir ohne Erfolg gejagt hatten. Im Feuer tanzen und sprechen die Farben. Der alte Antonio schaut ins Feuer und lauscht. Vom Zirpen der Grille und dem Knistern des Feuers kaum zu unterscheiden, weben die Worte des alten Antonio eine sehr alte Geschichte aus der Zeit, unsere Ältesten und die Alten von heute noch nicht geboren waren, und das Feuer still war, wie in dieser Nacht, aber zehn, hundert, tausend, eine Million Nächte vor dieser, ohne Hirschkuh, kalt und regnerisch, ohne irgend jemanden, der uns gestört hätte:

Am Anfang war das Wasser der Nacht. Alles war Wasser, Nacht war alles. Wie Verrückte gingen die Götter und die Menschen, stießen sich und stürzten wie alte Trinker. Es gab kein Licht, um den Weg zu sehen, es gab kein Land, um die Müdigkeit und die Liebe zu betten. Es gab kein Land und kein Licht, nicht gut war die Welt.

Und so stießen die Götter in der Nacht, im Wasser gegeneinander, wurden wütend und begannen zu fluchen. Gewaltig war der Zorn der Götter, denn gewaltig waren die Götter. Und die Männer und Frauen, reines Ohr, reine Tzots', Fledermaus-Männer und -Frauen, versteckten sich vor dem Lärm des gewaltigen Zorns der Götter. So blieben die Götter allein, und als ihr Zorn verrauchte, bemerkten sie, daß sie allein waren, und groß war ihr Schmerz darüber, allein zu sein, und so traurig, wie sie waren, begannen die Götter zu weinen. Enorm waren ihre Tränen, denn ohne die Männer und Frauen waren die Götter allein. Und Träne um Träne, Schluchzer um Schluchzer floß mehr Wasser ins Wasser, es gab kein Entrinnen, denn die Nacht und das Wasser dauerten an und füllten sich mit immer mehr Wasser und Nacht aus dem geweinten Schmerz der Götter. Und den Göttern wurde kalt, denn wenn man allein ist, spürt man die Kälte und mehr noch, wenn alles Wasser der Nacht ist. Und so dachten die Götter darüber nach, wie sie zu einer Übereinkunft kommen könnten, damit sie nicht mehr allein wären, damit die Fledermaus-Männer und -Frauen aus ihren Höhlen kommen würden, damit das Licht käme, den Weg zu erleuchten, und die Erde, um die Liebe und die Müdigkeit zu betten. So kamen die Götter überein, gemeinsam zu träumen, und so kamen sie in ihren Herzen überein, das Licht und die Erde zu träumen. Sie begannen, das Feuer zu träumen, und ergriffen die Stille, die vorbeizog, und träumten ein Feuer, und inmitten der Stille des Wassers der Nacht, das alles füllte, im Kreis der Götter, erschien eine Wunde, ein kleiner Kratzer über dem Wasser der Nacht, ein kleines Wort, das sich groß tanzte und klein machte und lang streckte und sich dick und dünn machte und sich in die Mitte der Götter tanzte, derer sieben waren. Jetzt sahen sie, daß sie sieben waren, sie sahen sich, und sie machten sich daran, sich zu zählen und kamen bis sieben, denn sieben waren die größten Götter, die ersten. Dann begannen die Götter schnell, diesem Wörtchen, das da in ihrer Mitte tanzte, schweigend tanzte, ein Haus zu bauen. Und sie begannen ihm weitere Wörtchen hinzuzureimen, die in ihren Träumen erschienen, und "Feuer" nannten sie diese Wörter, die tanzten und jetzt schon gemeinsam sprachen, und sie brachten die Erde herbei und das Licht um das Feuer, und die Fledermaus-Männer und -Frauen kamen aus ihren Höhlen und wunderten sich, sahen sich, berührten sich, liebten sich, und es gab Licht und Erde. Man konnte den Weg sehen, und die Liebe und die Müdigkeit betteten sich... im Licht... auf der Erde. Die Götter sahen sie nicht, denn die hatten sich alle zur Versammlung zurückgezogen, waren in ihrer Hütte und kamen nicht heraus, und niemand durfte hinein, denn die Götter waren dabei, sich zu einigen. Und in der Hütte der Götter einigten sie sich, daß das Feuer nicht ausgehen solle, denn das Wasser der Nacht sei viel und wenig das Licht und die Erde.

Man einigte sich, das Feuer nach oben zu bringen, zum Himmel, damit das Wasser der Nacht nicht herankäme. Und sie ließen den Fledermaus-Männern und -Frauen sagen, daß sie sich in ihren Höhlen aufhalten sollten, denn sie würden das Feuer nach oben bringen, zum Himmel, sagten sie. Die Götter saßen im Kreis um das Feuer herum und diskutierten, wer das Feuer zum Himmel bringen und unten sterben müsse, um oben zu leben, und die Götter konnten sich nicht einigen, denn sie wollten unten nicht sterben. So sagten die Götter, es solle der weißeste Gott gehen, denn er sei der schönste, und so würde das Feuer dort oben wunderschön sein, aber der weiße Gott war feige, er wollte nicht sterben, um zu leben, und so sagte der schwärzeste und häßlichste der Götter namens Ik', daß er das Feuer nach oben bringe. Er nahm das Feuer und verbrannte sich mit dem Feuer und wurde schwarz, dann grau und weiß und gelb und orange, später rot, wurde dann Feuer und erhob sich knisternd bis zum Himmel. Dort blieb er, rund, manchmal gelb, manchmal orange, rot, grau, weiß und schwarz. "Sonne" nannten ihn die Götter, und es gab mehr Licht, um mehr Wege zu sehen, und mehr Erde kam. Das Wasser der Nacht rückte zur Seite, und der Berg kam. Der weiße Gott blieb voller Reue, er weinte viel, und da er so viel weinte, sah er seinen Weg nicht, stieß sich und fiel ins Feuer und stieg auch zum Himmel, aber sein Licht war trauriger, weil er so viel über seine Feigheit weinte, und ein trauriger Feuerball, blaß wie die Farbe des weißen Gottes, blieb an der Seite der Sonne, und die Götter nannten diesen weißen Ball "Mond". Aber Sonne und Mond waren einfach nur da, sie bewegten sich nicht. Die Götter sahen sich traurig an, ihre Scham war groß, und so warfen sie sich alle ins Feuer. Da begann die Sonne zu gehen, und der Mond folgte ihr, um sie um Verzeihung zu bitten, sagt man. Und es gab Tag und Nacht und die Fledermaus-Männer und -Frauen kamen aus ihren Höhlen und bauten ihre Hütte nahe beim Feuer und waren immer mit den Göttern, Tag und Nacht, am Tag mit der Sonne und mit dem Mond bei Nacht. Was dann kam, war nicht mehr der Wille der Götter, denn sie waren gestorben - um zu leben...

Der alte Antonio zieht mit seinen Händen einen Zweig aus der Feuerstelle. Er legt ihn auf den Boden. "Sieh dir das an", sagt er zu mir. Von rot nimmt der Zweig den umgekehrten Weg des schwarzen Herren der Geschichte: orange, gelb, weiß, grau, schwarz. Noch warm, heben ihn die schwieligen Hände des alten Antonio auf, und er überreicht ihn mir. Ich versuche so zu tun, als verbrenne er mich nicht, aber ich lasse ihn fast augenblicklich fallen. Der alte Antonio lächelt und hustet, hebt ihn erneut vom Boden auf und taucht ihn in einem Krug voll Regenwasser, voll Wasser der Nacht. Schon kalt, gibt er ihn mir erneut.

"Nimm, und denk daran, daß das schwarzverdeckte Gesicht das Licht und die Wärme versteckt, die dieser Welt fehlen", sagt er und sieht mich weiter an.

"Gehen wir", fügt er hinzu, während er aufsteht, und sagt: "in dieser Nacht wird der âWeißschwanz' nicht kommen, am Futterplatz sind keine Hufspuren."

Ich mache mich daran, das Feuer zu löschen, der alte Antonio sagt mir, seinen kleinen Rucksack schon über der Schulter und die Flinte in der Hand: "Laß nur. Bei dieser Kälte ist sogar die Nacht für ein bißchen Wärme dankbar..."

Wir gingen beide schweigend. Es regnete und wirklich, es war kalt...

Eine andere Nacht, ein anderer Regen, eine andere Kälte. Der 17. November 1993. Der zehnte Jahrestag der Gründung der EZLN. Der Generalstab der Zapatistas schart sich ums Feuer. Die allgemeinen Pläne sind fertig und taktische Details ausgearbeitet. Die Truppe hat sich schlafen gelegt, nur die Offiziere mit Majorsgrad sind wachgeblieben. Auch der alte Antonio ist da, er ist der einzige, der alle zapatistischen Posten passieren und überall hindurch kann, ohne daß irgend jemand es wagen würde, ihn aufzuhalten. Die offizielle Sitzung ist zu Ende, jetzt werden zwischen Scherzen und Anekdoten Pläne und Träume entworfen. Das Thema der verdeckten Gesichter kommt auf, ob Halstücher, ob Augenmasken, ob Karnevalsmasken. Sie sehen mich an.

"Mützenmasken", sage ich ihnen.

"Und wie machen wir Frauen das mit den langen Haaren?" fragt und protestiert Ana Maria.

"Sollen sie die Haare abschneiden", sagt Alfredo.

"Kommt überhaupt nicht in Frage. Was denkst du? Ich finde, sie sollen sogar Röcke tragen", sagt Josué.

"Soll doch deine Großmutter Röcke tragen", antwortet Ana Maria.

Moisés sieht schweigend zum Dach hinaus und unterbricht die Diskussion mit einem: "Und welche Farbe sollen die Mützenmasken haben?"

"Braun - wie die Militärmütze", sagt Rolando. Jemand anders sagt: "Grün." Der alte Antonio macht mir ein Zeichen, ich entferne mich von der Gruppe. "Hast du den Zweig von neulich nachts?" fragt er. "Ja, im Rucksack", antworte ich. "Hol ihn", sagt er und geht zur Gruppe ans Feuer. Als ich mit dem Zweig zurückkomme, sitzen alle schweigend, und der alte Antonio sieht starr ins Feuer, wie in der anderen Nacht der Hirschkuh. "Hier ist er", sage ich und gebe ihm den schwarzen Zweig in die Hand. Der alte Antonio sieht mich fest an und fragt: "Erinnerst du dich?" Ich nicke schweigend. Der alte Antonio legt den Zweig mitten ins Feuer. Erst grau, weiß, gelb, orange, rot, Feuer. Der Zweig ist schon Feuer und Licht. Der alte Antonio sieht mich an und entschwindet wieder durch den Nebel.

Wir sitzen weiter da und sehen den Zweig an, das Feuer, das Licht.

"Schwarz", sage ich.

"Was?" fragt Ana Maria.

Ich wiederhole, ohne meinen Blick vom Feuer zu wenden: "Schwarz, die Mützenmasken werden schwarz sein..."

Niemand widersetzt sich...

Eine andere Nacht, ein anderer Regen, eine andere Kälte. 30. Dezember 1993. Die letzten Truppen beginnen ihren Marsch, um ihre Positionen einzunehmen. Ein Lastwagen bleibt im Schlamm stecken, die Kämpfer schieben, um ihn herauszuholen. Der alte Antonio nähert sich mir mit einer kalten Zigarette im Mund. Ich gebe ihm Feuer und zünde die Pfeife mit dem Kopf nach unten an, eine Technik, die ich, vom Regen gezwungen, entwickelt habe. "Wann?" fragt der alte Antonio. "Morgen", antworte ich und füge hinzu: "Wenn wir rechtzeitig ankommen ..." "Es ist kalt ...", sagt er und schließt die alte Wolljacke. "Mmmmh", antworte ich. Er dreht sich noch eine Zigarette und sagt mir: "Ich brauche etwas Licht und Feuer diese Nacht." Ich lächele, während ich ihm die schwarze Mützenmaske zeige. Er nimmt sie in seine Hände, untersucht sie und gibt sie mir zurück. "Und der Zweig?" fragt er. "Ist Feuer geworden in jener Nacht - nichts ist geblieben", sage ich ihm traurig. "So ist es", sagt der alte Antonio mit zitternder Stimme. "Sterben, um zu leben", sagt er und umarmt mich. Er wischt sich mit dem Ärmel über das Gesicht und murmelt: "Es regnet viel, mir sind sogar die Augen feucht geworden." Der Lastwagen ist losgekommen, und sie rufen mich, ich drehe mich um, um mich vom alten Antonio zu verabschieden. Er war schon nicht mehr da...

Toñita steht auf, um zu gehen. "Der Kuß fehlt", sage ich. Sie nähert sich schnell, drückt mir den Olote an die Wange und rennt fort. "Und was war das?" protestiere ich. Sie antwortet lachend: "Das ist der Kuß für dich. Die Geschichte war für die Puppe, also hat sie dir den Kuß gegeben." Sie rennt davon...

 

P.P.S., das den anfänglichen Gruß wiederholt.

 

Menschen, die fähig sind, unter der Erde zu fliegen,

für die es keine Räume gibt, weder große noch kleine.

Mit starrem Blick brechen sie aus dem Flug aus,

furchtbare Gladiatoren.

Miguel Hernández

 

Hugo, der Abstammung nach Tzeltal und Mexikaner dem Recht und der Geschichte nach, stammte aus der ersten Generation der politisch Verantwortlichen der EZLN. Er gehörte zu den ersten Gründern dessen, was heute Geheimes Revolutionäres Indígena-Komitee (CCRI) heißt, und bildete eine ganze Generation unserer Chefs aus: Raúl, Juan, Ganino, Gustavo, Ramón, Simón, Fernando, Maxo und andere, die jetzt Mitglieder des CCRI sind, haben von Hugo gelernt, wie man die Kriegsvorbereitungen organisiert und leitet. Hugo, Kriegsname dieses Tzeltalfürsten in Haltung und Adel, wählte den Familiennamen "Señor Ik'" ("Herr Schwarz"), um sich bei den Funksprüchen zu melden. Nach und nach ging das "Hugo" verloren, und man kannte ihn nur noch als den "Señor IK'". Und so durchstreifte er die Wege und Bezirke und erklärte die Bedeutung der vier Zeichen, die - später - die Welt auf den Kopf stellen würden. Als Chef des Geheimen Revolutionären Indígena-Tzeltal-Komitees und Mitglied der CCRI, Generalkommandantur der EZLN, marschierte Señor Ik' an der Spitze eines Teils der Truppen, die die Bezirkshauptstadt von Ocosingo am ersten Tag des Jahres 1994 einnahmen. Als am 2. Januar die Bundestruppen den Hauptplatz angriffen, blieb Señor Ik' dort und kämpfte, um den Rückzug seiner Compañeros zu decken. In der Konfusion des Rückzugs der letzten Truppen blieb Señor Ik' auf der Liste der Verschwundenen. Später hörten wir verschiedene Versionen: daß er noch am 4. kämpfend gesehen wurde auf dem Weg nach IMSS-Coplamar, daß er schon am 3. tot gesehen wurde, mit einer feindlichen Waffe in der Hand vor einem toten Bundessoldaten, daß er lebendig und festgenommen sei, daß er geflohen sei. Wir haben nie herausgefunden, ob sein Körper in einem der geheimen Massengräber ruht, die die Bundestruppen gegraben haben, um ihre Brutalität und das Fehlen ihrer militärischen Ehre zu verstecken. Oder ob, wie man jetzt in den Bergen erzählt, der Señor Ik' nicht gestorben ist, sondern als ein Licht lebt, das ab und zu zwischen den Hügeln und in den Hohlwegen auftaucht, mit dem Hut und dem Pferd Zapatas. Wie der schwarze Gott in der Geschichte des alten Antonio, gab der Señor Ik' mit seinem Tod dieser Erde Licht und Wärme und dem Kampf, der trotz allem wiedererwacht, Leben. Am 10. April 1994, zum Takt der zapatistischen Hymne, die bei der Militärzeremonie gespielt wurde, gebar die Frau des Herrn Ik', die weiter auf ihn wartet (wie wir alle) ein Kind. Dinge dieser Erde, dieser Meere ...

 

P.P.P.S., daß sich mit einem "Vergiß mich nicht" verabschiedet. Aus dem kleinen Kassettenrecorder hört man, während die vorherige Rolle gedruckt wird, León Felipe sagen ...

 

"Alle fahren wir zur See,

wissen gut, wie man das macht.

Alle sind wir Kapitäne

Kapitäne auf dem Meer.

 

Alle sind wir Kapitäne

und der Unterschied liegt nur

in dem Schiff mit dem wir fahren

über dieses tiefe Meer

 

Seemann, Seemann

Seemann Kapitän,

ein bescheidenes Schiff fährst du

über dieses tiefe Meer.

 

Seemann, Kapitän

dich erschreckt kein Untergehn

denn der Schatz, den wir suchen,

Kapitän,

liegt nicht oben im Hafen

sondern auf dem Grund des Meeres."

 

(Übersetzung: Annette von Schönfeld)

 

 

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